Читать книгу Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel - Страница 6

ZWEITES KAPITEL

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Worin ich meinem Freund B.H. begegne, der mich darauf aufmerksam macht, daß ich unsichtbar bin.

„WIE, BIST DU NICHT TOT, B.H.?“ fragte ich meinen ältesten und besten Freund und streichelte seine Hand, glücklich, ihn wiederzusehen. Es fiel mir ein Stein vom Herzen bei dieser Begegnung nach so vielen Jahren. Ich hatte B.H. gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er war von der großen Flucht vor den Nazis nach Indien verschlagen worden, weit in den Norden, an die tibetanische Grenze, irgendwohin in die Nähe von Darjeeling, wo der Krieg jeder Verbindung zwischen uns ein Ende setzte. Wer weiß, vielleicht hätte ich doch versuchen sollen, ihm noch einmal einen Brief zu schreiben oder mich an das Rote Kreuz zu wenden, um ihm zu helfen. Obwohl ich keinen Beweis dafür hatte, war es für mich ausgemacht, daß er zugrunde gegangen sein mußte . . . B.H. lächelte, wobei sein großer Kopf mit den schwarzen Haaren und dunklen schönen Augen ein wenig zitterte, ja beinahe wackelte, wie es schon in unsrer gemeinsamen Schulzeit seine Art war, wenn es ihm gelang, eine überlegene Bemerkung zu machen.

„Ich bin nicht tot“, zwinkerte B.H. „Ich lebe, wie du siehst, aus vollen Lungen. Hingegen bist du tot, F.W., und länger, viel länger, als du dich überhaupt erinnern kannst . . .“

„Wieso bin ich tot, B.H.?“ fragte ich, von seiner Offenheit verletzt, die mir taktlos erschien, obwohl ich mir doch vorhin denselben Verstoß hatte zuschulden kommen lassen.

B.H. sah mich lange und ernst an, ehe er sich zur Frage entschloß:

„Kannst du mich sehen, F.W.?“

„Natürlich kann ich dich sehen. Wie machst du es, daß du mit Fünfzig noch immer wie mit Fünfundzwanzig ausschaust . . .? Nein, auch das ist noch übertrieben. Du siehst genau so aus wie am Tag unserer Abiturientenprüfung . . .“

„Ich bin nach der augenblicklich gültigen Lebenszeitrechnung Hundertundsieben“, nickte er sachlich, „aber wie steht es mit dir, F.W.? Kannst du zum Beispiel dich selbst sehen?“

Ich sah an mir herab. Ich konnte mich nicht sehen. Ein kurzer galvanischer Schreck durchzuckte mich. Ich war unsichtbar. Unsichtbar für andere, das ist wohl beklemmend genug. Aber unsichtbar für mich selbst? Ich versuchte, meine aufgescheuchten Gedanken und Empfindungen zusammenzuraffen. Zuerst erkannte ich mit Verwunderung, daß ich mich wohlfühlte, sogar ausnehmend wohl, viel wohler jedenfalls als vorhin (wann vorhin?), ehe ich — vermutlich aus einem von diesem Orte schon sehr entfernten Tor tretend — auf eine unbekannte Straße geraten war, um plötzlich meinem alten Freunde B.H. zu begegnen. Ich bin nicht sicher übrigens, ob ich von einer Straße zu reden das Recht habe. Es war gebahnter Boden, zweifellos, der sich gleichmäßig nach allen Seiten hin zum Horizont erstreckte, ohne rechts und links von Böschungen oder Straßengräben begrenzt zu sein. Unter meinen Füßen wuchs ein kurzer trockener Rasen, der den Schritt erstaunlich förderte und das Gehen zu einem neuartigen Vergnügen machte. Dieser Rasen bestand aus wohlgepflegtem Gras. Das Gras aber hatte die leiseste grünliche Tönung, die letzte Spur von Chlorophyll verloren. Es wuchs zum Teil weiß, zum Teil eisengrau auf dem glatten Erdboden, wie das Haar auf dem Schädel eines zwar noch tüchtigen, aber schon ergreisenden Mannes. Ich verwende die Phrase „unter meinen Füßen“ nicht aus einem stilistischen Versehen, wie mancher Leser wohl schon angenommen hat. Obwohl ich unsichtbar war für andere und sogar für mich selbst, so besaß ich doch Hände und Füße und den ganzen Leib, an den ich so sehr gewöhnt war. Gewiß, ich war unsichtbar, aber durchaus nicht körperlos. Zwar, wenn ich mit meinen braven alten Händen mich abtastete, griff ich ins Nichts. In diesem Nichts aber fühlte ich mein Herz schlagen, regelmäßiger und ruhiger als sonst, meine Lungen dehnten sich aus und zogen sich zusammen, ich schaute, hörte, roch und schmeckte. Mein jugendfrisches Wohlbefinden schien damit zusammenzuhängen, daß all diese Funktionen der Sinne sich nicht, wie sonst, durch eine schwere und stellenweise schon verbrauchte Materie durcharbeiten mußten. Um einen banalen und nur halb zutreffenden Vergleich zu verwenden, ich fühlte mich leicht und beweglich, wie etwa ein dicker Mann sich nach einer streng durchgeführten Entfettungskur zu fühlen wünscht. Hatte B.H. recht, war’s wirklich die strenge, die trefflich geglückte Entfettungskur des Todes, die ich so prächtig überstanden hatte? Ich bezweifelte diese Möglichkeit keineswegs. Dennoch aber schämte ich mich in diesem Augenblick, ich weiß nicht warum. Ich schämte mich nicht nur um meiner selbst willen, sondern auch um B.H.s willen. Es war eine Scham, ähnlich derjenigen, nackt zu sein, und zwar über alle Vorstellungen und Begriffe nackt. Um mir selbst, und vielleicht auch B.H. aus der Verlegenheit herauszuhelfen, brummte ich:

„Was man manchmal für Unsinn zusammenträumt . . .“

B.H. schüttelte ziemlich ironisch den Kopf:

„Man hat recht kindische Theorien damals verzapft über solche Dinge“, meinte er.

„Sprichst du etwa von Freuds Traumdeutung, B.H.?“

Er sah mich angestrengt an, als verstünde er mich nicht:

„Wer? Freud? Leid? Wie soll ich mich an alle diese Namen erinnern aus den Anfängen der Menschheit?“ sagte er etwas geringschätzig.

„Anfänge der Menschheit?“ fragte ich und fühlte genau, wie eine gekränkte Leidenschaftlichkeit meine Stimme färbte, die tönend aus meinem unsichtbaren Munde und nicht minder unsichtbaren Innern drang. „Anfänge der Menschheit? Waren es etwa die Anfänge der Menschheit, lieber B.H., als wir gemeinsam Shakespeare und Goethe lasen und über Dostojewski und Nietzsche, über Pascal und Kierkegaard diskutierten auf den Parkwegen des Belvederes? Erinnerst du dich nicht, es ist ja so kurz her, es war gestern, oder vielleicht heute früh, denn du siehst ja aus wie ein Abiturient. Und dann rückten wir ein in die Armee des Ersten Weltkriegs, du und ich, und später schrieben wir einander Briefe und begegneten uns immer wieder, denn die geistige Freundschaft der ersten Jugend ist ein starkes Band für männliche Herzen. Und du wurdest B.H. und ich wurde F.W., und dann kamen die Nazis, und ich sah dich noch einmal an der Küste unsres geliebten Mittelmeers. Du warst auf dem Wege nach Indien. Welch ein schwermütiger Abschied war das für mich! Ich ahnte, wir würden uns nie mehr wiedersehn, denn der Zweite Weltkrieg wartete bereits am Parktor des schönsten südfranzösischen Sommers. Wir beide haben Schweres erlebt, du in einem Camp an der Grenze Tibets und ich auf meiner Flucht aus Europa. Du bist, so fürchtete ich, in Indien umgekommen. Vielleicht aber haben dich die tibetanischen Mönche gelehrt, wie man ewig weiterlebt trotz allem! Ich hingegen lebe augenblicklich in California. Es mag jedoch sein, daß ich in California nur begraben bin, denn du hast mich ja von meiner schrecklichen Unsichtbarkeit überzeugt . . . Ach, wie blutig ernst und nah ist das alles! Ich kann deine Ironie von den ,Anfängen der Menschheit’ nicht verstehn . . .“

„Die Situation von uns beiden, lieber F.W.“, unterbrach er mich, „ist grundverschieden. Du bewahrst all diese Erinnerungen von den Anfängen der Menschheit so lebendig in dir auf, weil du inzwischen nicht wieder drangekommen bist . . .“

„Drangekommen?“ schnappte ich ein. „Was soll dieser infantile Ausdruck? Du hast dir ja den Jargon unsrer Schülerjahre recht gut gemerkt. Drankommen? Meinst du damit, vom Lehrer zur Prüfung aufgerufen werden . . .?“

„Sehr richtig, F.W.“, nickte er mit einem gewissen Stolz: „Und ich bin gerade dran, das will sagen: ich lebe . . .“

Ich beschloß zu schweigen, obwohl es mir recht schwer fiel. Kraft meiner Unsichtbarkeit nämlich, oder besser, meiner durchsichtigen, unantastbaren und schwerelosen Körperlichkeit, kreisten meine Gedanken in heftigen Stromschnellen, und ich verstand und erkannte so manches in neuartig durchdringender Weise. Mein Geist funktionierte im Sinne einer höchst polyphonen Orchesterpartitur. Eine Reihe von Erkenntnissen entwickelte sich wie ein musikalisches Stimmengefüge nebeneinander, untereinander, und bildete doch eine sinnvolle Einheit, deren ich völlig inneward. Also doch, dachte es in mir, B.H.s Aufenthalt in Tibet hat ihn entscheidend beeinflußt. Er hat sich zweifellos der orthodoxesten Form der Reinkarnationslehre angeschlossen, und mehr als das, der Reinkarnation selbst. Das meint er unter „Drankommen“. Muß ich mich deshalb von B.H. abwenden und ihn Knall und Fall verlassen? Widerspricht die Doktrin und gar die Praxis der Wiedergeburt meinem eigenen Unsterblichkeitsglauben? Nein, entschied ich, ohne zu zögern. Fürs erste ist mein Unsterblichkeitsglaube ja kein Glaube mehr, sondern ein handfest bewiesenes Phänomen. Den schlagenden Beweis bilde ich selbst in meiner gegenwärtig unsichtbaren und doch lebendigen Verfassung . . . Ich bin, wie mir mein bester Freund ohne höfliche Umschweife auf den Kopf zugesagt hat, längst abgeschieden und wahrscheinlich auf dem Forest Lawn begraben, sofern derselbe nicht schon seit Urväterzeiten aufgelassen und der Ausbeutung von Erdöl übergeben worden ist. Und trotzdem bin ich ganz passabel beisammen und denke und fühle sogar mit erhöhter Lebhaftigheit. Descartes’ „Cogito, ergo sum“ gilt, Gott sei es gedankt, auch für mich nach dem Tode. Welch ein moralischer Triumph über das „Sum, ergo cogito“ meiner materialistischen Widersacher, dieses stumpfen Intellektuellenpacks. Was aber die Reinkarnation anbetrifft, war es nicht erst gestern nachmittag, daß mich eine jähe Erleuchtung überfiel? Der Ort freilich, wo der Blitz dieser geistigen Inspiration in mich einschlug, galt mir nicht als besonders philosophisch: ein Drugstore am Wilshire Boulevard. Ich vergaß, meinen Kaffee auszutrinken. Wie war das nur? Wie ist das nur? . . . Jedes Ich ist unsterblich, aber nicht jedes Ich ist ein ganzes Ich. Wie in der materiellen Welt, zum Beispiel in der Welt der Rosen, sich ein und dieselbe Blüte von Zeit zu Zeit auf das genaueste wiederholen muß, so auch in der Welt der Menschen, körperlich, seelisch, geistig. Der Formenschatz der Natur ist beschränkt, und nicht anders der Formenschatz der Menschheit. Es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Seelen, von ausgesprochenen Egos, die viel kleiner ist als die Anzahl der Namen, die diese Egos im Laufe ihrer Verwandlungen tragen. So ein Ich erscheint wie ein mehr oder weniger erfolgreiches Buch in verschiedenen Auflagen und Ausgaben, doch jedesmal unter verändertem Titel. Wenn Gott am Jüngsten Tage, wie es geschrieben steht, die Seelen zählen wird, so wird er eben nicht dreihundertsiebzig Quinquillionen, sondern nur siebenhunderttausend bis siebzig Milliarden Seelen zählen, je weniger desto besser und würdiger. Jedes Ich wird am Ende der Zeit ein dicker Strauß von Verkörperungen sein, eine Art staubumhüllter Wanderstamm, der durch die Wüste der Äonen zog . . . Immerhin ist es verwunderlich, daß der B.H. der Gegenwart dem B.H. aus den Anfängen der Menschheit so bis aufs Haar ähnlich sieht. Ich fühlte einen leichten Schwindel mein Bewußtsein bedrängen und unterbrach daher den Strom dieser Gedanken. Lange ließ ich meinen Blick auf B.H. ruhen, ohne zu bedenken, daß dieser Blick ihm nichts sagen konnte. Nun, dachte ich, dunste nur, mein Lieber! Ich rede kein Wort mehr. Das alles macht mich müde.

B.H. trat näher auf mich zu. In seinem Lächeln war kein Vorwurf:

„Wir sind eingeladen, F.W.“, sagte er und machte einen Versuch, mich auf die Schulter zu klopfen, die doch für ihn nicht vorhanden sein konnte.

„Eingeladen?“ fragte ich ängstlich. Doch dann hörte ich meinen eigenen, abgespannten Seufzer:

„Tu, was du willst . . . Ich muß ja mit allem einverstanden sein.“

Diese meine Worte klangen ziemlich jämmerlich. Sie verschafften mir aber die Erleichterung, die ein Tourist empfindet, wenn er die Einteilung seines Tages in die Hände eines bewährten Reisemarschalls legt.

Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman

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