Читать книгу Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel - Страница 8
VIERTES KAPITEL
ОглавлениеWorin ich die geforderte Belehrung empfange, das Haus der Hochzeiter betrete und dem Kreis erscheine, der mich zitiert hat.
„ES WAR ein ganz gewöhnlicher Tag“, begann B.H., „ein Wochentag . . .“
Er unterbrach sich und blickte mit gerunzelter Stirn auf den wundervoll gepflegten eisengrauen Rasen hinaus, der ganz unverständlichermaßen die glatte Erde bedeckte, von Horizont zu Horizont. Ich spürte, daß es meinem Freunde eine ganz beträchtliche Selbstüberwindung kostete, über „das Ereignis“ zu sprechen. Um ihm die Sache zu erleichtern, schaltete ich immer wieder Fragen ein. Zum Beispiel folgende:
„Und du warst an diesem ganz gewöhnlichen Tage wieder einmal am Leben, B.H., wie?“
„So genau kann ich das nicht immer sagen, F.W.“, erwiderte er streng. „Merk dir’s! Manchmal nämlich vermischt sich in meinem Bewußtsein die eigene persönliche Erfahrung mit dem allgemeinen historischen Wissen. Das Ereignis aber bleibt meine eigene Erfahrung, obwohl es der größte allgemeine Eindruck ist, welchen die Menschheit jemals hatte. Du weißt ja selbst, daß große Eindrücke und schwere Wunden erst nach und nach fühlbar werden, und daß die Erinnerung den Augenblick der Verwundung oft auszustoßen trachtet. Es war jedenfalls ein Tag wie jeder andere Tag . . .“
„Verzeih, B.H.“, unterbrach ich ihn neuerdings, „könntest du vielleicht das Datum dieses alltäglichen Wochentags näher bestimmen?“
„Wenn dir mit einem Datum gedient ist“, zuckte er die Achseln, „bitte schön. Es war ein überaus bewölkter Freitag. Und sonst, was jedes Kind seit undenklichen Zeiten weiß, war’s ein dreizehnter November . . .“
„Daß es heutzutage noch einen bewölkten Alltag oder gar einen echten grauen Novemberdreizehnten geben könnte, das scheint mir sehr zweifelhaft“, sagte ich, indem ich die seltsam trockene Luft einschnupperte und zum nackten, unbeschützten Blau des Himmels aufblickte.
„Das hast du ganz richtig erkannt, F.W.“, lobte mich mein Freund. „Wolken sind eine große Köstlichkeit, die wir astromentalen Menschen hoch verehren . . .“
„Aber zu einem echten dreizehnten November gehört eine Großstadt“, schloß ich, nicht ohne Starrsinn.
„Mein Gott, du stehst doch auf dem Boden einer Großstadt“, erklärte B.H., leise enerviert.
„Ich nehme an“, mokierte ich mich, „daß deine Großstadt an jenem dreizehnten November sich anders präsentiert hat.“
„Das ist doch selbstverständlich, F.W.“, wies der Wiedergeborene meinen leichten Spott zurück. „Natürlich hat sie anders ausgesehen und hat hundert Jahre vorher und hundert Jahre nachher wieder ganz anders ausgesehen. Der Weg ist lang, mein Lieber, den ich komme. Damals, am dreizehnten November, gab es entweder noch oder schon wieder Häuser über der Erde. Das Mentelobol freilich war noch nicht bekannt. Wir bewegten nicht das Ziel auf uns zu, sondern uns auf das Ziel zu, mit enormer und höchst ungesunder Geschwindigkeit. Du hättest deine Freude gehabt an jener Großstadt. Man trat durch die labyrinthischsten Passagen auf die Straße hinaus. Es gab noch den fröhlichsten Unterschied zwischen Trottoir und Fahrbahn. Es gab dichten Verkehr. Oben flogen die Gyroplane. Ihre Geschwindigkeit machte sie so unsichtbar, wie du es zum Beispiel jetzt bist, F.W. Unten stauten sich Frauen und Männer und Kinder vor den mächtigen Schaufenstern, hinter welchen Tag und Nacht die glänzendsten Revuen und Operetten von großen Künstlern aufgeführt wurden. Sogar an den lieben Milchmann erinnere ich mich noch, dessen Wägelchen mit den Schlittenschellen von einem Hund gezogen wurde. Jene Zeit war halt ziemlich zurückgeblieben.“
„Und es regnete“, versuchte ich B.H. aufs Thema zurückzubringen.
„Nein, es regnete nicht“, sagte er versonnen, „es nieselte nicht einmal, es war nur sehr dunkel. Nachher stellten die Journalisten eine Weltuntergangsstimmung fest, die vorher geherrscht habe. Ich und niemand von meinem Kreis hatte das geringste davon bemerkt. Freilich, das darf ich nicht vergessen: die furchtbare Aufregung der Vögel fiel selbst den naturblinden Großstädtern auf.“
„Und wann begann das mit der Aufregung der Vögel?“
„Es soll kurz nach Mitternacht begonnen haben. Durch einen seltenen Zufall verbrachte ich jene Nacht auf den dreizehnten zu Hause. Millionen von Vögeln fielen in die Großstadt ein, von der ich spreche. Bitte, frag nicht nach ihrem Namen. Ich weiß ihn absolut nicht mehr. Nach den Vögeln darfst du fragen, selbstverständlich. Alle Arten waren darunter, die es damals gab, große und kleine. Von Kondoren, Geiern, Habichten, Kormoranen herunter bis zu Schwalben, Meisen und Spatzen. Mehr Namen von Vögeln sind mir nicht mehr geläufig. Die flachen Dächer, Dachgärten, Schau- und Wohntürme, Balustraden, Antennen, Feinmetallgerüste zum Empfange kosmischer Wellen und Strahlen, die Anlagen der Fernsubstanzzerstörer, all das war schwarz, pechschwarz von großen und kleinen Vögeln, die dicht nebeneinander hockten und ein gewaltiges Klagegeschrei und Gezwitscher erhoben, das sich nicht beschreiben läßt. Es war ein einziger, scharfgezackter Wehelaut, der unter den tiefhängenden Wolken vibrierte . . .“
„Und das nennst du einen ordinären Alltag“, schüttelte ich den Kopf.
„Er war es“, nickte B.H., „ein ganz ordinärer Wochentag, ein Freitag, ein dreizehnter November wieder einmal. Die ersten Extrablätter berichteten die Sache mit den Vögeln bereits um zwei Uhr morgens ebenso wie die verschiedenen wellenversendenden Agenzien. Den Uranographen, den du vermutlich bald kennen lernen wirst, gab’s damals noch nicht. Wir durchliefen gerade eine stark rationalistische Epoche, und das Vertrauen in die Wissenschaft war unbedingter, als du es je erlebt hast, F.W. Die gelehrten Institute nahmen die Angelegenheit noch mitten in der Nacht in die Hand. Um vier Uhr früh war das Phänomen geprüft, analysiert und erklärt. Es hing zusammen mit irgendwelchen elektromagnetischen Unregelmäßigkeiten, die zum Entstehen ganzer Ketten von Kugelblitzen in den untern Schichten der Atmosphäre geführt hatten.“
„Immer weniger Alltag, mein Bester“, fiel ich ein und spürte genau, wie ich mit den Schultern zuckte, obwohl sie unsichtbar waren.
„Glaub mir, F.W., bis auf das Vogelgeschrei warʻs der banalste Freitag, den du dir denken kannst. Und wie lange braucht eine richtige Metropole, um über das extremste Geschrei zur Tagesordnung überzugehen? Zwei, drei Stunden. Um elf Uhr dreißig hatte sich die Welt bereits daran gewöhnt, und die Schlagzeilen der Mittagszeitungen beschäftigten sich wieder mit den Eheaffären eines weltberühmten Ventriloquisten . . .“
„Und um elf Uhr fünfundfünfzig?“ fragte ich.
„Da begann ich gerade mein Gesicht einzuseifen“, erwiderte B.H., voll Nachdenklichkeit. „Um diese Zeit erhob sich damals der arbeitende Kulturmensch. Dies ist nämlich eine meiner gesichertsten Erfahrungen im Laufe so mancher Wiedergeburten: Je fortgeschrittener die Menschheit, um so später steht sie auf.“
„Und um zwölf Uhr zwanzig?“ fragte ich hartnäckig weiter.
„Um zwölf Uhr vierundvierzig“, sagte er und machte eine längere Pause, ehe er fortfuhr, „um zwölf Uhr vierundvierzig verließ ich meinen komfortablen Lebensraum, um einer Einladung zum Frühstück Folge zu leisten. Es ist übrigens durchaus unwahr, daß wir damals, wie ein geschichtsschreibender Witzbold es formulierte, in überaus praktischen ,Wohnsärgenʻ lebten, die sich nach unserm Hinschied mechanisch verkapselten und selbsttätig in die Erde versenkten. All das ist Schwindel. Unsere Lebensräume waren wohl recht klein, aber angenehm wie ein elastischer Handschuh. Längst waren die Zeiten vorüber, wo der Mensch um seinen Platz an der Sonne, und noch mehr um seinen Platz im Schatten zu kämpfen hatte . . .“
„Jetzt ist es mindestens zwölf Uhr fünfzig Minuten, B.H.“, drängte ich ungeduldig, denn ich fühlte, wie er mir auf Seitenwegen entwischen wollte. „Du bist aus deinem Lebensraum, aus deinem Haus getreten. Ich fürchte, du wirst zu spät zum Lunch kommen . . .“
„Ich werde überhaupt nicht zu diesem Lunch kommen, F.W.“, lächelte er träumerisch. „Ich werde gerade noch unseren städtischen Park in der nächsten Nähe erreichen. Du weißt, daß ich immer die Fortbewegung per pedes apostolorum geschätzt habe. Meine Absicht war’s auch diesmal, zu den Freunden, die mich eingeladen hatten, ganz gemächlich hinzubummeln. Ich kam freilich nicht weit . . .“
„Weil inzwischen das Ereignis eintrat?“ trieb ich ihn vorwärts. Er sah sonderbar verstört durch mich hindurch. Die Erinnerung schien ihn noch immer zu verwirren.
„Wie kann man“, fragte er ins Leere, das ich war, „von etwas, was keine oder fast keine Zeit in Anspruch nimmt, leichtfertig sagen, es trete ein?“
„Fast keine Zeit ist immerhin so gut wie jede andere Zeit“, erklärte ich. „Das Ereignis währte demnach den Bruchteil einer Sekunde, B.H.? Vielleicht kannst du diesen Bruchteil in Zahlen ausdrücken . . .“
„Und ob ich’s kann“, entgegnete er und schrieb in die Luft sehr geschwind eine beträchtliche Reihe von Nullen, an deren Ende er energisch einen Einser setzte.
„Ich verstehe nichts davon“, erwog ich, „aber ich denke, ein Bruchteil von solcher Winzigkeit kann ja gar nicht sinnlich wahrgenommen werden.“
„Gar nicht sinnlich wahrgenommen werden“, wiederholte er beinahe höhnisch. „Ich sage dir, wir alle glaubten, das Ereignis habe Ewigkeiten gedauert. Während es stattfand, waren wir wie aus der Zeit geworfen. Hinter der schweren, dicken Wolkenwand des dreizehnten Novembers flammte plötzlich vom Aufgang zum Niedergang das Empyreum auf, der Feuerhimmel, von dem die Menschen einst geglaubt hatten, daß er hinter allen andern Himmeln liege. Wie soll ich dir das Ungeheuerliche schildern, es gab nichts mehr, keine Stadt, keine Häuser, keinen Park, keine Allee, keinen Baum, kein Ich, kein Du, es gab nur Licht, ein Licht aber, gegen das alles bekannte Licht die schmutzigste Dämmerung war . . .“
„Ich habe immer gefürchtet“, murmelte ich erschüttert, „die Sonne könne einmal eine Herzattacke oder einen Wahnsinnsanfall bekommen . . .“
„Nenn es, wie du willst“, sagte er. „An jenem Freitag, dem dreizehnten November, drohte die Sonne mit sich selbst durchzugehn. Man kennt das ja von anderen Lichtgestirnen, die urplötzlich explodieren, das heißt zur millionenfachen Größe ihrer selbst anwachsen. Ich weiß nicht, ob wir in unserer gemeinsamen Gymnasialzeit schon etwas von der Novabildung gelernt haben, oder ob das erst eine viel spätere Entdeckung war. Das Große aber an unserer Sonne ist, daß sie zugleich, als sie mit sich durchging, sich selbst beherrschte und sich selbst in der Gewalt behielt. So kam es nur zu dem großen Ereignis der ,Transparenzʻ und nicht zur Vernichtung. Das Ereignis überschritt die Grenze des Geistigen kaum. Und doch, wir haben den Jüngsten Tag erlebt . . .“
„Wie furchtbar muß es gewesen sein“, hörte ich mich murmeln, „wie furchtbar.“
„Furchtbar!“ rief er aus. „Es war herrlich, unausdrückbar herrlich! Wäre die Kürze des Augenblicks nur um eine fehlende Null länger gewesen, alles wäre vorbei für immer. Hätte irgendein Wesen auf Erden während der ,Transparenzʻ ein brennendes Streichholz in der Hand gehalten, die Atmosphäre hätte sich entzündet und wäre wie eine Flammenfahne in den Raum verpufft. Warum? Weil der Sauerstoff der Luft vor und nach der Transparenz einige Sekunden lang ums Dreifache vermehrt war. Aber es gab eben keine Streichhölzchen mehr auf Erden, kein offenes Feuer und nicht einmal Lavaströme. Da sind heute noch Gelehrte, die behaupten, die Vermehrung des Sauerstoffes in der Atmosphäre sei die Ursache der göttlichen Begeisterung, der unaussprechlichen Ekstase gewesen, die mich und alles andere, das lebte, in jenem Bruchteil von Zeit erfüllte . . .“
„Wie soll ich mir vorstellen“, wunderte ich mich, „daß in einem solchen Bruchteil von Zeit sich überhaupt eine Empfindung entwickeln kann, B.H.?“
„Du kannst dir diesen Bruchteil ähnlich vorstellen, F.W., wie etwa die Steigerung in einem niemals erdachten Symphoniesatz. Ach Gott, das alles ist ein Blödsinn, und du kannst dir gar nichts vorstellen. Versuche aber trotzdem dir vorzustellen, du hättest bisher nur als Figur auf einem Bilde gelebt, und plötzlich brichst du leibhaftig und dreidimensional aus der Leinwand. Stell dir vor, das, was du bisher für dein Leben genommen hast, sei nichts als ein Krampf, eine verkümmernde Kontraktur aller Muskeln, und mit einem Schlage bist du von diesem Krampf erlöst und in der richtigen Haltung. So ungefähr empfanden wir das Leben während der Transparenz . . . Oh, du hast viel verschlafen, F.W.“
„Ich habe mir nicht gewünscht, geweckt zu werden“, erwiderte ich ebenso unlogisch wie pikiert.
„Fühlst du dich wirklich so unwohl in deinem Mantel aus Durchsichtigkeit?“ fragte er, und ich merkte, daß ich ihn gekränkt hatte.
„Wenn ich deinen klaren Bericht überdenke, B.H.“, lenkte ich ein, „so hat es sich weniger um ein astronomisches Ereignis gehandelt, das unrettbar zum Untergang geführt hätte, als um ein unendlich kurzfristiges Schwanken in der Sonnennatur zwischen Dauer und Vernichtung, zwischen Fortstrahlen und Zusammenflammen, um einen Augenblick auf des Messers Schneide gleichsam, der sich in der Lichterscheinung ausdrückte, die du oder die Wissenschaft ,Transparenzʻ nennt. Ich verstehe die Begeisterung, die Ekstase des Jüngsten Tages und der Welterlösung, die diese Transparenz auslöste. Sonst aber scheint sie ergebnislos und ohne Folgen vorübergegangen zu sein . . .“
„Sie hatte Folgen“, fiel er mir ins Wort, „die Transparenz verlief nicht nur wie ein Schauspiel . . .“
„Aber keine physikalischen und chemischen Folgen.“, warf ich ein, „bis auf die augenblickliche Vermehrung des atmosphärischen Sauerstoffs . . .“
„Irrtum“, sagte B.H., „das Ereignis hatte eine Menge von physikalischen Folgen. Daß einige Millionen Menschen während der Transparenz starben, ist nicht so wichtig. Aber sieh nach oben, F.W., und du wirst die Folgen sehen, oder richtiger, nicht sehen . . .“
Ich blickte gehorsam zum strahlenden Himmel. Er kam mir viel leerer, viel stummer vor als zu meiner Lebenszeit. Plötzlich fühlte ich in mir einen kurzen, wunderlichen Schreck: „Wo sind die Vögel?“ fragte ich.
„Das Geschlecht der Vögel ist dahin seit dem dreizehnten November-Freitag“, entgegnete er, nicht ohne schleppende Feierlichkeit, und er fügte hinzu: „Ihre Angst und ihre Begeisterung war zu groß. Sie haben’s nicht überlebt.“
Nach diesen Worten sagte B.H. nichts mehr. Er ging auf die dunkle Baumgruppe zu, die einige Schritte von uns entfernt lag. Nach einem schnellen, mißtrauischen Blick zur hochstehenden Sonne empor folgte ich ihm.
Nun, da ich mich mit fliegender Feder der eigentlichen Reisebeschreibung der mentalen oder astromentalen Zeit und Welt zuwenden sollte, fühle ich mich aufgehalten und halte mit mir, was weit gefährlicher ist, den noch immer verdutzten und vielleicht schon erbosten Leser auf.
Ich erforsche mit möglichster Wahrheitstreue mein Gedächtnis und kann es doch nicht genau ermitteln, wieviel mir B.H. von den Voraussetzungen dieser Zeit und Welt verriet, ehe wir das Haus der Hochzeiter betraten. Jetzt, ich meine jetzt, während ich dies schreibe, da immerhin einige Nächte und Tage seit meiner Heimkehr vergangen sind, scheint es mir, als habe mein Freund sich dazu bewegen lassen, mir einige knappe Informationen zu erteilen, ehe er vor einer umwucherten Gartenpforte eine kurze Verbeugung vollführte und mit halblauter Stimme ins Leere rief: „Wir sind hier, wie verabredet“, worauf sich die Pforte öffnete.
Vielleicht aber irre ich mich, und der Wiedergeborene, der mir die „Transparenz“ oder „Sonnenkatastrophe“ so beredsam preisgegeben hatte, hielt mich kurz, ehe er mich seinen Freunden vorstellte. B.H. war durchaus nicht so dienstwillig zu mir wie, um einen überheblichen Vergleich zu wagen, Vergilius etwa zu Dante. Es herrschte zwischen uns beiden trotz aller Freundschaft eine Art von unterdrücktem Streit dann und wann. Wie jeder echte Cicerone wollte B.H. mich, den Touristen, stets überwältigt sehen und vor Erstaunen fassungslos. Ich aber, wie jeder Tourist, setzte diesem Bestreben meinerseits einen hartnäckigen Widerstand entgegen und zeigte mich lieber — oft gegen meinen eigenen Willen ― abgestumpft und blasiert. So geschah es, daß B.H. nicht selten gekränkt war und mir seine Belehrung vorenthielt. Gar mancher ungeahnter Tatsachen wurde ich ohne alle Erklärung inne, durch Penetration und Osmose, ich kann’s nicht besser ausdrücken. Schon dadurch, daß ich in ihr anwesend war, durchdrang mich die unbekannte Welt und Zeit mit einem unverhofft rasch wachsenden Verständnis für ihre Besonderheiten und unermeßlichen Verwandlungen. Nur so ist es erklärbar, daß ein, nach Stunden gemessen, sehr kurzer Aufenthalt mir genügte, um diesen ausführlichen Bericht hier erstatten zu dürfen, wobei ich teils aus Zweifel an der Zuverlässigkeit meines Gedächtnisses, teils aus Scheu, den Geist des Lesers mit allzuviel Neuem zu ermüden, nur eine Auswahl aus der Fülle des Gesehenen, Erfahrenen und Gewußten in möglichst chronologischer Folge aufs Papier werfe.
B.H. hatte es vorhin verstanden, jenes ungeheure Himmelsereignis der Transparenz mir so glorios vor die Seele zu stellen, daß es mir, als ich scheu zur Sonne emporblickte, plötzlich so vorkam, als hätte ich es selbst erlebt, als wäre ich mit Körper und Seele dabei gewesen, obwohl es doch einige Jahrzehntausende oder Weltepochen vor meiner Besuchszeit stattgefunden hatte, während der tiefsten Tiefe meines Todesschlafes. Es war ein ganz richtiger Instinkt gewesen, der mich darauf bestehen ließ, zuerst in das Ereignis eingeweiht zu werden, bevor ich die Schwelle des Hochzeitshauses überschritt. Daß eine Hochzeit, das Fest der Eheschließung, so viel mehr bedeutete als in meinen Tagen, auch das hing ja mit jener erhabenen Transparenz zusammen. Seitdem unsere Sonne ihren „Anfall“ erlitten hatte, jenen infinitesimalen Augenblick zwischen strahlendem Fortbestand und explosivem Verderben, welcher so leicht unser ganzes Planetensystem hätte in dünnste Urmaterie zurückverwandeln können, seit jenem Augenblick der Augenblicke hatten nämlich auf unserer lieben und leidigen Erde einige Umwälzungen stattgefunden, die nicht unwichtiger waren als das Verschwinden des Vogelgeschlechtes.
Obwohl der Augenblick der Augenblicke so kurz gewesen, daß B.H. nicht genug Nullen in die Luft schreiben konnte, um seine Kürze darzustellen, so hatte er doch genügt, um den Abstand des Erdglobus vom Sonnengestirn etwas zu vergrößern. Es war eine ganz und gar unwesentliche Vergrößerung, welche die Umlaufszeit der Erde und somit das Jahr um kaum ein oder zwei Stunden verlängerte. Und doch — diese winzige Dehnung drückte sich in der Naturund Menschheitsgeschichte aus, nicht anders wie die leicht erlahmte Achsendrehung der Erde, die in ebenso winzigem Ausmaße die vierundzwanzig Stunden des Tages um ein Häuflein von Sekunden vermehrte. Blutiger Laie, der ich bin, berichte ich diese Veränderungen nur, ohne sie astronomisch und physikalisch beschreiben, begründen und rechtfertigen zu können. Es wird Sache der Gelehrten sein, diese von mir heimgebrachten Fakten zu prüfen.
Der skeptischeste Gelehrte jedoch wird die Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen, daß auch geringe kosmisch-astronomische Veränderungen nicht ohne biologische Folgen bleiben können. Mit der wichtigsten dieser Konsequenzen, soweit sie die Krone der Schöpfung anbetrifft, platze ich ganz ungehöriger Weise sofort heraus. Es war dies eine sehr beträchtliche Erhöhung des menschlichen Lebensalters. Ob diese freilich einzig der Verlängerung und Verlangsamung des planetaren Rhythmus zu danken war, oder ob eine kunstvolle Verminderung jener Gefahren und Schädigungen mitspielte, wie sie den hinfälligen Körper des Menschenkindes meiner Zeit bedrohten, auch dies ist eine der Fragen, mit denen ich die Schultern der Gelehrten belasten muß. Es ist eine gewisse furchtsame Verlegenheit, die mich zwingt, die Frist an der Gartenpforte der astromentalen Epoche ein wenig hinauszuziehen. Sind wir einmal eingetreten, so wird es unsere schwierige Aufgabe sein, mit einer erdrückenden Fülle grandiosen Fortschritts fertig zu werden, der ganz und gar nichts mit technischen Verbesserungen und Erleichterungen zu tun hat, welche wir in den Anfängen der Menschheit beinahe ausschließlich mit „Fortschritt“ identifizierten. Dieses Wort, naiv und schnurgerade verwendet, umschließt, was inzwischen auch schon den Minderklugen bekannt ward, eine arge Illusion. Andererseits bleibt aber vom Bienenfleiße der wechselnden Generationen so mancher Honigtropfen der Erfahrung in den Waben zurück, den selbst Sonnen- und Erdkatastrophen sowie der partielle Gedächtnisverlust der Menschheit nicht völlig vergeuden können. Jede gehende Uhr, die dem Menschen die Stunde schlägt, ist eine Sparbüchse, in welcher die sich sammelnden Sekunden nicht ganz zinsenlos hinwegschmelzen. Die Zeit an sich thesauriert für das Menschengeschlecht, das sie erlebt und erleidet, ein gewisses Kapital, das allerdings, wie durch den letzten Willen eines weitsichtig geizigen Erblassers, nur als winzige Rente in großen Abständen behoben werden kann. So ist denn jede Generation ein klein wenig reicher als die ihr vorangehende, und sei sie auch nur reicher um deren Niederlagen. Dieses mikroskopisch geringe Plus an sich mehrendem Älterwerden ist der ganze „Fortschritt“ der Menschheit.
Ich widerrufe die obige Erkenntnis nicht, obwohl ich am zweiten Tage meines Besuches aus dem Munde des Großbischofs eine ganz und gar gegenteilige Lehre zu hören bekam. Die Wahrheit ist ein und dieselbe. Die Sichtwinkel sind verschieden. Das Lebensalter der Menschen, in deren Kreis ich sogleich treten soll — wir stehen zur Beruhigung des Lesers schon jenseits der Gartenpforte ―, konnte ohne große Schwierigkeit bis zum zweihundertsten Jahre ausgedehnt werden. Die meisten Leute jedoch pflegten schon zwanzig oder dreißig Jahre früher „in Pension zu gehen“, obgleich ihnen das Alter keine Beschwerden brachte, sondern schlimmstenfalls eine gewisse Gelangweiltheit und Sättigung. Hier aber nähere ich mich bereits voreilig der zweitwichtigsten, wenn nicht der wichtigsten Erfahrung meiner Reise, und es wäre vom Standpunkte des Berichterstatters sowie des Romanschreibers mehr als ungeschickt, diese Erfahrung zusamt der Bedeutung des Wortes „Wintergarten“ (ein heuchlerischer Ausdruck) vor dem zweiundzwanzigsten Kapitel im dritten Teil dieses Buches preiszugeben. Die allgemeine Verlängerung und Verlangsamung des Lebens hatte noch andere Besonderheiten nach sich gezogen, die ich zum Teil erriet, zum Teil aus dem Munde B.H.s erfuhr (so scheint es mir wenigstens jetzt), noch ehe ich mit den Menschen in Berührung kam, die mich zur Hochzeitsfeier eingeladen oder richtiger „zitiert“ hatten. Die Verarmung des Lebens an Buntheit und Fülle, die erstaunliche Verringerung seiner Varietäten, die Abnahme seiner Leidenschaften, all dies zu erraten, dazu gehörte wahrhaftig nicht viel Scharfsinn. Ein Blick weit hinaus auf die glatte Trostlosigkeit des Erdenbildes bewies alles. Wir waren bisher noch keinem einzigen Menschen begegnet. Ich zog daraus, wie mir mein Freund bestätigte, keinen falschen Schluß: Die ehemalige Milliardenzahl gleichzeitig lebender Individuen war auf jenes Minimum zusammengeschrumpft oder zurückgeführt, welches für den Fortbestand einer Spezies unumgänglich notwendig ist. Auch das nächste Glied der Schlußkette ergab sich mit Notwendigkeit: Bei solch dünner Bevölkerung des eingeebneten Erdballs, die durch das Reise-Geduldspiel auf das schwereloseste verbunden war, konnten nationale und sprachliche Unterschiede nicht bestehen. Seit undenklichen Epochen war die Menschheit geeinigt.
Gewiß, B.H. hatte den Ehrgeiz, mich in Erstaunen zu setzen. Zugleich aber wollte er nicht, daß ich mich blamiere und als ein völlig Unwissender und Ungebildeter meinen neuen Zeitgenossen erscheine. Dem hatte ich es zu verdanken, daß ich rasch einige Aufklärungen darüber erhielt, was eine Hochzeit in der mentalen Welt bedeutete, und warum es eine hohe gesellschaftliche Ehre war, diesem Feste zugezogen zu werden.
Das Gebiet, auf dem sich der durch die „Transparenz“ hervorgerufene Wandel am schärfsten spiegelte, war, wie nicht anders zu erwarten, das Gebiet der Fortpflanzung: Paarung, Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft, werdendes und hervortretendes Leben. Es seinicht wahr, gestand B.H., daß alle Frauen nur einer einzigen Schwangerschaft im Leben fähig wären. Dies stimmte nur für die adeligste und verfeinertste Klasse unter ihnen. Gleich den edlen Bäumen im Märchen war es ihnen gegeben, nur einmal Frucht zu tragen. Hingegen war die Verfeinerung der Natur allgemein, die in dem Umstand lag, daß die Dauer der Gravidität sich von neun auf beinahe zwölf Monate erhöht hatte.
War die Monopädie, das Einkindsystem, auch die Regel, so waren, wie B.H. mit bedenklicher Miene erklärte, die Ausnahmen zahlreicher als diese Regel. Wie hoch sich freilich die Verhältniszahl jener Ehepaare belief, die zwei oder drei Kinder großzogen, das konnte ich während meiner ganzen Anwesenheit nicht erforschen. Jenes statistische Bedürfnis, das mein eigenes Zeitalter gekennzeichnet hatte, schien der mentalen Epoche völlig abhanden gekommen zu sein. Eines aber wurde mir schon jetzt aus den Andeutungen des Wiedergeborenen klar: Von „Familie“ konnte derjenige nicht sein, welcher zu einer „kinderreichen“ Familie gehörte, die zwei Sprößlinge daheim zu hüten hatte. Die kinderreichen Familien bildeten somit die „untere Klasse der Gesellschaft“, obwohl dieses Wort „untere Klasse“ recht sinnlos klang für eine Welt, von der B.H. im selben Atemzuge behauptete, sie kenne keine ökonomischen noch sozialen Unterschiede. Immerhin verschwieg er mir nicht, daß sich das monopädische Patriziat mit den „Kinderreichen“ nicht vermische.
Ich hatte rasch kapiert, welche hohe Bedeutung der Ehe in dieser Welt innewohnen mußte. Sie schien sich beinahe zur Höhe der sakramentalen Heiligkeit zu erheben, wie sie die katholische Kirche lehrte, die eine von den zwei Erscheinungen aus den Anfängen war, denen ich hier begegnen sollte. (Die zweite wird zur rechten Zeit verraten werden.) Was die Vereinigung von Mann und Weib betraf, so blieb viel weniger der freien Liebeswahl überlassen als in dem liberalen Zeitalter meines früheren Lebens. Wieder einmal berührten sich die äußersten Gegensätze, indem die Mentalen dieser fernsten Zukunft in dieser Hinsicht es nicht anders hielten als die mythischen Bauern des verschollensten Altertums. Schon dem zehnjährigen Knaben wurde die rechte Braut zugeordnet. Die Wahl war im hohen Grade vorherbestimmt durch gewisse äußere Zeichen und innere Eigenschaften der Kinder. Unter äußeren Zeichen verstehe ich auch jene Hinweise, welche von den Sternen herabgelangten. In den abgelaufenen Weltepochen hatte sich das Verhältnis des Menschen zum Sternenall radikal verändert. Ich muß mich energisch zurückrufen, um nicht schon an dieser frühen Stelle von der gewaltigsten meiner Reiseerfahrungen zu sprechen, welche auf dem neuen Verhältnis der astromentalen Menschen zum Sternenall beruht. Sie verstanden genauer, als wirs uns erträumen können, wie sehr sich jeder Punkt im Kosmos auf jeden Punkt im Kosmos bezieht, und wie unbedingt von diesem lückenlosen Beziehungsgewebe alles Irdische abhängt. Das Wort „Horoskop“ ist viel zu plump, es klingt in unsern Ohren viel zu sehr nach mechanisch-dilettantischer Wahrsagerei, um jene sideralen Subtilitäten und Finessen auch nur anzudeuten, unter deren Hut man die heranreifenden Gatten körperlich, seelisch und moralisch stellte. Ihr Aufenthalt wurde danach geregelt, ihr Unterricht, ihr Spiel, ihr Vergnügen, ja ihr Schlaf. Nur dreimal durften Jüngling und Jungfrau einander an bestimmten Lebenswenden begegnen, ehe das Verlöbnis geleistet wurde. Es waren drei Proben, um zu ermitteln, ob etwa ein heimliches Widerspiel, eine verborgene Antipathie, eine unvermutete (sternbedingte) Wegwendung das feine Verbindungswerk zu stören drohe. Solche Mißverhältnisse traten dann und wann zutage, worauf die Bindung sofort gelöst wurde, und die Welt etwas zu klatschen hatte. Besser, sie hatte jetzt etwas zu klatschen als später, was soviel heißen will, daß trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auch in der astromentalen Welt Liebestragödien, Ehebrüche, ja sogar Scheidungen vorzukommen pflegten, wenn sie auch unvergleichlich tieferes Leiden verursachten als in der unseren. Ging jedoch alles gut, so mußte nur der dreiunddreißigste Geburtstag des Bräutigams abgewartet werden, an welchem der Mann das gesetzlich vorgeschriebene Reifealter erreichte. Die Stunde der Vermählung war gekommen. Dieser Stunde gingen freilich Monate der inneren Vorbereitung voraus. Sie bestanden aus Belehrung, Betrachtung, Selbstprüfung, kurz aus psychologisch-moralischen Exerzitien, denen die Brautleute, jedes für sich, unterworfen wurden, um sie für das Opfer an Persönlichkeit geschmeidig zu machen, ohne das eine echte Ehe nicht zu denken ist. Waren diese Exerzitien zur Zufriedenheit der Prüfenden und Geprüften beendet, so folgte die eigentliche Festeszeit, die hohe Zeit im wahren Wortsinne, die drei Tage umfaßte, von denen der weit größere Teil im Brauthause, der kleinere in der Öffentlichkeit gefeiert wurde. Die Trauung fand zur Mittagsstunde des dritten Tages statt.
Die Erwähnung dieses Stundenplans ist unerläßlich, bildet er doch den Rahmen meines kurzen aber ertragreichen Aufenthaltes in einer Zukunft, von der ich mir nie hatte etwas träumen lassen. Um seinetwillen war ich gezwungen, den annoch dürftigen Fluß dieser Erzählung so nahe der Quelle zu unterbrechen. Ich verspreche aber bereits hier, daß ich ungleich andern reisenden Pedanten, weder durch Karten, Kroquis noch sonstige Abbildungen der freien Auffassung meiner phantasievollen Leser den geringsten Zwang antun werde.
„Es ist heute der erste Tag des Hochzeitsfestes von Io-Do und Io-La“, sagte B.H., indem er die Gartenpforte vorsichtig hinter sich schloß. „Den Vormittag hast du leider schon versäumt.“ Nach diesen Worten setzte er sich langsam in Bewegung. Ich stand noch immer breitspurig still auf meinen unsichtbaren, aber festen Beinen. Nicht ohne Trotz stellte ich die Frage:
„Was habe ich eigentlich bei dem Hochzeitsfest des ausgezeichneten Paares Io-Do und Io-La zu suchen?“
„Du bist doch eine besondere Ehrengabe, F.W.“, versetzte mein Freund, ohne sich umzudrehen, „verstehst du das nicht?“
Ich verstand. Die Erscheinung eines Wesens aus dem grauesten Altertum der Menschheit war ein Hochzeitsgeschenk B.H.s an das junge Paar am ersten Tage der Festlichkeit. In früheren Zeiten hatte man Affen, Papageien, Zwerge und Hofnarren zum Präsent gemacht. Heute schenkte man „zitierte Geister“. Warum nicht? Was sie freilich mit einem Unsichtbaren anfangen werden, steht dahin. Mir wurde trotz meines Zustands heiß und kalt. Schon wollte ich eine bissige Bemerkung machen, als B.H. mit leiser Stimme sagte, immer noch den Rücken mir zuwendend:
„Du verstehst hoffentlich auch daß ich vor allem dir eine Ehrengabe machen will . . .“
Seine Stimme klang warm und aufrichtig. Er hatte mir wahrhaftig ein Präsent gemacht, in welchem alle andern Gaben enthalten sind: Leben und Bewußtsein. Hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und einem leichten Ärger, heftete ich meinen Blick auf die Bilder, die mich umgaben. Der Garten, den wir nun langsam durchschritten, er voran, ich hinterdrein, war ein wirklicher Garten, obgleich er nur ein sogenannter Garten war. Er bestand aus tatsächlichen Hecken, Büschen, Sträuchern, Beeten, einem Springbrunnen mitten auf grauem Rasen, und all das überdacht von den dichten Baumkronen ledrigschwarzen Laubes, die so charakteristisch für das flache Land ringsum waren, von dem B.H. behauptete, es sei eine Metropole; ich konnte noch nicht wissen, warum. Des Gartens Beete, Lauben und Hecken — sie zeigten keinen einzigen grünen Fleck — prangten in einer bescheidenen Fülle mir unbekannter Blumen. Es gab aber höchstens fünf oder sechs Arten. Die meisten davon glichen sehr großen Anemonen mit mattem Farbanhauch, rosa, gelblich, heliotrop oder perlmutterartig changeant. Nur eine Strauchblüte, die unsrer Rose zu entsprechen schien, zeigte eine ausgesprochene, starke, stumpfe Farbe: Rostrot. Auch sie aber wirkte künstlich mit ihren dicken, regungslosen Blütenblättern, wie vom Wachszieher hergestellt. Ich mußte an einen Prachtladen in Paris denken, nahe der Gare Saint Lazare, in dessen Schaufenstern dergleichen tragantene Blumenpracht das Auge magisch fesselte. Der Unterschied war nur, daß in jenem Schaufenster die Kunst die Absicht hatte, natürlich zu wirken, während hier die Natur auf Strauch und Beet bemüht zu sein schien, recht künstlich und gemacht sich darzubieten. — Dieser ganze, nicht gerade große Garten mit all seinen mattfarbigen Gewächsen und dem schwarzen Laubdach der fremden, ernsten Bäume erweckte den Eindruck von Lichtscheu und Sonnenfürchtigkeit, um so bemerkenswerter deshalb, weil die Sonne, meiner Empfindung nach, an Wärmekraft eingebüßt, an durchdringender Schärfe und Grellheit der Strahlung jedoch zugenommen hatte. Die späteren Erfahrungen gaben meinem Argwohn recht: Diese Sonnenfürchtigkeit, diese Flucht vor der Strahlung war nicht nur ein Schutztrieb der gegenwärtigen Natur, sondern auch eine Gesinnung der mentalen Kultur, in der ich mich befand. Mir fiel jetzt eine Menge großer, ich möchte fast sagen riesiger, mottenfahler Falter und lichtgrüner Libellen auf, die mit vibrierendem Flügelschlag über den Gewächsen gaukelten. Sie erzeugten dabei einen nicht unangenehmen zirpenden, ja melodisch zwitschernden Laut:
„Die Schmetterlinge singen“, lächelte B.H. beglückt. „Es sind unsre Frühlingsvögel. Wir haben April . . .“
„Du bist ein Abtrünniger, B.H.“, entfuhr es mir. Obwohl ich nichts weiter sagte, kam es mir aber so vor, als habe er seine eigenen Eltern verkauft, weil er sich gar so zu Hause fühlte in dieser Fremde ohne grünes Gras und Vögel. Ich aber fühlte mich zurückversetzt in die Tage, bevor ich eingeschlafen sein mußte, um plötzlich auf dem grauhaarigen Rasen dieser entlegenen Zukunft, von der ich in der Form der Vergangenheit erzähle, mich wiederzufinden. Ich sah den Garten meines kleinen Hauses vor mir, mit der schönen Steinschale, stets mit frischem Wasser gefüllt, die wir für die Vögel aufgestellt hatten. Gelbe Pirole, schwarze Amseln und blaue Nußhäher schossen von allen Seiten herbei, tranken und badeten und fuhren wieder in die Höhe, und all das ging durch meinen Sinn und erfüllte ihn mit Wehmut. Dann sah ich hinauf in den blauen, toten, leeren Himmel dieses Tages und betrachtete den ungemütlichen, fremdartigen Garten um mich her und zerbrach mir den Kopf darüber, wie in solchem Schattenwesen irgendwelche Pflanzen zu gedeihen vermögen, und seien es auch nur die Wachs- und Zuckerbäckerblüten rings, die sich nicht regten. B.H. erriet natürlich sofort meine Gedanken:
„Die Gartenpflege erfolgt zentral“, klärte er mich auf. „Das besorgt alles der Arbeiter.“
„Was ist das, der Arbeiter?“ fragte ich, ohne meine Betretenheit verbergen zu können.
„Man nennt ihn auch den Vollbärtigen oder den Schlaflosen“, entgegnete B.H. „Doch Geduld, mein Lieber, du wirst ihn zu sehn bekommen . . .“
Was ich aber nicht zu sehn bekam, war „das Haus“. B.H. hatte mich nicht betrogen. Wir standen wirklich inmitten einer Stadt. Die Häuser dieser Stadt waren nur, aus Gründen jener schon erwähnten Sonnenfürchtigkeit, nicht über, sondern tief in die Erde hineingebaut. Jeder der von schwarzem, ledrigem Laube gekrönten Gärten war somit ein Dachgarten. Die einzelnen Baumhaufen bezeichneten je ein Wohnhaus. Nichts widersprach mehr der technischen Architektur von Beton, Stahl und Glas, jener Industriearchitektur aus meiner Zeit, aus den Anfängen der Menschheit, welche schreiendes Licht und grellen Lärm kraftmeierisch in die nervenlosen Hauskuben zu zerren liebte, als diese Bausitte hier, die im Schoße der Erde dem überempfindlichen Menschen das schützende Heim errichtete. Die Erdoberfläche überragte nur ein mäßig hoher, runder Überbau aus durchscheinendem Material, der dem Geschütz- oder Beobachtungsturm eines Kriegsschiffes glich. In diesen Turm traten wir durch einen türlos offenen Eingang, worauf sich sofort die Plattform, auf der wir standen, zu senken begann. Ich bekam in diesem Augenblick, was mir niemand verdenken wird, tüchtiges Herzklopfen und war deshalb ziemlich froh, als, in der Tiefe angekommen, B.H. mich zu warten bat, denn er müsse mein Erscheinen anmelden.
Als ich mich dann im Empfangszimmer befand, ich weiß nicht, ob hereingerufen oder -geholt, da war ich wieder ganz ruhig und fühlte mich von der unbeteiligten Beobachtungskraft und unerschrockenen Neugier eines echten Forschungsreisenden erfüllt, obwohl mir dieser Zweck meiner nächtlichen Aussendung so recht erst nach meiner Rückkehr bewußt wurde. Meine Aufgabe freilich war nicht so leicht, wie man denken könnte. Ich hätte zum Beispiel, was doch jedem Forschungsreisenden zweifellos obliegt, keinerlei stenographische Anmerkungen in ein Notizbüchlein machen können, aus Gründen des eigenartigen Lichtes nämlich, das den mittelgroßen und wohlgestalten Raum erfüllte. Dieses Licht oder besser, diese Beleuchtung war nicht etwa schwach oder düster, sie war ganz im Gegenteil von wohltuend milder Helligkeit, aber durch irgendeine unbekannte Zumischung gelang es ihr, alles, was sie erleuchtete, zugleich zu verwischen, angenehm ungenau zu machen und in eine schöne Ferne zu rücken. Wenn das Wort aristokratisch auf eine Beleuchtung angewendet werden darf, so war’s die aristokratischste Beleuchtung, die sich denken läßt. Ich sage mit Absicht nicht ästhetisch, sondern aristokratisch, weil sie den Gegenständen Takt und Liebenswürdigkeit angedeihen ließ. Ziemlich warm, ins Gelb-Trauliche spielend, erinnerte sie an das Auer-Gaslicht meiner Kinderzeit und seinen friedlichen Lampenkreis. Von dieser so häuslichen Beleuchtung umspült, standen etwa elf Personen um einen sonderbar hohen, mittelgroßen Tisch, der auf mich den Eindruck eines ertappten Wesens machte, das sich totstellte. Die Personen lächelten hochbefriedigt in die Richtung, wo ich mich aufhielt. Sie hatten sich weder bei den Händen angefaßt noch auch den Raum verdunkelt, wie es die Praxis eines verschollenen Altertums vorschrieb. Dergleichen Hokuspokus schien längst überwunden zu sein. Außerhalb des freundlichen Lichtkreises, genau in der Mitte zwischen jenen Personen und mir, stand B.H., der Wiedergeborene. Obgleich sein Gesicht ganz in Schatten getaucht war, erinnerte es mich, ich weiß nicht warum, an das Gesicht eines Conferenciers oder eines Artisten oder des Erklärers bei einer Abnormitätenschau, der soeben einen schlagkräftigen Satz gesprochen hat. Mit einer Hand wies B.H. auf mich („voilà“), mit der andern auf die Gesellschaft. Es war von nun an seine symbolische Gebärde. Die Personen dort, die aufmerksam, offen und erwartungsvoll mich ansahen, waren mit nichts anderem bekleidet als mit dem zarten Spitzengewebe, welches dieses Licht ohne Lichtquelle über sie warf. Einfacher gesagt: Sie waren nackt.
Ich hingegen war nicht mehr nackt, geschweige denn nackter als nackt, unsichtbar. Ich war sogar äußerst sichtbar, mir selbst zur plumpen Unlust. Um das Maß vollzumachen, trug ich, horribile dictu, meinen Frack mit steifer, zudem noch eingeknickter Hemdbrust, samt ramponiertem Stehkragen und müder weißer Binde. In diesem Staatsgewand hatte man mich vermutlich vor mehr als hunderttausend Jahren zu Grabe getragen, und damals schon war dieser Frack, ich will nicht übertreiben, aber er war beinahe zwanzig Jahre alt. Neben seinem schäbigen Seidenrevers bammelte der einzige Orden, den ich im Leben empfangen habe, und zwar von einer kunstfreundlichen, aber schwachen Regierung, die drei Wochen nach dieser unbedachten Ordensverleihung vom Teufel geholt wurde. Welch ein Rollentausch! Ich, der als Astralleib, als ekdoplastische Erscheinung hierher zitiert worden war, kam mir vor wie der feiste Oberkellner eines mittelmäßigen Restaurants unter leuchtenden Geistern. Diese aber empfingen mich mit großen, erfolgsfrohen Augen, denn mein ausgedienter Frack erschien ihnen zweifellos als ein phantastisches Kostüm aus der Maskenleihanstalt menschlicher Urgeschichte, viel phantastischer gewiß als mir etwa ein Ritter in Turnierrüstung und Helmbusch zu meiner Zeit erschienen wäre.
Es ist eine alte Erfahrung für jedermann, der in einen Kreis von Menschen sehr fremder Rasse tritt, daß die Gesichter dieser Menschen einander quälend gleichen und er die größte Mühe hat, sie auseinanderzuhalten. Meist hilft er sich damit, daß er die Unterscheidungsmerkmale im verschiedenartigen Körperwuchs und in der Gewandung sucht. Beides war mir unmöglich. Die Persönlichkeiten um diesen Tisch schienen alle von gleichem Körperwuchs zu sein, von zierlicher, ja man möchte fast sagen lieblicher Gestalt, Männer und Frauen. Ihre harmonische Mittelgröße widerlegte die übliche Vorstellung vom riesenhaften, willensgestählten Zukunftsmenschen, die auch ich zu meiner Zeit gehegt hatte. Ebensowenig wie der Wuchs kam mir die Kleidung zu unterscheidender Hilfe. Wenn die Persönlichkeiten hier das eigenartige Licht auch wie ein leichtes, kommodes Hausgewand um den Körper trugen, so verwischte es eher jede Verschiedenheit als sie zu verraten. Von allem Anfang an fühlte ich, daß die Nacktheit der anwesenden Gestalten in keiner Weise mit dem zu vergleichen war, was in meiner Epoche der Schönheitsköniginnen am Badestrand und auf dem Sportplatz als Nacktheit oder Halbnacktheit umzugehen pflegte. Dies ist ja nicht eigentlich Nacktheit gewesen, sondern nur Ausgezogenheit und Enthülltheit dessen, was gewohnheitsmäßig verhüllt war. Diese Nacktheit hier hingegen schien als nackt gedacht zu sein, sie stand nicht im Widerspruch zu sich selbst, sie konnte als traditionelle Lebensregel im Hause gelten, sie hatte nicht den heimlichen Wunsch, Blicke auf sich zu ziehn und Begierden zu erwecken, sie war unschuldig. Wäre ich ein schwärmerischer Sektierer, so würde ich vielleicht von der wiedergewonnenen paradiesischen Nacktheit sprechen können. Schon die nachgedunkelte Elfenbeinfarbe dieser „mentalen“ Körper, fern von allem Milch und Blut, offenbarte und verbreitete eine Sinnenkühle, die sich kaum beschreiben läßt.
Die Schönheit der zartgliedrigen und feingesichtigen Persönlichkeiten in dem Raum besaß aber die berauschende Eigentümlichkeit nicht, die wir mit der Wortverbindung „strahlende Schönheit“ beschreiben, jene unentrinnbare Macht, welche den atemlosen Blick an sich reißt und dürsten läßt, indem sie ihn erquickt. Niemand hier war strahlend schön; man war streng schön oder mild schön oder durchsichtig schön. Da aber alle schön waren und somit der Vergleich, dieser Ursprung jeder Wertordnung, meinen Augen fehlte, so gewöhnten sie sich recht geschwind an all die unbekannte Schönheit. Dazu kam noch die ewige Jugend, oder genauer, die Alterslosigkeit, eine hohe Errungenschaft der vergangenen Zeitalter. Zuerst glaubte ich, in jedem der hier anwesenden Paare das junge Brautpaar, Io-Do und Io-La, entdecken zu müssen. Bald aber wurde ich belehrt, daß Sitte und Brauch, Zeremoniell und geheime Hygiene es den Hochzeitern verboten, sich vor ihrer Vereinigung ohne weiteres unter die Hochzeitsgäste zu mischen, die das Haus belebten. Sie lagen, nahe und doch getrennt, ein jedes auf dem Ruhebett seines Appartements, der Betrachtung, der Träumerei und pfleglicher Fürsorge hingegeben. Die Männer und Frauen, in denen ich die jungen Verlobten gesucht hatte, waren die Eltern und die Großeltern der Braut, und so auch die Eltern und Großeltern der Gegenseite. Die Großeltern schienen um kein Fältchen älter zu sein als die Eltern, und letztere wiederum — ich wüßte nichts Jugendfrischeres zu nennen als diese munteren Eltern. Wenn es einen Altersunterschied gab, so lag er einzig im Blick und in der Einbettung der Augen. Aber um diesen Unterschied zu erspähen, dazu gehörte schon ein längerer Umgang mit dieser Gegenwart, die, während ich dies niederschreibe, wieder zur fernsten Zukunft geworden ist.
Halt! Als ungeübter Berichterstatter hätte ich über der Zergliederung meiner eigenen Eindrücke einen äußerlich wichtigen Umstand beinahe zu reportieren vergessen. Es gab einen Unterschied, und einen sehr auffälligen dazu. Die hier versammelten, zart gestalteten Persönlichkeiten trugen Perücken. Innerhalb des vergangenen Jahrhunderttausends mochte es der Lauf der Natur so gefügt haben, daß den Menschen die Haare ausgegangen waren. Niemand wird behaupten, daß diese geringfügige biologische Veränderung auch nur annähernd mit dem Abgrund sich vergleichen läßt, der zwischen dem Neandertaler Höhlenmenschen und etwa einem Dante Gabriel Rossetti klafft. (Auch jenem mußten ja die Haare aus dem Pelz fallen, ehe er zu diesem wurde.) Den Zeitgenossen freilich, man verstehe mich recht, den Zeitgenossen, denen ich soeben erschien, wuchsen keine Haare am Leibe, und im Gesicht auch nicht. Welche Zeit- und Kraftersparnis für die Männer, die nicht einmal eines mentalen Rasierzeugs benötigten. Wie es um das Kopfhaar stand, weiß ich nicht zu sagen, wenn ich aufrichtig bin, und ich bemühe mich um Aufrichtigkeit. Es war einfach nicht herauszubringen. Die Perücken verhinderten es. Doch auch diese Perücken bestanden keineswegs aus Haaren. Das Haar galt als verächtlich, als atavistisch unappetitlich. Das fühlte ich sofort und litt darunter, daß ich keine Kopfbedeckung aufhatte. Die Perücken waren nur Stilisierungen von Haarfrisuren, aus einer schwach leuchtenden Masse hergestellt, in Gold und Silber. Sie erinnerten an die pathetischen Kopfaufsätze der griechischen Tragöden oder an die surrealistischen Ondulaturen verwegener Schaufensterpuppen aus einer — vom Zeitpunkt meiner Erscheinung aus gesehen — nicht viel näheren Vergangenheit. Dieses Perückenwesen war übrigens, wie ich später in Erfahrung brachte, gesetzlich geregelt. Bis zum hundertzwanzigsten Lebensjahr hatte man das Recht, goldene Perücken zu tragen. Später mußte man sich zum Silber bequemen und bekennen. Die Frauen aber waren noch immer Weib genug, um zwischen Silber und Gold ein geschickt changierendes Spiel zu treiben, wenn das gesetztere Alter, ab hundertzwanzig, dies gebot.
Und da stand ich nun in meinem schäbigen Begräbnisfrack, den Orden eines heimatlich trauten Ländchens an der Brust, das schon zu meinen Lebzeiten bis auf weiteres aufgelassen worden war. Im übrigen hatte meine Erscheinungsform von der ursprünglichen Unsichtbarkeit alle möglichen Stufen der Verdichtung durchlaufen, so daß von Ekdoplasma oder Astralleib nicht mehr die Rede sein konnte. Ich war geistig und leiblich so vollzählig „Ich-Selbst“ geworden, daß ich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, vor Erregung schwitzte. Ich erkannte mich selbst, wenn ich in mich hineinhorchte oder mich mit den Fingern betastete. Meine Zunge stieß wieder an den Goldzahn links oben in der Ecke. Ich merkte, daß B.H. vor Verlegenheit schon grimassierte. Zaghaft — was blieb mir anderes übrig — näherte ich mich also dieser Gesellschaft, die so viel Kulturentwicklung und feine Manier mir voraushatte, um ihr gewünschtermaßen zu „erscheinen“, ein Beinahe-Höhlenmensch in schlechter Kondition, nämlich rundlich, schwitzend und steifbehemdet. Alle lächelten erfreut, als die Stimme meines Schulkameraden B.H. erscholl, unter der zeremoniellen Heiterkeit den Triumph nicht verhehlend:
„Ich erlaube mir, den Herrschaften unsern werten Gast F.W. aus den Anfängen der Menschheit gebührend vorzustellen.“
Nach diesen Worten wandte sich zu mir und verbeugte sich der älteste Mann der Versammlung, welcher Superlativ nichts besagen will, da er hätte auch der jüngste sein können. Während der sich nun entwickelnden geselligen Zusammenkunft lernte ich in ihm den sogenannten „Wortführer“ kennen. In mittleren Menagen, so erfuhr ich später von B.H., war der „Wortführer“ und der „Hausweise“ ein und dieselbe Person. In diesem bedeutenden Hause hier aber gab es neben dem Wortführer und dem Hausweisen auch noch eine Figur, die der „Beständige Gast“ gerufen wurde. Diese männlichen Chargen wurden dem Arsenal der Junggesellenschaft entnommen, das sich aus Gründen der schon erwähnten Ehestrenge überall gebildet hatte. Die Junggesellen „lebten mit“, wodurch ein soziales Problem auf glatte Art gelöst war.
„Seien Sie uns willkommen in dieser bescheidenen Gegenwart, Seigneur“, begrüßte mich der Wortführer. Er ließ diese barocke Vokabel, „Seigneur“, auf der Zunge zerrinnen. Man schien sich auf „Seigneur“ geeinigt zu haben, um mir nicht nur Ehre zu geben, sondern auch eine trauliche Brücke der Anrede zu bauen zu meinem eigenen Zeitalter hinüber, eine Anrede, die meinen Ohren schmeicheln sollte. Der Gute stellte sich aus der Entfernung eines ganzen Jahrhunderttausends vor, daß die Leute in den Anfängen der Menschheit, das heißt ungefähr vom Neandertaler über Nebukadnezar bis zu Mussolini mit den „Seigneurs“ nur so um sich geworfen hätten. Er genoß jedenfalls den Stolz des Altphilologen, der endlich Gelegenheit findet, eine überaus tote Sprache, sagen wir, das Sumerische, im praktischen Dialog mit einem Alt-Sumerer leichthin anzuwenden.
Ich habe übrigens durchaus keinen Grund, mich über diesen schönen Ältesten und Wortführer lustig zu machen, denn flugs unterlief mir ein peinlicher faux pas. Ich näherte mich nämlich diesem Ältesten und reichte ihm mit einem ungenauen Dankgestammel die Hand. Nun aber war die Sitte des Händedrucks schon seit Äonen in Vergessenheit geraten, worüber mich B.H. hätte unbedingt belehren sollen, als ich ihm bei unserer Wiederbegegnung selbst die Hand zu reichen versuchte. Schlimmer als das, körperliche Berührung war in diesem hochsensiblen Zeitalter verpönt, so wie Haar verpönt war. Es entstand also eine kleine erschrockene Verwirrung, als hätte der leichtsinnigerweise heraufbeschworene Urmensch in seiner ungeschlachten Wesensart den Besuch mit einem Mißton eröffnet, dem Kreischen eines Kreidegriffels auf einer Schiefertafel gleich. Das Zehntel einer Sekunde lang schienen alle die Augen zuzupressen. Sofort aber geschah alles, um diesen Verstoß zu vertuschen und ihn vergessen zu machen. Besonders die Damen lächelten aufmunternd durch das Licht hindurch, das ihre lieblichen Gesichter und Gestalten verwischte. Eine der Damen fragte mich, und es war eine Verlegenheitsfrage wie aus den Anfängen der Menschheit:
„Ist das Ihre erste Reise nach California?“
„Nein, Madame“, antwortete ich wahrheitsgemäß, und vor seelischer Anstrengung immer mehr schwitzend. „Ich habe hier vor längerer Zeit ein paar Jahre gelebt.“
„Oh, als Cowboy oder als Goldgräber?“ forschte sie schelmisch und gleichgültig zugleich, wobei sie mit einem eitlen Nachdruck ihr prähistorisches Wissen entblößte.
„Nein, Madame“, sagte ich, „weder als Cowboy noch als Goldgräber, und nicht einmal beim Film, sondern einfach nur als Emigrant . . .“
Ich suchte in den Hosentaschen meines Fracks nach einem Sacktuch und fand endlich eines, das nicht mehr rein war, weil ich es damals vergessen hatte, in die Wäsche zu geben. Ich ballte das Taschentuch in meiner Hand zusammen, damit man es nicht genau sehe, und begann verlegen meine Stirn zu wischen. Dabei ärgerte ich mich, daß die Dame, die einer solchen sonderbaren Erscheinung gewürdigt war, sich weit weniger erregt zeigte, als diese Erscheinung sich selbst fühlte. Sie setzte das Gespräch mit der teilnahmslosen Glätte und Geschicklichkeit einer konversierenden Großherzogin oder Milliardärin fort:
„Finden Sie unser California verändert, Seigneur?“
„Einigermaßen wohl“, hauchte ich, „aber ich will nicht zu schnell urteilen.“
Während dieser kleinen und so unbedeutenden Szene erkannte ich mit all meinen Nerven, daß dieser Leute tiefstes Bestreben dahin ging, jeder Peinlichkeit, jedem Konflikt, jeder Anstrengung, jeder Auseinandersetzung, jeder Entscheidung, jeder ernsten Mühsal aus dem Wege zu gehn. Diese Menschheit hier hatte im Gegensatz zu der unsrigen von damals im Laufe unzähliger Generationen eine Ordnung geschaffen, eine Art und Weise des Lebens, in der alle Widerstände gegen das Schöne, Gefällige, Angenehme, Schmeichelnde gebrochen zu sein schienen. Die Öde draußen und oben, jenseits ihres Hauses, ihres traulichen Lichtes, fühlten sie nicht. Sie wußten nichts mehr von grünen Bäumen und grünem Gras. Ihr Gras war eisengrau. Dabei konnte ich noch gar nicht wissen, wie sehr sie um ihre holde Konvention des Angenehmen und Bequemen bangten, die sie nicht billig, sondern durch schwere Resignationen erkauft hatten, wie es das Rezept jeder Kultur fordert.
Hilfesuchend sah ich mich nach B.H. um.
Eine Flügeltür öffnete sich.