Читать книгу Ins Nirgendwo, bitte! - Franziska Consolati - Страница 10

2. KAPITEL

Оглавление

EIN PROBEMARSCHAN DER ISAR

Es hat 34 Grad im Schatten, als wir uns entscheiden, unsere Rucksäcke so schwer wie möglich zu packen und damit an der Isar entlangzustapfen. 20 Kilometer hoch, dann wieder 20 Kilometer runter. Dieser Sommer stellt täglich neue Hitzerekorde auf, und an manchen Stellen in der Stadt, da, wo die Straßen besonders eng und die Häuser umso dichter gebaut sind, steht die Luft regelrecht. Die Hitze schlägt mir wie ein Brett gegen die Stirn, als ich mit meinem Fahrrad den Giesinger Berg hinunterrolle, um die letzten Dinge für diesen Probemarsch zu besorgen. Diese Strecke bin ich in den vergangenen sechs Wochen gefühlt täglich hin und her gefahren. Wohnung – Outdoorladen – Wohnung – Outdoorladen – Wohnung – Outdoorladen – Wohnung. Dort verbringen Felix und ich gerade die meiste Zeit, die Verkäufer sehen wir öfter als unsere Freunde. Vermutlich finanzieren wir mit dem Kauf der neuen Ausrüstung auch deren nächste Reise.

Immer wenn ich unser Vorhaben beschreibe, merke ich, dass es nicht nur sperrig klingt, sondern sich auch niemand wirklich etwas darunter vorstellen kann. Das geht los bei manchen der enthusiastischen Verkäufer im Outdoorladen und weiter mit anderen Kunden, die nebenan am Regal stehen und ab bestimmten Stichworten heimlich lauschen.

»Das bedeutet, dass wir zu zweit und völlig auf uns alleine gestellt durch den Westen der Mongolei laufen werden. Mit allem, was wir zum Überleben brauchen, und so, dass wir abends völlig unabhängig unser Zelt aufschlagen und Essen zubereiten können.«

Während ich diesen langen Satz mittlerweile wie im Schlaf herunterbete, werden die Augen meiner Zuhörer von Wort zu Wort größer. Gut. Dann haben sie endlich genau verstanden, was es mit unserer »Selbstversorger-Tour fernab der Zivilisation« auf sich hat. Gleichzeitig sehe ich förmlich die Fragen, die sich in ihren Köpfen formen. Bevor sie damit loslegen können, füge ich am Ende meistens noch an: »Wir wissen nicht, wie oft wir auf andere Menschen treffen werden.«

Spätestens dann verschlägt es ihnen die Sprache. Fast.

»Aber wie findet ihr denn eure Wege?«

»Aber wie wisst ihr denn, ob ihr genug zu essen dabei habt?«

»Aber wie versorgt ihr euch denn, wenn einer krank wird?«

»Aber – warum macht ihr das überhaupt?«

Die Sache ist: Viele von all den Fragen, die uns immer wieder gestellt werden, können auch wir nicht mit Sicherheit beantworten – weil eben auch wir auf unseren bisherigen Reisen noch nichts Vergleichbares unternommen haben. Vielmehr waren es während dieser Reisen ab und an ein paar wenige Tage am Stück, an denen wir mit unseren Rucksäcken Etappe für Etappe irgendwo hingelaufen sind. Spätestens an jedem zweiten Abend waren eine Hütte oder sogar eine Ortschaft das Tagesziel – nicht vergleichbar mit dem, was wir uns für die Mongolei vornehmen. Dementsprechend spärlich fallen unsere fundierten Antworten aus und auch unsere Ausstattung an Camping-Equipment.

Drei Wochen vor Abflug in die Mongolei haben wir noch kein Zelt, das Orkanböen und Hagelschauern trotzt. Keine Regensachen, die mindestens genauso dicht halten. Keine Schlafsäcke, die uns auch in den kältesten Nächten vor dem Erfrieren schützen. Und keinen Kocher, auf dem wir uns einmal am Tag eine warme Mahlzeit zubereiten können.

Das Essen ist der andere große Punkt, wegen dem wir immer wieder fragend im Outdoorladen stehen. Den Weg zu dem Regal, das zwischen all den anderen am meisten überzuquellen scheint, könnte ich mittlerweile wahrscheinlich auch blind laufen: Nach dem Haupteingang immer links halten, an den Rucksäcken und Taschen vorbei, dahinter stehen Campinggeschirr, Töpfe, Trinkflaschen und Kocher aufgereiht über die ganze Breite des Raums nebeneinander. Danach kommen GPS-Geräte und Stirnlampen – und dann schließlich, im Eck hinten links, das völlig überfüllte Regal mit Nahrungsmitteln: Energiemüsli aus sieben verschiedenen Kornarten reiht sich an Kalorienriegel in 15 verschiedenen Geschmacksrichtungen. Daneben: Linsen- und andere Eintöpfe sowie Mini-Portionen Spaghetti Bolognese und Penne Carbonara. Alles wenig appetitlich in Pulverform, versteht sich. Nebenan kommen die Fächer mit Abendessen, und die Auswahl an Gerichten ist größer als die Speisekarte eines durchschnittlichen Restaurants. Es gibt sogar Thai-Curry mit Hühnchen und indisches Tikka Masala. Als ich mir ein Päckchen näher anschauen will und es aus dem Regal ziehe, fallen mir auch alle von ringsum entgegen. Auf dem Boden stehe ich in den letzten Bröseln von irgendeinem Pulver-Abendessen, das offenbar zuvor schon jemandem runtergefallen ist. Als wäre die Auswahl noch nicht groß genug, baumeln weitere Riegel und Suppentüten an Schnüren vor unseren Nasen rum.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu denken und zu schauen, und komme zu dem Entschluss: Kalkulieren und Kalorien-Rechnen muss einem Spaß machen. Ansonsten geht niemand glücklich aus diesem Laden.

Es bedarf einige Ansätze, um das Ergebnis für diese Aufgabe auszuklügeln: Wie viel Essen für drei Mahlzeiten täglich muss man mitnehmen, damit zwei Personen abends nach einem Tag zu Fuß durch die Wildnis satt in die Schlafsäcke fallen? Man kalkuliere mit ein, dass man ungefähr einmal die Woche die Möglichkeit haben wird, den Bestand wieder aufzustocken.

Dieses erste Ergebnis pro Wandertag rechne man dann auf ungefähr fünf Wochen hoch und addiere ein paar Reservemahlzeiten. Reicht es, für die Reservemahlzeiten einfach aufzurunden?

Schließlich folgt eine zweite, dritte, vierte und fünfte Kontrolle: Stimmt das Ergebnis? Stimmt es wirklich?

Und dann eine allerletzte: Können wir das alles überhaupt schleppen?

Wenn die Antwort »Ja« ist und man auf eine voraussichtlich nicht ganz falsche Ration an Nahrungsmitteln gekommen ist, steht man eben vor diesem riesigen Regal und kann sich nicht entscheiden.

Der eine Kalorienriegel ist zwar nahrhafter, wiegt aber deutlich mehr als der andere. Im einen ist Schokolade, die früher oder später im Rucksack schmelzen wird. Und beim Thema gefriergetrocknete Astronautennahrung blicken wir sowieso kaum durch. Wie können 200 Gramm Pulver zwei Personen sättigen? Das Paar auf den Verpackungen täuscht eine unglaubwürdige Lagerfeuerromantik vor und hat mehrere Töpfe vor sich stehen. Ich kaufe ihnen ihr Strahlelächeln beim Blick auf die Teller nicht wirklich ab.

Zu all diesen Fragen kommen zwei weitere Themen, die uns schlaflose Nächte bescheren.

Da ist zum einen das Klima. In den Breitengraden im Westen der Mongolei schwanken die Temperaturen im Spätsommer nicht selten zwischen 0 und 27 Grad Celsius. Während die Sonne genug Kraft hat, um die Luft tagsüber aufzuheizen, wird es sehr schnell sehr kalt, sobald sie untergegangen ist. Dann macht sich die durchschnittliche Höhe von 1.600 Metern über dem Meeresspiegel bemerkbar: Die Luft kühlt ab, der Wind frischt auf. Nachts müssen wir uns auf Temperaturen um den Gefrierpunkt einstellen, und das nicht gerade selten. In diesen Tagen googeln wir immer wieder verschiedene Wetterseiten und lassen uns die Vorhersage für Chowd anzeigen. Gestern oder vorgestern war es, da stand neben einer kleinen, grauen Flocke: Schneegestöber, −7 Grad.

Das andere Problem: Der Mongolei fehlt es an Kleinigkeiten, die in anderen Ländern völlig selbstverständlich sind. Zum Beispiel Gaskartuschen, mit denen ein Campingkocher funktioniert. Und Zapfsäulen mit Benzin, die eine Alternative zu den Gastkartuschen wären. Was ist die Alternative der Alternative?

Das Durcheinander in unseren Köpfen ist endlos, und fast jedes Mal, wenn ich davon erzähle, fällt mir ein neuer Punkt ein, um den wir uns noch kümmern müssen. Es ist ein Chaos auf dreieinhalb handgeschriebenen DIN-A4-Seiten. Unter dem Punkt »Alternative zu Benzinkocher?« steht zum Beispiel Folgendes:

»Solar-Ladegerät für GPS-Batterien?«

Hintergrund: Diese winzige Solarzelle lädt sich mit jedem Sonnenstrahl auf. Mit verschiedenen Adaptern lassen sich anschließend zum Beispiel die Batterien für unser GPS-Gerät oder die Stirnlampen laden. Aber: Lohnen sich diese 300 Gramm Gewicht überhaupt, wenn die Sonne vielleicht oft nicht scheinen wird?

»Tollwut-Impfung?«

Hintergrund: Vor allem in kleineren Orten leben viele Straßenhunde, heißt es in Foren. Außerdem gebe es Steppenfüchse und Fledermäuse, die Tollwut übertragen können. Eventuell. Denn auch den Tropenarzt mit den weißen Haaren und den winzigen kreisrunden Brillengläsern, die kaum größer sind als seine Augen, lässt die Mongolei etwas ratlos auf seinem Drehstuhl sitzen. Obwohl er auf diesem Stuhl bestimmt schon 30 Jahre lang Wissen gesammelt hat.

»Risiko ist da«, sagt er und blättert einige Seiten in einem dicken Wälzer um.

»Mehr steht da nicht.«

Knappe Informationen, knappe Antwort.

Die Liste ist endlos und die letzten Wochen waren voller Fragen. Antworten kamen selten hinzu. Trotzdem streichen wir auf den dreieinhalb DIN-A-4-Seiten immer mehr Zeilen durch. Vor allem wegen Entscheidungen, die wir nicht mehr länger aufschieben konnten. Die helfen uns immerhin, um ein paar der Baustellen gedanklich abzuhaken.

Entscheidung getroffen = Sorge weniger.

Das trifft auf den Punkt »Solar-Ladegerät?« zu (nein), auf die Tollwut-Impfung (ja), auf unser neues Zelt, die warmen Schlafsäcke und einen der wenigen Camping-Kocher auf dem Markt, die nicht nur mit Benzin oder Diesel, sondern auch mit jedem anderen Fusel kochen können, der irgendeinen Brennstoff in sich hat. Es fühlt sich gut an, die lange Liste an Aufgaben, Besorgungen und Entscheidungen nach und nach schrumpfen zu sehen. Das handgeschriebene Chaos lichtet sich – wenn auch sehr langsam –, und neben unsere Rucksäcke stellen wir nun immer mehr Dinge, aus denen wir unser Überlebenspaket für die Mongolei schnüren werden.

Mittlerweile mussten wir damit in Felix’ größeres WG-Zimmer umziehen, weil meine 13 Quadratmeter nicht mehr ausgereicht haben. Auch das stimmt mich nachdenklich: Wenn die Sachen nicht in mein Zimmer passen, wie soll ich sie dann mit meinen 1,67 Metern Körpergröße durch die mongolische Wildnis tragen? Die Antwort kann mir nur Erfahrung liefern. Und weil wir keine Chance haben werden, unsere Fehler später noch zu korrigieren, fassen wir an diesem Donnerstag, an dem mir bei 34 Grad im Schatten der heiße Fahrtwind wie ein Brett gegen die Stirn schlägt, den Entschluss zu unserem Probemarsch an der Isar. Der soll unsere Generalprobe für den Alltag in der Mongolei sein. Zwei Wochen, bevor der Flieger nach Ulan-Bator mit uns an Bord abheben wird.

Wir haben große Erwartungen. Nämlich die, dass uns diese Generalprobe alle Sorgen nehmen und uns gleichzeitig die nötige Bestätigung liefern wird, um guten Gewissens ins Flugzeug zu steigen. Gleich morgen früh wollen wir loslaufen und unser Zelt abends bei einem Bauern auf dem Feld nicht weit vom Flussbett aufschlagen. Nach einem Probeabendessen, einer Probenacht und einem Probefrühstück wollen wir zurücklaufen. Glücklich, versteht sich.

An diesem nächsten Morgen bin ich aufgeregt. Bevor wir zu unserem Startpunkt aufbrechen, bereiten wir uns gut vor. Wir gehen schließlich davon aus, dass wir auch in der Mongolei gut vorbereitet sein werden, und wollen dieselbe Ausgangslage für einen erfolgreichen Probemarsch schaffen. Wir legen den Startpunkt auf eine Stelle nördlich von München, wo auf dem Weg die Isar entlang weniger Menschen unterwegs sein werden als es im und um das Zentrum der Fall ist. An so einem heißen, wolkenlosen Sommertag gleicht das Ufer dort dem Badestrand in Rimini.

Wir nehmen all die Dinge mit, auf die wir uns auch in der Mongolei zu einhundert Prozent verlassen können müssen: Wanderschuhe, Zelt, Schlafsack, Kocher, Geschirr und Tropfen, die Flusswasser in Trinkwasser verwandeln. Und dann noch ein paar Dinge, die extra Gewicht schaffen: Nudeln, Müsli und Reis in Mengen, wie wir sie in der Mongolei zwar auf keinen Fall dabei haben werden, die aber als Übungsmaterial die Rucksäcke schwerer machen sollen. Die Rucksäcke wiegen jetzt etwa 17 und 22 Kilo. Insgesamt wollen wir damit während unseres Probemarschs rund 40 Kilometer laufen, so haben wir auf unserem GPS-Gerät auch die Strecke in der Mongolei eingeteilt. Mehr wollen wir uns nicht vornehmen, um realistisch zu bleiben.

Und dann laufen wir los. Wir setzen die ersten kleinen Schritte. Ich konzentriere mich und versuche, jedes kleinste Signal wahrzunehmen, das mir mein Körper in diesen Momenten sendet. Mit einem Rucksack, der halb so groß ist wie ich selbst und ungefähr ein Drittel von meinem eigenen Körpergewicht wiegt, lange Strecken am Tag zu laufen, ist natürlich eine Belastung für Knie, Hüfte und Rücken. Und wahrscheinlich für viele andere Gelenke und Knochen. Bei diesen ersten Schritten höre ich deswegen, so gut ich kann, in mich rein – vielleicht zu sehr, denn schon beginnt es an verschiedenen Stellen, zu zwicken. Es fühlt sich an, als würde mich jemand hinten am Rucksack festhalten und in Richtung Boden ziehen. Ich lehne mich mit meinem Oberkörper dagegen und stütze mich auf meine Wanderstöcke, um das schlecht gepackte Gewicht auf meinem Rücken auszubalancieren. Dabei bin so mit meiner eigenen kleinen Welt beschäftigt, dass ich jedes Zeitgefühl verliere. Mir fällt auf, dass Felix genauso still neben mir läuft und wir uns gegenseitig nicht mehr beachtet haben, seit wir am Parkplatz losgegangen sind. Wie lange sind wir schon unterwegs? Wie viel der Strecke haben wir schon geschafft? Als würden wir in diesem Moment beide dasselbe denken, bleiben wir gleichzeitig stehen und schauen uns an. Felix blickt auf die Uhrzeit, die unser GPS-Gerät anzeigt – natürlich haben wir auch das mit an die Isar genommen –, und wirft mir einen entsetzten Blick zu. Wir sind gerade einmal zehn Minuten unterwegs und haben 500 Meter hinter uns gebracht.

500 Meter in zehn Minuten!

Bisher wusste ich nicht, dass es möglich ist, sich so langsam fortzubewegen, ohne zur Seite umzufallen. Wir haben uns gefühlt wie Abenteurer auf ihren ersten Schritten – mit den riesigen Rucksäcken, dem Gewicht auf unseren Schultern, der Hitze im Nacken, den Insekten, die gerade wie in tropischen Ländern auch tagsüber zirpen, und dem Überlebens-Equipment. Für alle anderen haben wir aber wahrscheinlich ganz anders ausgesehen: nämlich sehr langsam, fast schleichend, und gebückt vom Gewicht auf unseren Rücken. Diese Vorstellung ist so absurd, dass ich nicht anders kann, als laut loszulachen. Felix und ich schauen uns an, schütteln die Köpfe. Und endlich fangen wir an, das Ganze für einen Moment mit Humor zu nehmen. Wir lachen darüber, wie viel Druck wir uns doch selbst machen und wie verbissen wir versuchen, unseren Vorstellungen von taffen und zähen Wanderern zu entsprechen. Für kurze Zeit haben wir die Hoffnung, dass nichts schiefgehen kann, wenn wir der Sache nur entspannt gegenüber stehen. Nur nicht zu viel denken! Doch das funktioniert nicht lange.

Auch auf dem nächsten Streckenabschnitt reden wir kaum miteinander, sind komplett mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt. Still stapfen wir vor uns hin und trauen uns kaum, auf den Entfernungsmesser auf dem GPS zu schauen. Dann tun wir es doch. Und mit den 3,4 Kilometern, die in der Sonne auf dem Display kaum zu erkennen sind, bröckelt unsere Euphorie. Das unbeschwerte Gefühl, das wir für drei Kilometer hatten, verpufft, und alle Sorgen kommen zurück. 3,4 Kilometer, die schon jetzt den Rucksack auf meinen Hüften scheuern lassen. Mindestens das Doppelte müsste es sein, so fühle ich mich. Ich will gar nichts dazu sagen, sondern die Zähne zusammenbeißen und einfach weiterlaufen. Felix aber bleibt stehen. Weil es so nicht funktionieren wird. Wenn wir schon jetzt die Zähne zusammenbeißen müssen, auf einem knapp fünf Meter breiten und gut präparierten Kiesweg ohne einen einzigen Meter an Steigung oder Gefälle, werden wir in der Mongolei nach ein paar Tagen vor unserem Zelt sitzen und nicht weiterkönnen.

»Was glauben wir eigentlich?« Felix schaut mich mit schmalen Augen an und rammt seine Wanderstöcke in den Boden. »Dass wir uns die Rucksäcke überwerfen und pfeifend und singend losmarschieren?«

Er ist sauer. Auf sich. Auf mich. Weil bis jetzt niemand von uns beiden klug genug war, um die Situation und unser Vorhaben besser einzuschätzen. Ich weiß, dass er recht hat, will ihm aber trotzdem widersprechen, weil das sonst bedeutet, dass wir unsere Route, über der wir so lange gebrütet haben, wieder umplanen müssen. Mit dem schweren Gepäck, all dem Essen, das wir tragen müssen, ist es unrealistisch, sich für jeden Tag 20 Kilometer oder mehr vorzunehmen. Dort wird es ja noch nicht einmal feste Wege geben. Unsere Sorgen vom ersten Morgen auf dem Bett in meinem WG-Zimmer sind gerechtfertigt. Wir waren zu überheblich und kommen uns blöd vor, wie wir hier stehen. An der Isar, schwitzend, mit roten Köpfen und der Erwartung, der Probemarsch würde uns alle Sorgen nehmen. Schließlich sind wir Wandern doch mehr als gewohnt – fast jedes Wochenende zieht es uns in die Berge, nicht selten auf 3.000 Meter Höhe. Stattdessen lehrt uns dieser Moment aufs Neue, dass diese Reise nicht mit allen anderen vergleichbar ist, die wir vorher unternommen haben. Auf die haben wir uns so gut wie gar nicht vorbereitet, weil es nie nötig war. Natürlich ist das dieses Mal anders. Wir dachten wohl, allein die Tatsache, dass wir uns vorbereiten, würde schon ausreichen. Das »Wie« spielt aber eine mindestens genauso große Rolle.

Wir fluchen, schimpfen über uns selbst, fassen uns an die Köpfe und sind dann plötzlich unendlich froh, dass wir es immerhin jetzt merken. Zwei Wochen vor Abflug – ob das früh oder spät ist, ist Auslegungssache. Immerhin kommt uns diese Erkenntnis an der Isar und nicht dem mongolischen Fluss, dem noch nicht einmal irgendwer einen Namen gegeben hat.

Wir atmen tief durch und ändern auch den Plan, den wir uns für den Probemarsch überlegt haben. Weitere 17 Kilometer wollen wir auf keinen Fall mehr laufen. Ehrlich gesagt, hätten wir auch nichts davon, weil die Strecke plötzlich sowieso nicht mehr realistisch scheint. Wir marschieren so lange weiter, bis wir eine schöne Wiese gefunden haben, auf der wir unser Zelt aufschlagen dürfen. Das ist der neue Plan. Trotzdem wollen wir darauf achten, dass wir mindestens zehn Kilometer schaffen und am nächsten Tag diese Strecke wieder zurückgehen. In der Mongolei werden es nach der neuen Planung mindestens 15 Kilometer pro Tag sein müssen. Besser ist es deswegen, schon jetzt zu merken, wo der Schuh drückt.

Ich lasse meinen Rucksack ins hohe Gras fallen und mich daneben. Auf unserem GPS stehen elf Kilometer, die wir gelaufen sind. Ich dachte, die Zahl über zehn würde nie erscheinen. Hätte ich die Wahl, würde ich genauso sitzen bleiben – an den Rucksack gelehnt, die Beine ausgestreckt, die Arme hängen ohne jede Spannung einfach nach unten, die nassen Stellen auf meinem T-Shirt lassen genau erkennen, wo welcher Riemen des Rucksacks saß. Ganz ehrlich? Ich bin fix und fertig. Zum Ausruhen ist es aber noch zu früh. Wir friemeln das Zelt mit all seinen Leinen auseinander und schlagen es auf. Wir pusten beide Luftmatratzen auf und die Kissen. Wir verstauen unser Gepäck im Vorzelt, ein für uns wichtiges Extra. Das Vorzelt werden wir in der Mongolei brauchen, um bei Regen und Sturm kochen zu können und das Gepäck und Equipment einigermaßen trocken zu halten.

Danach geht’s endlich ans Abendessen. Wir haben Spaghetti dabei und Soßenpulver und natürlich unseren Campingkocher. Wir haben einen halben Liter Benzin in die passende Brennstoffflasche gefüllt und für dieses Mal ausnahmsweise die Bedienungsanleitung dazu gepackt, die knapp zwei Zentimeter dick, handtellergroß und winzig klein geschrieben ist. In der Theorie scheint aber alles ganz einfach: Aufsatz auf die Benzinflasche schrauben und mit dem Kocher verbinden, Benzinflasche hinlegen und unter Druck setzten. Ungefähr 40-mal pumpen und mit dem Brennstoff den Adapterschlauch füllen. Ventil auf, kurz vorheizen, Ventil zu, kurz warten, Ventil auf, Streichholz ran. Topf drauf, Nudeln kochen, essen.

So weit, so gut – eine Viertelstunde später treibt mich die Praxis zur Verzweiflung. Ich lese nach.

»Mit der Zeit gewinnt man ein Gefühl dafür. Gehen Sie vorsichtig vor, während Sie sich mit dem Kocher vertraut machen.«

Was hatte der Verkäufer im Laden noch gesagt? »So ein Benzinkocher ist nicht ganz unkompliziert. Vorheizen ist wichtig, aber das kriegt ihr schon raus.«

Kriegen wir nicht. Und das Schlimmste neben dem Hunger: Weder ich noch Felix wissen, was wir falsch machen. Die Flamme im Kocher flackert höchstens kurz auf, bevor sie dann wieder ganz ausbleibt. Egal wie oft wir in der Bedienungsanleitung nachlesen und selbst rumprobieren: Wir kriegen den Kocher nicht zum Kochen. Die Nudeln bleiben also hart, und das Einzige, was wir als Alternative zum Essen dabei haben – auch hier wollten wir den Probemarsch möglichst realistisch gestalten – sind Haferflocken. Trocken, eingeweicht in kaltes Isarwasser.

»Warum muss alles so scheiße laufen?«

Es ist zu viel Mist passiert, als dass ich die Fassung bewahren könnte.

»Jetzt sitzen wir hier, sind völlig fertig und sogar zu blöd, den Kocher anzuschmeißen.«

Felix sagt gar nichts. Wahrscheinlich weiß er gerade selbst nicht weiter. Das passiert nicht oft, aber ich habe keine Lust, ihn drauf anzusprechen.

Es ist, als sollte uns dieser einzige Marsch die Isar entlang alles auf einmal vor Augen führen, was auch in der Mongolei schiefgehen kann: Wir legen die Strecke falsch, überschätzen uns. Wir haben kaum was zu essen, weil der Kocher nicht funktioniert. Und als wäre das noch nicht genug, liege ich die ganze Nacht mit Bauchkrämpfen im Zelt. Ich weiß nicht, was los ist, und habe in dieser Nacht viel zu viel Zeit zum Nachdenken. So elendig, wie ich mich gerade fühle, wünsche ich mich in ein richtiges Bett. Hauptsache, raus aus dem blöden Zelt. Raus aus dieser schwülen Luft, die nach Plastik riecht. Weg von dieser Wiese, deren Feuchtigkeit die Zeltwände hochkriecht. Dasselbe machen auch die Nacktschnecken. Das Wissen, dass ich von meinem Bett und der Toilette gar nicht so weit weg bin, macht alles nur noch schlimmer. Denn bald werde ich davon etwa 6.000 Kilometer Luftlinie entfernt sein, und es wird sich anfühlen wie eine Unendlichkeit. Jetzt könnte ich sogar noch jemanden anrufen und bitten, mich an der nächsten Straße einzusammeln. Auch das wird in der Mongolei nicht möglich sein.

Ich drehe mich zu Felix rüber, der ruhig schläft. Zum Glück bekommt er nicht mit, wie ich hier liege und grüble. Zum Glück kann er meine Gedanken in diesem Moment nicht lesen. Ich versuche, diesen einen Gedanken immer wieder beiseitezuschieben, mit dem nächsten Krampf im Bauch schaffe ich es aber nicht mehr: Ich fühle mich schlecht und wünschte, wir hätten nie beschlossen, durch die Mongolei zu laufen. Mir wächst das alles über den Kopf, und ich habe Angst, dass unser Vorhaben viel zu groß für uns ist.

Ich will diese Reise nicht mehr.

Diese Erkenntnis bringt mich in dieser Nacht fast um den Verstand. Weil es dafür längst zu spät ist. Weil es kein Zurück mehr gibt. Weil wir dort sein müssen, um dann den Flug von Ulan-Bator nach Sydney zu nehmen. Weil ich so sehr ein Abenteuer erleben möchte. Weil ich mich auf keinen Fall traue, diesen Gedanken mit Felix zu teilen. Ich will nicht, dass es ihm zu schaffen macht. Und insgeheim habe ich Angst, dass ich damit auch ihm die Motivation nehmen würde. Wenn einem die Kraft fehlt, muss der andere doppelt stark sein.

Mit dem Sonnenaufgang am nächsten Morgen sind die Bauchkrämpfe vorbei. Die eingeweichten Haferflocken kriege ich trotzdem nicht runter. Ich bin kaputt von all den Gedanken in der Nacht und weiß nicht, wie ich heute elf Kilometer mit 17 Kilo auf meinem Rücken laufen soll. Wieder hat es 34 Grad im Schatten, und ich fühle mich so schwach, dass ich kaum das Zelt in die kleine Tasche stopfen kann. Liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich seit gestern Morgen kaum was gegessen habe.

»Nimmst du mir bitte was von meinem Gepäck ab?«

Die Frage kostet mich Überwindung. Natürlich weiß Felix von den Bauchschmerzen in der Nacht. Nicht aber davon, dass ich diese Reise nicht mehr machen möchte. Wieder und wieder schießt mir dieser Gedanke auf dem Rückweg durch den Kopf, und ich kann mir kaum vorstellen, dass Felix davon nichts mitbekommt. Er müsste doch zumindest merken, dass etwas los ist. So gut kennen wir uns definitiv. Vielleicht will er es ja auch nicht merken.

Zu allem Überfluss werden wir auf dem Rückweg mehrmals auf unser Vorhaben angesprochen.

»Oh, wo wollt ihr denn hin, so schwer bepackt?«

Wir halten an und stehen zwei älteren Damen gegenüber, die den Samstagvormittag für ihre regelmäßige Walking-Einheit nutzen. Zwei Wanderer mit so großen Rucksäcken treffen sie dabei wohl eher selten an der Isar.

»Lauft ihr zwei damit etwa durch ganz Deutschland? Wie lange seid ihr denn unterwegs?«

»Nein, nicht durch ganz Deutschland. Genau genommen kommen wir aus München und laufen heute auch nur dahin zurück. In zwei Wochen laufen wir aber durch den Westen der Mongolei.«

»Oh, die Mongolei! Das ist ja … Das ist ja in der Nähe von … Das ist ja ganz schön weit weg.«

Wir nicken. Felix erklärt den beiden kurz ein bisschen mehr, ich bin froh über die Pause und stütze mich auf die Wanderstöcke. Nach vielen Fragen sagt Felix dann, dass wir nun wirklich weitermüssten, und die zwei Damen hoffen, dass ihre Enkel nie auf so eine Idee kommen werden. Weil es Samstag ist und der Weg die Isar entlang beliebt bei allen Sportlern und Hundebesitzern, wiederholt sich das Gespräch so ähnlich noch ein paarmal. Immer mit dem Ende, wie spannend unser Vorhaben ja sei, dass unsere Gesprächspartner das aber eher nicht machen wollten. Dito. Ich ja auch nicht mehr.

Zusätzlich zu den Gesprächen müssen wir immer wieder Pausen einlegen. Ich kann kaum mehr verbergen, wie unfit ich heute bin und wie schlecht ich mich fühle. Während sich Felix kurz in der Isar abkühlt, liege ich am Ufer und zähle die Kilometer bis zum Parkplatz. Noch fünf. Kommt mir vor wie ein Marathon.

Dann sind es noch drei, und Felix muss mir mehr von meinem Gepäck abnehmen. Bevor wir weitergehen, dreht sich Felix noch einmal zu mir und hält mich an den Schultern.

»Keine Sorge. Ich weiß, dass du das normalerweise alles alleine schaffst. Deswegen ist es in Ordnung, wenn du mal nicht so kannst.«

Als wir es schließlich zum Auto geschafft haben – zwischendurch war ich mir nicht ganz sicher, ob ich das noch hinbekommen würde – falle ich in den Beifahrersitz und döse weg. Wir sind immer noch auf der Autobahn, als ich wieder wach werde: Meine Magenprobleme sind zurück und damit die Sorge, dass ich unserem Vorhaben nicht gewachsen bin. Wenn ich es noch nicht einmal an der Isar hinbekomme! Wenn schon hier mein Körper schlappmacht und wir es nicht schaffen, den Kocher anzuschmeißen.

Ich bin erleichtert, als sich ein paar Stunden später wenigstens diese Sorge auflöst: Dem Verkäufer im Outdoorladen schildern wir das Problem, das wir an der Isar hatten. Ich drücke ihm den Kocher samt Benzinflasche in die Hand. Und obwohl ich mich dabei nicht blöder fühlen könnte, bitte ich ihn, mir draußen einmal kurz mit allen Einzelheiten vorzumachen, wie wir den Kocher anbekommen.

Sein Versuch endet mit derselben Ratlosigkeit wie unserer am Abend zuvor. Sein Kollege kommt hinzu, wieder dasselbe Spiel: Benzin pumpen, Ventil auf, Streichholz ran. Nichts. Dann die Erkenntnis: Die winzige Reinigungsnadel im Benzinschacht, die mit einem Magnet hoch und runter gestoßen werden kann und so Brennstoffreste löst, ist verbogen. Und zwar so, dass durch den schmalen Schacht gar nicht genug Benzin fließen kann. Wir hätten an der Isar also bis in alle Ewigkeit versuchen können, was wir wollten – mit der verbogenen Nadel war es unmöglich, eine Flamme zu entzünden.

»Das ist bei einem neuen Kocher aber noch nie passiert«, versichert uns der Verkäufer.

Mir ist das gerade egal. Selbst wenn das stimmt – musste es ausgerechnet bei unserem Probemarsch das erste Mal sein?

Schlechter hätte diese Generalprobe nicht laufen können: Wir haben uns mit unserer Streckenplanung völlig verschätzt. Einer der aller wichtigsten Ausrüstungsgegenstände hat uns im Stich gelassen. Bei mir ist ausgerechnet an jenem Abend eine Magen-Darm-Grippe ausgebrochen – die hat später mein Hausarzt diagnostiziert. Immerhin bedeutet das, dass ich nicht ohne Grund schlappgemacht habe, auch wenn ich so was zum letzten Mal in der sechsten Klasse hatte. Aber das Schlimmste an diesem Probemarsch: Ich war mir einige zermürbende Stunden lang so sicher, dass diese Reise eine wahnsinnig blöde Idee ist. Auf dieser Generalprobe war wirklich schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte.

Der Verkäufer im Outdoorladen packt unseren Kocher zurück in den Karton und klebt ein rot eingerahmtes Etikett auf den Deckel: »DEFEKT! Bitte an den Hersteller zurückschicken.«

Bevor ich das neue, originalverpackte Modell mit nach Hause nehme, will ich dieses Mal auf Nummer sicher gehen.

»Es dauert ja keine fünf Minuten: Können wir kurz ausprobieren, ob der neue Kocher auch wirklich funktioniert?«

So ganz kann der Verkäufer mein Misstrauen wohl nicht nachvollziehen.

»Aber es ist vorher ehrlich noch nie passiert, dass der Kocher schon vor der ersten Benutzung kaputt war.«

Sein Ernst? Natürlich lasse ich mich darauf nicht ein. Wir probieren den Kocher aus. Nehmen die Reinigungsnadel buchstäblich unter die Lupe. Dieses Mal funktioniert alles.

Im Nachhinein ist es genau diese Ironie, die mich wieder zuversichtlich stimmt. Dass unser Probemarsch derart in die Hose gegangen ist, das kann doch eigentlich nur eines bedeuten: dass es nicht noch ein zweites Mal passieren wird. Ich kann sogar den starken Wunsch, nicht in dieses Flugzeug nach Ulan-Bator zu steigen, beiseiteschieben. Trotzdem muss ich dringend meine Gedanken ordnen und mir alles von der Seele reden, was in den letzten 48 Stunden schiefgelaufen ist. Und zwar nicht bei Felix, denn der war ja dabei. Ich überlege kurz, wen ich anrufen kann, der nicht zu schockiert ist von unserem gescheiterten Probemarsch und mich in das Stadium zurückwirft, in dem ich die Reise am liebsten abblasen möchte. Lange muss ich nicht nachdenken, dann bleibe ich in der Kontaktliste in meinem Handy bei meiner Freundin Caro hängen. Wir kennen uns seit ein paar Jahren, und von Anfang an habe ich ihre Rationalität zu schätzen gewusst, die sie grundsätzlich mit einer gesunden Portion Optimismus verbindet.

Das macht sie auch bei diesem Telefonat. Nachdem sie ganz zu Beginn gesagt hat, dass ich »völlig durch den Wind« klinge, habe ich ihr in aller Ausführlichkeit von unserem gescheiterten Probemarsch erzählt. Ich weiß, dass ich bei Caro kein Blatt vor dem Mund nehmen muss. Nachdem ich meine Erzählungen damit beendet habe, dass ich mein Fahrrad gerade mit einem neuen Kocher im Korb nach Hause schiebe, findet Caro wie so oft genau die richtigen Worte.

»Es gibt da eine alte Theaterweisheit«, sagt sie.

Mit ihrer Schauspielgruppe steht sie zurzeit beinahe jedes Wochenende auf der Bühne.

»Die besagt: Geht die Generalprobe schief, sichert das das Gelingen der Premiere.«

Ins Nirgendwo, bitte!

Подняться наверх