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4. KAPITEL

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IN DIE HÖHLE DES LÖWEN

Die Turbinen brummen, und die kurzen gelben Linien auf dem Rollfeld verschwimmen immer mehr zu einer langen. Der Kerosingeruch in der Kabine ist noch nicht ganz verflogen. Es kann nur Sekunden dauern, dann kippen die Tannen, die in einer Linie parallel zur Startbahn wachsen, nach rechts weg. Es drückt mich fest nach hinten in den Sitz, mein Magen macht einen Sprung. Das ist der Moment, der mich schon immer daran erinnert hat, wie klein wir doch alle sind. Das Flugzeug hebt ab, geht raus in die weite Welt, und wir werden wie Playmobil-Figuren durch die Luft von einem Ende zum anderen geflogen.

Ich habe mir meine Musik ins Ohr gestöpselt und minutenlang nach dem richtigen Lied für das Abheben in Richtung Himmel gesucht. Das mache ich öfter mit Musik – ich spiele sie ab, um eine Stimmung zu untermalen oder sie zu unterdrücken. Viele kennen das vom Sport: Da spornen die Beats oft an. Und abends sorgen sie dann für einen Hauch Romantik. Gerade jetzt sollen sie mich entspannen lassen. Dieses eine Abheben ist nicht wie all die anderen bisher – es ist der Start in mein bisher größtes Abenteuer, das am Beginn einer Weltreise steht. Ich weiß nicht, wann ich diesen Boden mit seinen Tannen und den Alpen in der Ferne wiedersehen werde.

Die melancholischen Lieder drücke ich deswegen weg, bis ich bei »Stunner« von Milky Chance lande. Ein Lied, das ich bei meiner allerersten Fernreise an einem Strand auf einer kleinen thailändischen Insel gehört habe. Schon da sind mir ein paar einzelne Zeilen im Kopf hängen geblieben, losgelöst aus dem Zusammenhang:

»I was a runner. Running high without a stop.« – »Ich war ein Läufer – rannte wie im Rausch, ohne anzuhalten.«

Und dann in der nächsten Strophe:

»Come, come. We go so far.« – »Komm mit, komm mit. Wir gehen so weit.«

Milky Chances Zeile »Go so far« hatte ich mir nach der Thailand-Reise als Tattoo stechen lassen, zusammen mit einem kleinen Vogel, der rein optisch überall auf der Welt zu Hause sein könnte und mich staunen lässt, wie weit diese kleinen Tierchen es alleine schaffen können. Das Tattoo ist seitdem ein permanenter Denkzettel für mich. Es soll mich immer wieder ermutigen, mich auffordern, Neues zu wagen und frei zu sein. Außerdem erinnert es mich an diese erste Fernreise, bei der ich mich oft so verloren gefühlt habe und die mich gleichzeitig in vier Wochen so viel über mich und die Welt hat lernen lassen, wie es ein halbes Jahr zu Hause nicht schaffen kann. Immer wenn ich an den kleinen Vogel und die verschnörkelten Worte »Go so far« denke, drängt es mich unmittelbar aus meiner Komfortzone heraus.

Als das Lied mit den letzten Tönen ausklingt, spiele ich es noch zwei weitere Male. Gerade schadet es sicher nicht, mehrmals aufgefordert zu werden, weit zu gehen.

Dann kommt die Durchsage des Piloten:

»Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben nun unsere ungefähre Reiseflughöhe von 12.300 Metern über null erreicht.«

Ich mache die Musik aus, den Sitz nach hinten und die Augen zu. Deutschland liegt hinter uns. Der erste Schritt ist getan. Ich stelle mir meine Eltern vor, wie sie auf der Terrasse zu Hause in Schongau ihre Köpfe vor dem kleinen Laptop-Bildschirm zusammen stecken. Ich könnte wetten, dass sie in diesem Moment live den Flugstatus mitverfolgen und lesen, dass unsere Maschine gestartet ist. Vielleicht müssen neue Tränen trocknen – bei unserer Verabschiedung gestern hat es einige gegeben. Obwohl ich ihre Ängste oft nicht nachvollziehen konnte, kann ich sie dieses Mal verstehen. Natürlich machen sie sich Sorgen, ob auf unserem Marsch alles gut gehen wird. Ganz bewusst habe ich sie deshalb darauf vorbereitet, dass sie während der kommenden fünf Wochen nichts von uns hören werden. Wenn überhaupt, wird es nur in den größeren Orten eine Möglichkeit geben, eine kurze Mail abzusetzen. Auf so ein Lebenszeichen sollen meine Eltern aber nicht warten. Ich weiß, dass sie das um den Verstand bringen würde.

Ich drehe mich zu Felix.

»Was meinst du: Wann werden sich unsere Eltern daran gewöhnen, dass wir weg sind und sie nichts von uns hören?«

»Meine oder deine?«

Felix grinst. Seine Eltern hatten schlichtweg ein paar Jahre mehr Zeit, sich an die Reiselust und den Abenteuerdrang ihres Sohnes zu gewöhnen. Das merken wir immer wieder daran, wie unterschiedlich seine und meine Eltern auf unsere Ideen und Pläne reagieren.

»Meine?«, sage ich.

Und ich merke, wie unsicher meine Frage geklungen haben muss. Als wollte ich die Antwort gar nicht wissen. Natürlich gibt es mir kein schönes Gefühl, wenn ich darüber nachdenke, wie meine Eltern zu Hause sitzen und grübeln, wo wir in diesem Moment sind und ob es uns gut geht.

»Wenn sie merken, dass sie die Situation nicht ändern können, werden sie sich schon daran gewöhnen«, sagt Felix schließlich. »Weißt du, was mir aber nicht aus dem Kopf geht?«

»Was?«

»Was dein Vater zu mir beim Abschied gesagt hat. Als wir uns umarmt haben, hat er gesagt: ›Pass gut auf sie auf.‹«

Dann macht Felix eine kurze Pause, bevor er anfügt:

»Irgendwie lädt das eine Extra-Verantwortung bei mir ab. Ich will nicht zu dem Punkt kommen, an dem ich ihm gestehen muss, dass ich offenbar nicht gut genug aufgepasst habe.«

Ich habe nicht mitbekommen, dass mein Vater das zu Felix gesagt hat.

»Ich will nicht, dass du dich unter Druck gesetzt fühlst«, sage ich. »Wir müssen doch beide im gleichen Maße aufeinander Acht geben.«

»Trotzdem«, antwortet Felix. »Schön ist, dass mir dein Vater das Gefühl gegeben hat, als würde er mir das zutrauen.«

Unsere Sitznachbarin beendet unser Gespräch schließlich.

»Entschuldigung, ist das Ihrer?« Sie klappt ihren Laptop zu und hebt unseren Mongolei-Reiseführer auf.

»Ja, danke. Der muss mir gerade vom Schoß gerutscht sein.«

»Stört es Sie, wenn ich einen kurzen Blick reinwerfe? Nur interessehalber. Ich kann ein bisschen Abwechslung gebrauchen«, sagt sie und deutet dabei auf den Laptop.

Sie erzählt, dass sie beruflich unterwegs sei, um ihre Firma bei einem Kongress in Moskau zu vertreten. Sie müsse in den nächsten Stunden noch ihre Power-Point-Präsentation fertigstellen, könne sich gerade aber einfach nicht konzentrieren.

»Wahnsinn«, denke ich mir. Alle drei steigen wir in Moskau aus, unsere Ziele könnten aber nicht unterschiedlicher sein: Meine Sitznachbarin, eine Geschäftsfrau Mitte 40, mit schwarzen Pumps und Nadelstreifen-Hosenanzug, wird den Vertrag über eine neue Geschäftskooperation unterzeichnen. Felix und ich werden in Moskau umsteigen, um allein durch die mongolische Wildnis zu laufen und abends Pulveressen mit dem Camping-kocher aufzuwärmen.

Auf keinen Fall würde ich tauschen wollen.

Ich bin bewusst kurz angebunden und froh, dass sie einfach nur still im Reiseführer blättert. Bestimmt wird sie nicht verstehen, warum wir uns auf den Weg zu so einem Abenteuer machen. Das habe ich in den letzten Wochen so oft erklärt, dass mir gerade die Muße dazu fehlt. Gerade, als ich mir wieder meine Musik ins Ohr stöpseln will, hat meine Sitznachbarin doch Redebedarf.

»Das sind ja schöne Bilder. So viel Natur ist da! Und alles so weit und abgelegen. Aber was ich mich frage: Was kann man sich dort denn ansehen?«

Mist. Um die Erklärstunde komm ich wohl doch nicht rum. Aber immerhin muss ich so nicht weiter über meine Eltern nachdenken.

»Da kann man sich so gut wie nichts ansehen, im Westen, wo wir sind. Man kann draußen sein und es genießen, dass alles so weit und abgelegen ist.«

Weil die Frau im Nadelstreifen-Anzug fragend schaut, schiebe ich noch nach: »Wir wandern dort, nur für uns.«

Jetzt nickt sie. Wandern gehen würde sie auch gerne. »Ich habe gelesen, dass es kaum Straßen gibt. Wie machen Sie das denn, mit dem Auto?«

Ich verstehe nicht, was sie meint. Wie kommt sie denn auf Auto?

Weil ich offenbar fragend schaue, redet jetzt sie weiter: »Na, zu den einzelnen Touren. Dort fahren Sie doch mit einem Auto hin, wenn Sie alleine unterwegs sind?«

Ach so, das meint sie.

Ich fange bei null an zu erklären, erzähle von unserer Route, dem GPS, dem Kocher und dem Zelt und davon, dass wir tatsächlich die ganze Strecke laufen werden. Obwohl sie sich ein paar Sätze später wieder ihrer Präsentation widmet, unterbricht sie sie selbst noch ein paarmal und stellt die üblichen Aber-warum-Fragen, die Felix und ich schon Dutzende Male beantwortet haben.

Als wir uns später verabschieden, scheint sie sich wieder ein bisschen gesammelt zu haben.

»Na dann, viel Glück, Sie beide. Verlieren Sie Ihren Mut nicht!«

Am Flughafen in Moskau haben wir sechs Stunden Aufenthalt. Sechs schier unendliche Stunden, weil wir es kaum erwarten können, auf mongolischem Boden endlich die ersten Schritte zu laufen. Viele Wochen lang haben wir uns so intensiv vorbereitet. Sind Szenarien durchgegangen und haben nach einem gescheiterten Probemarsch doch neue Hoffnung gefunden. Es ist an der Zeit, all unsere Vorstellungen in Erlebnisse umzuwandeln. Ich kann und will nicht länger darauf warten, ob alles funktionieren wird. Ich will loslaufen.

Als ich das Felix erzähle, zeigt der auf eine Gruppe Männer, die sich gerade im Wartebereich für den Flug nach Ulan-Bator ausbreiten. Sie sind zu siebt, und man sieht definitiv jedem von ihnen an, dass sie regelmäßig trainieren.

»Die wollen wohl auch endlich loslaufen«, sagt Felix mit einem Stirnrunzeln. »Schau mal, was die alles dabei haben.«

Was genau, kann ich zwar nicht sehen. Aber sehr viel ist es. Jeder von ihnen hat zwei große Reisetaschen am Rand der Sitzgruppe gestapelt. Ein paar Stative, Handgepäck und Isomatten, die außen an die Taschen geschnallt sind.

»Ich hoffe nur, die haben nicht was ähnliches vor wie wir«, sage ich dann.

»Dann hätten wir definitiv zu wenig dabei«, sagt Felix.

»Aber das können die doch gar nicht schleppen.«

»Bestimmt machen die was ganz anderes. Es kann doch nicht sein, dass wir uns so verschätzen.«

Felix klingt zuversichtlich, ich bin verunsichert.

»Die sehen ja schon so aus, als würden sie das öfter machen.«

»Irgendwie aussehen kann ja jeder«, antwortet Felix pampig. Ich kann mir denken, dass er sich eher Sorgen macht, dass wir unser Ziel mit jemandem Teilen müssen. Diese Eigenart kommt bei ihm immer wieder hoch: Besondere Erlebnisse in der Natur will er alleine genießen.

Jetzt sind wir beide ein paar Minuten lang still. Felix hat die Augen zu und hört Musik, ich schaue durch die Glasfront nach draußen aufs Rollfeld. Dort passiert zwar gerade nichts, aber so muss ich die Männergruppe nicht weiter anschauen. Trotzdem lässt mir das keine Ruhe. Obwohl ich eigentlich keine Lust habe, gehe ich zu ihnen rüber und frage sie, wo sie denn hinwollten. Typische Reisefrage.

Die Antwort: »Ganz in den Norden der Mongolei. Zum See Chöwsgöl Nuur. Sagt dir das was?«

Das sagt mir was, weil wir diesen See, der im Norden an Russland grenzt, auch kurz als Ziel in Betracht gezogen haben. Wir haben uns dann dagegen entschieden – unter anderem, weil es dort im Spätsommer ein paar deutliche Grade kälter wird als im Westen der Mongolei. Die Männer haben Ausrüstung dabei, die auch bei zweistelligen Minusgraden noch warm hält. Außerdem Foto- und Filmequipment, und das nicht zu knapp.

Erleichtert schlendere ich zu Felix zurück und nehme auch ihm die Sorge, dass wir vielleicht was vergessen haben.

»Wir müssen selbstbewusster sein.« Das sage ich nicht nur zu Felix, auch zu mir selbst. »Wir können uns nicht andauern verunsichern lassen. Da werden wir ja verrückt. Wir haben uns so gut vorbereitet, wie wir konnten. Wir können nichts mehr planen.«

Als wir wieder im Flugzeug sitzen und auf Ulan-Bator zusteuern, denke ich viel über diese Tatsache nach: »Wir können nichts mehr planen.« Wir haben dabei, was wir in unseren WG-Zimmern in München eingepackt haben. Haben wir was vergessen, gibt es jetzt keine Chance mehr, den Fehler zu korrigieren. Dieser Gedanke hält mich auf diesem Nachtflug wach. Ich versuche immer wieder, mich damit zu beruhigen, dass die Premiere eigentlich ja nur gelingen kann. Zumindest, wenn man der Theaterweisheit meiner Freundin Caro glaubt.

Als dann die Sonne irgendwo um uns herum aufgeht und der Himmel im Minutentakt heller wird, sehe ich zum ersten Mal die Landschaft, die wir uns in den vergangenen Wochen so oft ausgemalt hatten. Weite, sanfte Hügel in einem vom Sommer ausgetrockneten Graugrün, so weit das Flugzeugfenster reicht. Unter uns erstreckt sich die sagenumwobene Weite, und mir wird klar: Falls ich wirklich dachte, ich wüsste, was Weite bedeutet – dann habe ich mich geirrt. So ist das eben: Wie manche Dinge wirklich sind, kann man erst dann verstehen, wenn man sie vor oder eben unter sich hat. Das Flugzeug schafft ungefähr 300 Kilometer die Stunde. Und in der Stunde, die ich aus dem Fenster schaue, sehe ich nichts. Keine Häuser, keine Strom- oder Wasserleitungen. Noch nicht mal ein Nomadenzelt. Keine Tiere. Wie leer sich die Landschaft anfühlt, kann man sich nicht vorstellen. Der Platz im Kopf würde nicht ausreichen.

Dabei fliegen wir von Norden ins Landesinnere. Angeblich ist das die Region der Mongolei, die noch am dichtesten besiedelt ist. Wenn hier nichts ist, wie viel Nichts ist dann im Westen?

Mir fällt ein Zitat des amerikanischen Schriftstellers Tennessee Williams ein. Es ist mein Lieblingszitat: »Ich will dich mit der ungeheuren Begeisterung fürs Leben anstecken, weil ich daran glaube, dass du die Stärke hast, es auszuhalten.«

Ich hatte gehofft, ich habe diese Stärke, die Begeisterung fürs Leben auszuhalten. Diese Begeisterung führt nämlich zu solchen Situationen, dass ich von oben auf so eine endlos leere Landschaft schaue, durch die ich in ein paar Tagen wandern werde. Hoffentlich habe ich mich nicht getäuscht, was meine Stärke angeht.

Vorsichtig stupse ich Felix an, der neben mir döst.

»Schau mal, schau mal raus!«

Je wacher Felix wird, desto größer werden seine Augen. Ihm ist das pure Staunen ins Gesicht geschrieben. Minutenlang sitzen wir jetzt da, ohne ein Wort zu wechseln. Wir starren beide wie gebannt aus dem Bullauge.

Dann dreht sich Felix zu mir. »Weißt du, was Pete mal zu mir gesagt hat?«

Pete ist ein alter Reisefreund von Felix. Ihn hat er kennengelernt, als er auf dem kleinen Boot von Seattle nach Alaska gesegelt ist. Pete ist ein paar Jahre älter als Felix, er ist Australier und war damals mit seiner Freundin unterwegs. Ihre Reisen ähneln den kleinen Abenteuern, wie sie jetzt auch Felix und ich zusammen planen: Man ist aufeinander angewiesen, hat kaum Freiräume und durchlebt sehr wahrscheinlich Extremsituationen, die einer Beziehung schnell zur Last fallen können.

»Ich habe Pete damals gefragt, wie er das schafft mit seiner Freundin. Immer zu zweit, ganz oft ganz lange auf engem Raum und so weiter. Er hat nicht lange überlegen müssen und gesagt: ›Man muss das beste Team der Welt sein.‹«

Kurz sind wir beide still, dann fügt Felix an: »Ich schätze, wir müssen jetzt auch das beste Team der Welt sein.«

Ich sage nichts. Als ich seine Hand nehme, merke ich, dass die genauso kalt und verschwitzt ist wie meine. Dann rumpelt es. Unsere Maschine hat auf mongolischem Boden aufgesetzt.

Darf man im Flugzeug eigentlich auch sitzen bleiben?

Ins Nirgendwo, bitte!

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