Читать книгу Ins Nirgendwo, bitte! - Franziska Consolati - Страница 9

1. KAPITEL

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DIE ERSTE IDEE UND DERSCHOCK DANACH

Felix und ich knien auf dem Bett und starren die bunte Weltkarte an meiner Wand an. Unser riesiger, weiter Planet, dargestellt auf eineinhalb Metern. Direkt unterhalb Russlands sieht die Mongolei winzig aus, und zum ersten Mal überlege ich, ob wir unterschätzen, was dort auf uns zukommen wird. Mit den falschen Proportionen an der Wand kann das leicht passieren. Was ich dort mit meinem Zeigefinger antippen kann, entspricht in Wirklichkeit Tausenden von Kilometern. Einmal um einen See zu laufen, der hier noch nicht einmal so groß ist wie ein Stecknadelkopf, würde mehrere Wochen dauern. Das dämmert mir, als ich von der Karte an der Wand runter auf den Boden schaue. Neben dem Bett liegt da ausgebreitet eine zweite Karte – eine Landkarte der Mongolei. Der Postbote hat damit gerade die Realität zur Türe reingebracht. Maßstab 1:2.000.000, trotzdem hat die Karte kaum Platz auf dem Boden in meinem 13 Quadratmeter kleinen WG-Zimmer. Der See Char Us Nuur, der auf der Weltkarte an der Wand ein kaum erkennbarer, winziger Punkt ist, ist hier etwas größer als ein Zwei-Euro-Stück. Mit Blick auf die Maßstabslinie unten rechts auf der Karte bedeutet das, dass sich der Char Us Nuur auf mindestens 70 Kilometer Länge erstreckt. Seine Küstenlinie muss also mehrere Hundert Kilometer lang sein.

Felix bricht unser betretenes Schweigen und beugt sich über die Karte der Mongolei.

»Einfach mal loslaufen und schauen, wie weit wir kommen, funktioniert halt nicht.«

Er spreizt seine Finger zwischen dem Char Us Nuur und dem nächsten Ort im Norden. Zwischendrin hätten einige Zwei-Euro-Stücke Platz. Eine Strecke, die wir zu Fuß nicht bewältigen können, wenn wir als Selbstversorger unterwegs sind. Der Weg ist zu lang, der Marsch würde weit mehr als fünf Wochen dauern, und wir würden unsere Vorräte zwischendrin kein einziges Mal auffüllen können.

Während Felix mit seinen Fingern verschiedene Entfernungen testet, tippe ich nervös auf meinem Laptop rum. Ich tu mich schwer, diese Dimensionen einzuordnen. Insgeheim hoffe ich auch ein bisschen, etwas Ermutigendes zu lesen. Stattdessen spuckt das Internet ein paar Fakten aus:

Die Mongolei ist das sechstgrößte Land Asiens.

Die Mongolei ist mehr als viermal so groß wie Deutschland.

Die Mongolei ist das am dünnsten besiedelte Land der Welt.

Die Mongolei ist ein Land mit extremsten Klimaschwankungen.

Hinzu kommen einige weitere Punkte zur überdurchschnittlichen Höhe über dem Meeresspiegel (tiefer als 1.000 Meter über null wird es selten) und mehreren Temperaturrekorden, die Ulan-Bator als kälteste Hauptstadt der Welt schon aufgestellt hat.

Ich schließe kurz die Augen, um die vielen Gedanken, die mir wild durch den Kopf schießen, wieder in den Griff zu bekommen. Dann schließe ich das Browserfenster. Darunter erscheint mein E-Mail-Postfach. Unter den neuesten Nachrichten: eine Bestätigung über die Flugbuchung.

München – Ulan-Bator.

In zehn Wochen geht’s los. Für einen Rückzieher ist es längst zu spät.

Natürlich ist das weder für mich noch für Felix die erste Reise.

Bisher habe ich auch in meinen jungen Jahren jeden freien Tag genutzt und jeden Euro gespart, um die Welt zu erkunden. Ich hatte immer im Kopf, wie viele Urlaubstage ich noch übrig habe. Immer, wenn das Fernweh zu groß wurde, stand ich bei meinem Chef im Türrahmen. Das war schon so, als ich bei der Tageszeitung in meiner oberbayerischen Heimatstadt Schongau noch im Volontariat war – der Ausbildung zur Redakteurin. Die Wände, die das Büro meines Chefs vom Rest des Großraums abtrennten, waren aus Glas. Unter den Kollegen sprachen wir deshalb immer vom »Aquarium«.

Mein Chef sah mich also immer schon kommen, und mit der Zeit hatte er gelernt, meinen Ausdruck von weitem zu lesen. Irgendwann fing er an, verschmitzt zu grinsen, noch bevor ich mich an den Türrahmen lehnte.

»Dir steht das Abenteuer ins Gesicht geschrieben. Wo soll’s denn dieses Mal hingehen?«

Obwohl meine Urlaubswünsche für ihn ganz bestimmt nicht immer einfach waren, stand er meinen Reiseträumen nie im Weg. Auch dann nicht, als ich zwei Jahre in Folge jeweils für fünf Wochen nach Thailand, Indonesien, Malaysia oder Osttimor aufbrechen wollte. Solange meine Urlaubstage ausreichten, die ich kräftig mit Sonntagsdiensten aufstockte, durfte ich losziehen.

Das hat sich auch mit meinem nächsten Chef in einer anderen Redaktion nach dem Volontariat nicht geändert. Danach wiederum habe ich als freie Redakteurin weitergeschrieben – mit dem Wissen, dass ich irgendwann in den nächsten eineinhalb Jahren zu meiner ersten ganz großen Reise aufbrechen wollte.

Ich hatte eine Weltreise im Kopf, aber noch keine Vorstellung, wo die mich hinführen sollte. Die Welt war doch so groß! Einmal im Jahr loszuziehen, für vier oder fünf Wochen, das war mir längst nicht mehr genug. So oft war ich in der Stunde nach Sonnenuntergang an einem Strand oder irgendwo auf der Welt in den Bergen gesessen – dann, wenn das Licht blau schimmert und die Insekten der Nacht noch still sind. Ich liebte dieses Gefühl, so weit weg zu sein. So fühlt sich das Abenteuer an, dachte ich. Jedes Mal hatte ich mir dann gewünscht, nicht das Datum des Rückflugs im Kopf zu haben. Diese Rückflüge waren das Ablaufdatum meiner Abenteuer. Ich wünschte mir, weg zu sein, ohne zurückzumüssen.

Mit diesem Gedanken im Kopf lernte ich jemanden kennen, der diesen Traum schon einmal gelebt hatte: Felix. Er kam gerade von seiner ersten Weltreise zurück. Mit jeder von Felix’ Geschichten wusste ich ein klein wenig mehr, dass eine Weltreise die richtige Entscheidung sein würde. Er erzählte mir von den endlosen Weiten des Yukon und wie er zwischen den Bergketten Kanadas 4.000 Kilometer als Anhalter unterwegs war. Wie ihm am Straßenrand rohe Fische als Verpflegung zugeworfen wurden. Er erzählte von den schönsten Momenten in der Wildnis und der großen Gastfreundschaft in Zentralamerika, aber auch von den Schattenseiten: wie er in El Salvador nach Sonnenuntergang nicht mehr auf die Straße durfte, weil eine Bande dort am Vortrag einen Jugendlichen abgestochen hatte. Und wie ein Erdbeben in Guatemala seine Spanischschule zerstörte.

Dann erzählte ich ihm von meinem Geheimnis. Das mit der Weltreise hatte ich bisher für mich behalten.

Er verstand mich sofort. »Vielleicht komm ich mit. Irgendwann nächstes Jahr, eventuell?«

Große Worte und ein noch größerer Schritt. Für ihn, für mich, für uns beide. Wir lernten uns ja gerade erst kennen. Auf kleineren Reisen wollten wir vorher erproben, ob das funktionieren könnte – wir beide und das Reisen zusammen. Mit Felix wanderte ich durch endlos weite Sahara-Dünen in Marokko. Ein paar Monate später brachen wir nach Südostasien auf.

Davor druckste Felix immer wieder rum. »Weißt du, bei mir hat das ja nie funktioniert mit dem Zusammenreisen.«

Das wusste ich. Trotzdem war ich erschrocken darüber, wie ernst und ehrlich er mich in diesem Moment ansah. Ich war still und ließ ihn weiterreden.

»Natürlich hoffe ich, dass das mit dir anders ist. Ich glaube es auch. Aber ich habe auch Angst davor.«

Nachdem unsere erste Tour durch Marokko atemberaubend schön war und fünf Wochen Südostasien viel zu schnell vergingen, beschlossen wir, uns langsam unsere Vorstellungen für eine Weltreise auszumalen. Felix’ zweite, meine erste. Jeder sollte für sich überlegen – und dann würden wir entscheiden, ob wir gemeinsam ohne Rückflug aufbrechen wollten.

Als Datum für diese Entscheidung wählten wir meinen Geburtstag im März 2015. Dann würde ich 22 sein, Felix 30.

Meine Gedankenmalerei für diese Weltreise fing unter der Weltkarte über meinem Bett an. Es faszinierte mich, wie riesig die Welt ist – die echte, nicht die auf dem Plakat. Oft lag ich abends da und stellte mir vor, was die Menschen in genau diesem Moment woanders taten. Mein Blick schweifte dann in alle Richtungen. Vom Westen bis in den Osten, hoch zum Polarkreis und ganz in den Süden, zu den letzten Spitzen Land, bevor auf der Karte das Packeis der Antarktis eingezeichnet ist. Ich malte mir aus, wie Fischer ihre Angelruten in das Meer vor Alaska hängen ließen, wie Kinder im Amazonas-Regenwald ihr Spielzeug aus dicken Stämmen schnitzten. Wie Kinder in Asien bettelnd die Hände ausstreckten, sobald Touristen an ihren Hütten vorbeifuhren, und ihre Mütter unter dem Vordach Hühner rupften. Wie Inuit ganz im Norden in Iglus saßen und die Sonne nicht unterging. Wie Forscher an der Antarktis Pinguine beobachteten. Und zwischendrin, da wurde es manchmal ganz leer in meinen Gedanken, wenn ich die Länder auf meiner Weltkarte anschaute, aus denen ich noch keine Geschichten kannte. Ich konnte mir kaum vorstellen, was die Menschen dort in dieser Minute wohl machten, womit sie ihre Zeit verbrachten, was sie bewegte und wovon sie lebten. Dann wurde mir klar, wie wenig ich von der Welt doch wusste und wie viel es für mich noch zu entdecken gab.

Aus solchen Gedankenspielen heraus ist unser Vorhaben entstanden, zu Fuß durch die Mongolei zu laufen. Felix hatte bis zu diesem Zeitpunkt beinahe 60 Länder bereist und dementsprechend viele Menschen kennengelernt. Sein Netzwerk war riesig – trotzdem kannte er niemanden, der schon einmal in der Mongolei gewesen war. Das gibt’s heute kaum noch – fast überall war schon mal irgendwer, fast überall gibt es Trampelpfade zu den entlegensten Ecken. Wege, Straßen, Autobahnen. Es schien, als wäre die Mongolei nicht nur für mich einer der weißen Flecken auf der Weltkarte. Eine eigene, verborgene Welt, über die ich bisher so gut wie nichts gehört hatte. Es gab viele alte Mythen, aber kaum neue Geschichten. Es gab gezeichnete Bilder aus der Zeit von Dschingis Khan, aber kaum echte Fotos. Für uns reichte das als Grund, das Land entdecken zu wollen. Hinzu kamen unberührte Natur und endlose Wildnis, viele Stückchen Erde, auf die teilweise noch nie jemand seinen Fuß gesetzt hat. Wir wollten uns auf die Suche machen nach diesem ungefilterten Lebensgefühl, wie man es nur in der Wildnis finden konnte. Wir wollten ins Nirgendwo.

So ist es dann passiert: Felix hat seine Festanstellung als Videoredakteur gekündigt, ich war selbstständig und musste mich sozusagen nur abmelden. Mehr war ich niemandem schuldig. Wir haben beide FREI in unsere Kalender eingetragen. Dahinter einen Pfeil ohne Endmarkierung. Wir gingen auf Weltreise, und die Mongolei sollte die wahrscheinlich größte Herausforderung gleich zu Beginn sein. Der weiße Fleck auf der Weltkarte sollte sich verwandeln in eine Fläche mit tausend Erinnerungen.

Der ersten Idee folgte das bekannte Kribbeln, wie immer, wenn ich neue Abenteuer spinne, und es konnte mir nicht schnell genug gehen. Wir unterhielten uns darüber, dass man in einem so wilden Land am besten vorankommt, wenn man sich auf nichts anderes als auf sich selbst verlassen muss, und kamen schnell zu dem Entschluss, dass wir als Selbstversorger durch die Mongolei reisen wollten. Mit allem auf dem Rücken, was man zum täglichen (Über-)Leben so braucht. Und zu Fuß wollten wir reisen – weil Straßen fehlen und wir gezwungen sein wollten, langsam und ohne Eile unterwegs zu sein.

Allein bei dem Gedanken, mit meinem Rucksack durch die endlose Steppe zu laufen und nicht zu wissen, wo wir das Zelt am Abend aufschlagen würden, war ich schon aufgeregt. Ich stellte mir vor, wie ich bei Sonnenuntergang an wunderschönen Orten sitze und nach und nach immer mehr Sterne am Himmel auftauchen. Wie groß die Freiheit sein muss, wenn außer uns niemand dort ist und wir die Wahl zu allem haben – weil niemand weiß, was wir genau in diesem Moment tun.

Wir wägten kurz andere Möglichkeiten ab und überlegten dann nicht mehr lange. Auf dem Bildschirm erschien es dann:

»München – Ulan-Bator.

Ihre Buchungsbestätigung erhalten Sie in Kürze per E-Mail. Vielen Dank und eine gute Reise.«

Das Telefonat, das darauf folgte, würde kein einfaches sein. Ich hatte diesen Moment möglichst lange rausgezögert. Wer freut sich schon, wenn die Tochter geht und nicht weiß, wann sie wiederkommt? Und wenn sie sich dann noch eine Wanderung durch das am dünnsten besiedelte Land der Welt vornimmt? Jetzt, da das Datum für unsere Reise feststand, musste ich es meinen Eltern aber endlich erzählen.

»Ich habe einen Flug gebucht«, hörte ich mich sagen, als wäre ich nur Zuschauer dieser Szene.

Stille.

»Die Weltreise, oder?« Ganz neu war diese Idee für meine Eltern natürlich nicht. Wahrscheinlich hatten sie aber gehofft, es sei nur ein vorübergehendes Hirngespinst.

»Ja. In knapp drei Monaten geht’s los. Ende August.«

Stille.

Ich erzählte ihnen kurz von der Mongolei und redete dann schnell weiter, um davon abzulenken. Ich sagte, dass wir danach nach Australien weiterfliegen würden. Diese zwei Flüge waren alles, was wir vorher festlegen wollten.

Meine Mama atmete tief ein, und sogar den Papa hörte ich im Hintergrund Luft holen.

Als sie dann wieder etwas sagte, war ihre Stimme belegt.

»Das ist ja wie dieser eine Extremsportler, du weißt schon: der alleine von Sibirien bis in die Wüste Gobi gelaufen ist.«

Ich erzählte ihr, dass es nicht so war. Weil wir zu zweit waren. Weil wir unsere Strecke so legen würden, dass wir immer wieder auf Menschen treffen. Weil wir nicht so weit laufen würden. Weil wir keine Extremsportler waren und auch keine Extremreisenden. Es gibt immer die, die Tausende Kilometer allein zu Fuß laufen oder mit dem Fahrrad einmal um die Welt fahren. Mit ihnen wollten wir uns nicht messen. Felix und ich sehnten uns vielmehr nach der Extraportion Abenteuer auf unseren Reisen. Das war es vielleicht auch, was uns von der großen Masse an Backpackern unterschied.

Die Ausmaße dieser Extraportion Abenteuer haben wir erst jetzt vor Augen, als die ungenaue Landkarte kaum Platz in meinem Zimmer hat und sich die eine Ecke an meinem Kleiderschrank nach oben schmiegt. Mit einem Rückzieher werden wir aber bestimmt nicht auf Schwierigkeiten reagieren. Ich habe keinen gemacht, bevor ich mit einer Berber-Familie und ihren Kamelen durch die Sahara gewandert bin, als ich 19 war. So eine Wüstenexpedition war ein langgehegter Traum von mir gewesen und einer von denen, über die ich mich selbst manchmal wundere. Wie komme ich nur auf so was? Und auch Felix hat keinen Rückzieher gemacht, bevor er von Seattle in den USA fast 2.000 Kilometer die zerrissene Küste bis nach Skagway in Alaska hochgesegelt ist.

Natürlich ist die Mongolei nicht Europa, wo die Wildnis nur bis zum nächsten Ort reicht und das nächste Auto meist näher ist als ein schöner Platz zum Zeltaufschlagen. Und natürlich ist die Mongolei nicht wie einige ihrer asiatischen Nachbarländer, in denen die Einheimischen schon so vielen Reisenden geholfen haben, wo es zu jeder Frage einen Wikipedia-Eintrag gibt und zu jedem Ort eine Bilderstrecke. Natürlich ist die Mongolei nichts davon. Obwohl all das keine Überraschung für uns ist, verschlägt es uns jetzt die Sprache. Denn wie schwierig das alles werden wird, vor welche Herausforderungen uns diese Reise stellen wird, das merkt man erst, wenn man sich konkret vorbereiten will. Und keine Antworten auf seine Fragen findet.

Nun sitzen wir da also, in meinem winzigen WG-Zimmer, Felix beugt sich auf dem Boden über die Landkarte, ich hocke mit dem Laptop auf dem Schoß auf meinem Bett. So einfach wie die grundlegende Überlegung ganz zu Beginn wird es hinterher nicht mehr werden. Die ist: Norden? Süden? Osten? Westen? Oder das Zentrum? Welche Region wollen wir durchwandern? Es dauert keine zehn Minuten, bis wir uns einig sind. Im Norden sind die wenigen geführten Exkursionen unterwegs, die vereinzelt über den einen oder anderen Reiseanbieter zu buchen sind. Damit fällt der Norden weg. Dasselbe gilt für das Zentrum der Mongolei. Das fällt auch weg. Der Süden ist die wohl lebensfeindlichste aller Regionen, denn dort ziehen sich die ausgetrocknete Steppe und die großen Sanddünen der Wüste Gobi durchs Land. Der Süden fällt weg. Der Osten ist wegen der Grenze zu China nicht immer ganz unkompliziert. Auf manchen Internetseiten kursiert das Gerücht, dass chinesische Militärkräfte immer wieder in der Grenzregion patrouillierten. Der Osten fällt also auch weg. Es bleibt der Westen mit seiner endlosen Weite, die von den Dünen der Wüste Gobi in saftiges Grasland übergeht und schließlich auf den schneebedeckten Gipfeln des Altai-Gebirges endet. Auch hierzu spuckt Google nur ein paar wenig aussagekräftige Bilder aus. Die scheinen von Fotografen zu sein und sprechen in schimmernden, fast unechten Farben für sich.

Wir falten unsere Landkarte so weit zusammen, dass nur noch der Westen ausgebreitet auf dem Boden liegt.

Die Entscheidung ist gefallen – und damit fängt es an, kompliziert zu werden. Je mehr wir überlegen und je konkreter wir unsere Pläne formen wollen, desto mehr Fragen kommen auf – und desto mehr Hindernisse ergeben sich, die uns immer und immer wieder zum Umdenken zwingen.

Ist man in einem so dünn besiedelten Land zu Fuß und ganz auf sich allein gestellt unterwegs, gibt es mehrere Voraussetzungen für die Routenplanung. Für uns sind das vor allem diese vier:

Damit unser Gepäck nicht noch schwerer wird, müssen wir permanent Zugang zu Trinkwasser haben. Das erspart es uns, dass wir davon zusätzlich viele Liter schleppen müssen.

Einmal die Woche müssen wir durch einen kleinen Ort kommen, um unsere Lebensmittelreserven aufzufüllen – und für den Fall, dass einer von uns beiden zum Beispiel wegen eines medizinischen Notfalls Hilfe holen muss.

Der Startpunkt nahe des Flusses muss insofern für ein Fahrzeug zugänglich sein, dass uns ein Fahrer dort aussetzen kann.

Und zu guter Letzt: Wir müssen sicherstellen können, dass dieser Weg, den wir selbst erst erfinden, passierbar ist.

Auf unserer Karte malen wir einen großen roten Kreis um die Provinzhauptstadt Chowd. Luftlinie liegt sie etwa 1.200 Kilometer westlich von Ulan-Bator. Busverbindungen sind rar, fallen häufig aus, und wenn sie funktionieren, bedeutet das, mehrere Tage auf schlechten Straßen unterwegs zu sein, die es an manchen Stellen gar nicht mehr richtig gibt. Immer dienstags gibt es aber auch einen Flug von Ulan-Bator nach Chowd. Einmal dort angekommen, können wir uns einen Fahrer zu unserem Startpunkt nehmen.

Vielleicht ist es doch gar nicht so kompliziert, von dort aus unsere Route zu planen? Immerhin zieht sich fast überall Wasser durchs Land. Ein See, ein Fluss – beides. Wir müssen uns nur Orte raussuchen, die nahe am Wasser und in einer realistischen Entfernung zueinander liegen. Sofort fallen unsere Blicke auf Chjargas Nuur, einen See, der alle Kriterien zu erfüllen scheint: Er würde uns auf einer Strecke von gut 80 Kilometern Trinkwasser liefern. Er ist in guter Entfernung zu kleinen Orten, in denen wir unsere Vorräte wieder auffüllen könnten. Er ist mit einem Fahrzeug erreichbar, und die Uferlinie scheint flach zu sein – perfekt zum Laufen und Zelten. Als besonderes Extra grenzt Chjargas Nuur an den deutlich kleineren Airag Nuur, der wiederum von einem Fluss gespeist wird. An dem entlang könnten wir weiterlaufen.

Felix kreist verschiedene Orte und Etappenziele rings um Chjargas Nuur ein und schaut, ob die Entfernungen in etwa mit denen übereinstimmen, die unser GPS-Gerät ausspuckt. Ich durchforste verschiedene Seiten im Internet mit der Frage, wohin wir unser Endziel legen könnten. Und dann stoße ich zufällig auf diese eine Information, die unsere Landkarte nicht abbildet: Ein Großteil der Gewässer im Westen und Süden der Mongolei ist salzig. Süßwasser ist in manchen Regionen sogar so rar, dass Kamele die Fähigkeit entwickelt haben, Salzwasser zu trinken. Einer der Salzwasser-Seen: Chjargas Nuur. Das Grübeln über die Route, das Überlegen und Rechnen in den letzten eineinhalb Tagen – alles umsonst.

Und jetzt, mit dem Wissen, dass beinahe die Hälfte der Seen voll mit Salzwasser sind, ist die Karte zwar nicht weniger blau gesprenkelt, aber dafür zur Hälfte nutzlos.

Insgesamt braucht es einige Sitzungen über dieser viel zu ungenauen Landkarte und den verpixelten Satellitenaufnahmen von Google Earth, bis wir mit Chowd als Ausgangspunkt annähernd ein Gebiet eingrenzen können, das unsere vier Voraussetzungen erfüllt. Schließlich müssen wir uns eingestehen, dass uns all diese wenig zuverlässigen Infos nicht reichen, um eine Route festlegen zu können. Auf den Computerbildern versuchen wir anhand seiner Fließrichtung zu erkennen, ob der Fluss dem Salz- oder dem Süßwassersee entspringt. Wir kleben mit den Augen am Bildschirm, weil das Bild zu unscharf zeigt, ob zwischen Fluss und Bergflanke Platz ist zum Laufen. Und schließlich finden wir uns damit ab, dass diese Reise risikoreich sein wird. Wir sehen ein, dass diese Karte viel zu ungenau für unser Vorhaben ist, und recherchieren, was das Zeug hält, um eine bessere zu finden. Im Internet stoßen wir auf ein nicht öffentliches Archiv an alten Militärkarten und finden Patrick und Michael, die in einem kleinen, privaten Outdoor-Laden arbeiten und Zugang zu dieser Datenbank haben. Diese hundert Jahre alten kyrillischen Karten sind schließlich die Einzigen, die die Mongolei in einem brauchbaren Maßstab von 1:200.000 abbilden. Inklusive Topografie.

»Das ist die höchstmögliche Auflösung für dieses Gebiet«, sagt Patrick und wirkt ein wenig verzweifelt, als er anfügt, dass er einfach nichts Besseres finden konnte. Noch nicht einmal etwas anderes. Auch unsere Suche endet mit dieser Erkenntnis und Felix’ resigniertem Resümee, dass er es in keinem der 60 Länder so schwer gehabt hat, an Kartenmaterial zu kommen.

Wir gleichen die kyrillischen Ortsnamen der alten Militärkarten mit denen auf der Google-Karte ab und hoffen schließlich, dass wir alles richtig übersetzt haben.

Dann haben wir endlich unsere Route, die den Westen der Mongolei von Süden bis in den Norden quert:

Von Ховд soll es mit einem Fahrer zu unserem Startpunkt Nahe Толбо gehen. Von dort über Буянт und Уужим weiter nach Ѳлгий. Von Ѳлгий nach Улаангом und weiter nach Тариалан сум. Und von da aus zu unserem allerletzten, großen Ziel dieser Reise: einem v-förmigen Bergsee, der auf der Militärkarte noch keinen Namen bekommen hat, auf den übersetzten Google-Karten aber »Khukh Nuur« geschrieben wird.

Und noch einmal für uns zum Aussprechen:

Von Chowd soll es mit einem Fahrer zu unserem Startpunkt Nahe Tolbo gehen. Von dort aus über Buyant und Sagsay oder Uujim, je nach Karte, weiter nach Ölgii. Von Ölgii nach Ulaangom und weiter nach Tarialan. Dann bis zum Bergsee Khukh Nuur.

Als ich die Route mit den Augen nachfahre, muss ich schlucken. Laut GPS werden das 300 bis 400 Kilometer Strecke sein. Wenn ich diesen Weg, gezeichnet mit wasserfestem Stift, vor mir sehe und ringsum all die kyrillischen Buchstaben und Namen, die ich nicht verstehe, die Landschaft, die eintönig in Beige und Grau eingezeichnet ist, schwindet mein üblicher Drang, sofort dorthin aufzubrechen. Anstatt wie vorher an die große Freiheit zu denken und daran, wie die Sonne über unserem Zelt untergeht, frage ich mich, ob die Landschaft in Wirklichkeit auch so fremd und leer sein wird. Ich kann mir nur schwer vorstellen, was in diesem Land auf uns wartet, von dem es kaum Kartenmaterial gibt, weil offenbar zu wenige Leute danach fragen. In dem große Flüsse keinen Namen haben, weil der für niemanden eine Rolle spielt. Noch schwerer fällt es mir, mich in die Lage zu versetzen, ausgesetzt zu sein. Nicht zu wissen, wo und wann wir die nächsten Menschen treffen werden. Dafür aber die ganze Zeit über von dem leben zu müssen, was wir noch in Deutschland in unsere Rucksäcke gepackt haben. Was packt man in seinen Rucksack, wenn man hinterher keine Chance mehr hat, Fehler zu korrigieren? Was nimmt man mit in ein Land, in dem Süßwasserseen so rar und so besonders sind, dass die Einheimischen sie teilweise sogar heiliggesprochen haben? Es ist doch normal, dass man aus neuen Situationen lernt und sich korrigiert. Was aber, wenn Lernen auf der Reise durch die Mongolei bedeutet, dass wir an etwas Essenzielles nicht gedacht haben?

Langsam dämmert es mir: Obwohl wir schon in vielen Ländern unterwegs waren, ist nichts davon vergleichbar mit dem, was Felix und ich uns jetzt vorgenommen haben. Und auch Felix kann nicht mehr verbergen, dass er die eine oder andere Sorge im Kopf hat.

Er zögert. »Wir müssen bald mal darüber sprechen, dass auch was passieren kann.«

Ich habe gehofft, dass das irgendwann von ihm kommt. Weil ich denselben Gedanken schon hatte, mich aber nicht getraut habe, ihn auszusprechen. Einerseits weil ich befürchtet habe, dass der Gedanke dann – warum auch immer – eher wahr werden könnte. Andererseits auch deswegen, weil Felix nicht denken sollte, ich könnte kalte Füße bekommen. Viele seiner Abenteuer in Nord- und Zentralamerika oder auf dem Ozean hat er nur erlebt, weil er den Mut dazu hatte und die Zähne zusammengebissen hat. Der Ausgang dieser Abenteuer war einzig und allein von ihm abhängig. Das ist dieses Mal anders. Genau deswegen geht es mir gerade ähnlich wie vielen Menschen, die in einer noch jungen Beziehung sind: Sie wollen gut dastehen vor ihrem Partner und möglichst wenig Schwächen zeigen. Vor allem wollen sie nicht im Weg stehen, wenn es auch um die Träume des anderen geht. Früher oder später wird diese Reise aber sowieso alle Schwächen, die Geheimnisse und Sorgen aufdecken – das ahne ich schon jetzt. Einfach deshalb, weil wir sie auf drei Quadratmetern Zelt nicht länger verbergen können. Umso wichtiger, dass wir jetzt ehrlich miteinander sind.

»Ich weiß. Ich habe Angst davor, was passieren wird, falls sich dort einer von uns schwer verletzt.«

Ich strenge mich an, damit mir mein Gesichtsausdruck nicht entgleist. Kein schüchternes Lächeln, keine Sorgenfalte.

Der schlimmste Gedanke ist, dass wir im ungünstigsten Fall mehrere Tagesmärsche vom nächsten Ort entfernt sein werden. Wir stehen jetzt vor der Herausforderung, solche Situationen realistisch einzuplanen, um gut vorbereitet zu sein. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass wir es nicht übertreiben mit den Sorgen. Der Leichtsinn muss verschwinden, die Leichtigkeit bleiben. Das gilt für gesundheitliche Notfälle genauso wie für Beziehungsangelegenheiten. Sich wochenlang ausschließlich aufeinander zu verlassen, niemand anderes um Rat fragen zu können, kaum eigenen Platz zu haben – weder körperlich noch für eigene Launen und Gedanken: Das allein ist genug Herausforderung für eine Beziehung. Vor allem dann, wenn man vorher noch nicht einmal zusammen gewohnt hat, sondern immer die Option hatte, sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen. Man könnte sich fragen, ob diese Reise zu früh für uns ist.

Bei diesem Marsch durch den Westen der Mongolei kommt außerdem ein weiterer, ganz entscheidender Aspekt hinzu, den es auf unseren bisherigen Reisen noch nie gab: Es wird unterwegs keine Möglichkeit geben, kurzfristig getrennte Wege zu gehen. Alles, was wir zum Überleben brauchen, haben wir nur einmal dabei. Das müssen wir uns vorher klar machen: Egal, was passieren wird – wir müssen gemeinsam bis zum Ende durchhalten.

Wir unterhalten uns viel darüber und versuchen, diesen Punkten möglichst rational gegenüberzustehen. Wir beide sind Menschen, die großen Freiraum brauchen. Zeit, um zu reflektieren. Felix sogar noch mehr als ich. Was wird passieren, wenn wir uns diesen Freiraum nicht mehr nehmen können? Nie weit voneinander entfernt sein können? Diese Fragen stellen wir uns immer und immer wieder, bis wir zu einem harten Entschluss kommen: Es wird nur zwei Möglichkeiten geben. Entweder, diese mehr oder weniger erzwungene Nähe schweißt uns noch enger zusammen – oder unsere Beziehung wird dort ein Ende finden. Und genau für Letzteres brauchen wir einen Plan. Der soll auf ganz rationale Art und Weise auch dann noch funktionieren, wenn wir es aufgrund unserer Emotionen nicht mehr tun. Wir beschließen, noch vor unserem Abflug unseren eigenen, ganz persönlichen Masterplan aufzustellen.

Ins Nirgendwo, bitte!

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