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3. KAPITEL

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UNSER MASTERPLAN:BAUCHGEFÜHL ÜBER ALLES

»Wir können das echt nicht länger aufschieben.«

Felix streckt mir eine Handvoll eingeschweißte Spritzen entgegen. Bis vor meine Nase, als könnte ich sie sonst übersehen.

»Wir können die nicht dabeihaben, ohne uns vorher Gedanken gemacht zu haben, was wir in so einer Situation überhaupt machen sollen. Wenn wir die Spritzen zum Beispiel benutzen müssen.«

Ich schlucke. Insgeheim habe ich gehofft, dass sich das Thema auf wundersame Weise von selbst erledigt. Natürlich tut es das nicht.

»Ja … Ja, ich weiß. Wir müssen uns endlich hinsetzen und über so was reden.«

Die Spritzen haben wir gerade vom Apotheker unten am Eck bekommen. Markus – wir kennen ihn schon. Er ist sozusagen der Apotheker unseres Vertrauens. Zu ihm gehen wir immer, wenn wir unsere Reiseapotheke zusammenstellen oder auch dann, wenn wir in einer anderen Angelegenheit zwar keinen Arzt brauchen, aber eine gute Empfehlung. Dieses Mal waren wir bei ihm, um ein paar Rezepte vom Tropenarzt einzureichen und ein paar letzte Mittelchen zu besorgen: ein Antibiotikum für absolute Erkältungs- und Magen-Darm-Notfälle, sehr starke Schmerzmittel nicht nur für Kopfschmerzen, sondern auch für den Fall, dass sich einer von uns ein Band zerrt oder – noch schlimmer – den Fuß bricht. Außerdem eine bekannte Allzweckwaffe bei Durchfall und ein paar sterile Verbände.

Damit weckten wir Markus’ Interesse. »Geht’s wieder nach Asien? Oder in die Alpen?«

Er kannte uns eben schon. Nach seinen Erzählungen hatte Markus auch selbst eine mit vielen Fähnchen bespikte Weltkarte in seinem Wohnzimmer hängen. Unter seinem weißen Kittel trug er ein dunkelgrünes T-Shirt des thailändischen Chang-Biers. In der Mongolei sei Markus aber noch nie gewesen, sagte er. Überhaupt könne er sich nicht erinnern, die mal als Reiseziel von jemandem gehört zu haben.

Während mich diese Aussage vor ein paar Wochen noch überrascht hätte, nahm ich sie mittlerweile kaum noch wahr. Niemand hatte uns bisher einen persönlichen Kontakt vermitteln können, der die Mongolei bereist hatte. Trotzdem waren wir immer wieder dankbar, allgemeine Ratschläge mit auf den Weg zu bekommen und von vielen Erfahrungsschätzen zu profitieren. In den vergangenen Wochen hatten wir mehrere Menschen kennengelernt, mit denen wir längere und wichtige Gespräche geführt hatten. So zum Beispiel mit Patrick und Michael, die uns geholfen hatten, an geeignetes Kartenmaterial zu kommen. Mit Markus war es jetzt ähnlich.

»Ihr wisst ja, dass in vergleichbar wenig entwickelten Ländern in der Regel auch die medizinische Versorgung und Ausstattung recht wenig entwickelt ist«, sagte er.

Sollte heißen: Wichtige Utensilien wie Scheren, Verbände und Spritzen werden teilweise öfter benutzt – und damit verschiedenste Krankheiten munter weiterverbreitet. Es schade also nicht, ein paar steril verpackte Einwegspritzen samt Kanülen im Gepäck zu haben, riet uns Markus.

»Nur für den Fall, dass ihr damit in einem Krankenhaus behandelt werden müsst.«

Die Spritzen nehmen wir deswegen also auch noch mit. Und was wir nicht mehr länger aufschieben können, ist unser Masterplan. Ich weiß das längst und habe es mit den Kanülen direkt vor Augen: Wir müssen uns vorbereiten – darauf, dass einem von uns etwas passieren kann. Darauf, dass der andere dann einspringen muss. Wir können nicht erst anfangen, sämtliche Möglichkeiten durchzuspielen, wenn solch eine Situation tatsächlich eintritt. Wir müssen uns vorher Gedanken machen, zumindest ein paar.

Der Masterplan soll aber auch in anderen Situationen funktionieren: zum Beispiel, wenn wir uns unterwegs mit einer ernsten Entscheidung schwertun und uns nicht einig werden. Oder auch dann, falls Felix und ich uns ganz generell nicht mehr einig werden und merken, dass unsere Beziehung solche Belastungen nicht verträgt.

Mir schnürt es die Kehle zu, wenn ich daran denke. Das kann doch nicht sein. Felix und ich haben uns vor ziemlich genau zwei Jahren mit einem großen Knall kennengelernt. Meine Freundin Isabel, die schon immer an Seelenverwandtschaften geglaubt hat, ist tief überzeugt, Felix und ich hätten eine. Seit unserem allerersten Treffen hatten wir täglich Kontakt, wann immer es Zeitzonen, Entfernungen und die Verbindung in andere Länder zugelassen haben. Wir haben Nächte durchgeredet und am nächsten Tag damit weitergemacht. In vielen Punkten hatte ich endlich das Gefühl, aus tiefster Seele von jemandem verstanden zu werden. Stundenlang ging es darum, was wir uns vom Leben erhoffen und womit wir unsere Zeit verbringen wollen. Es ging um unsere Prioritäten und darum, warum es uns so wichtig ist, die Welt kennenzulernen. Felix hat immer verständnisvoll genickt, wenn ich ihm von geheimen Plänen und größtem Fernweh erzählt habe. Er hat mich ermutigt, meinen Wünschen nachzujagen. Gemeinsam haben wir uns in ferne Länder geträumt und wollten sie ganz alleine und ganz frei erleben. Und genau das werden wir jetzt tun, in der Mongolei. Dann kann das doch nicht schiefgehen?! Schließlich ist es genauso ein Abenteuer, wie wir beide es immer schon haben wollten.

Wir sitzen am Ufer eines Sees, im Schatten einer großen Weide. Neutraler Boden. Und weil Freitagvormittag ist, sind wir zum Glück fast alleine. Die vergangenen zehn Wochen haben wir uns mit nichts anderem beschäftigt als mit den Vorbereitungen für den Marsch durch die Mongolei. Gerade jetzt, so kurz vor unserer Weltreise, hätten wir unsere Freunde und Familien gerne möglichst oft gesehen. Leider war eher das Gegenteil der Fall. Die großen Verabschiedungen starten morgen, der Flieger übermorgen. Einen Tag vorher wollen wir unsere Köpfe wieder freibekommen und gar nichts mehr erledigen müssen. Dazu fehlt diese eine letzte Sache, der Masterplan. Sogar die Spitzen haben mittlerweile einen festen Platz in Felix’ Rucksack gefunden.

Felix schaut mir tief in die Augen. »Am wichtigsten ist, dass wir jetzt nicht emotional werden.«

Ich nicke. »Wir müssen das Ganze völlig nüchtern betrachten.«

Ich weiß, dass mir das schwerer fallen wird als ihm. Ich würde sagen, Felix hat von Grund auf eine Portion mehr Rationalität in seinem Charakter verankert. Oft bewundere ich ihn dafür, dass er Ängste beiseiteschieben kann und eine Situation ganz konstruktiv beurteilt. Vor allem jetzt möchte ich vor Felix deswegen taff wirken. Ich will mir nicht anmerken lassen, dass mich meine Sorgen in den letzten Nächten wach gehalten haben. Ich glaube, insgeheim versuche ich in solchen Situationen oft, etwas älter zu wirken als ich es eigentlich bin.

»Was hältst du davon, wenn wir versuchen, von oben auf die Situation herabzublicken?«, schlägt Felix vor. Er merkt, dass ich zögere und schiebt ein ermutigendes Lächeln hinterher. Wahrscheinlich weiß er, dass mir diese Distanz weniger leicht fällt als ihm.

»So, als wären es gar nicht wir, über die wir sprechen?«

»Genau.«

Mit diesem Beschluss versuche ich, mir eine Maske überzuziehen. Ein Pokerface, das meine Emotionen verdeckt.

Wir nehmen uns vor, verschiedene Szenarien durchzusprechen, bei denen wir froh sein werden, wenn wir uns vorher schon einmal sinnvolle Gedanken dazu gemacht haben – wenn wir nicht bei null anfangen müssen, um auf die möglichst beste Lösung zu kommen. Für jedes Szenario soll es einen Punkt im Masterplan geben.

Angefangen mit dem Fall, dass sich einer von uns verletzt oder krank wird.

Unsere Telefone werden zu 99 Prozent keinen Empfang haben, und nach tagelangen Erkundigungen haben wir uns auch gegen ein Satellitentelefon entschieden. Das hilft schließlich auch nur dann weiter, wenn man jemanden anrufen kann, mit dem man sich nicht nur verständigen kann, sondern der dann auch in kurzer Zeit zu Hilfe kommen wird. Wir haben Erfahrungsberichte von Reisenden gelesen, die mit dem Satellitentelefon in der Hand hilflos in der Wildnis gestanden sind und niemanden erreichen konnten, der ihre Lage verstehen und orten konnte. Über so viele Umwege zu telefonieren würde Stunden oder wegen der Zeitverschiebung sogar einen Tag dauern – wenn wir Hilfe von deutschen Ansprechpartnern oder Übersetzern bräuchten. Schließlich enden diese Erfahrungsberichte damit, dass die Reisenden das Telefon weggepackt haben und selbst losgezogen sind, um Hilfe zu holen.

Der Gedanke daran, dass Felix zusammengekauert in der mongolischen Wildnis liegt, während ich immer weiter von ihm wegrenne und erst nach vielen Stunden – oder Tagen – wiederkomme, zerreißt mich fast. Jetzt schon, obwohl wir gerade zu Hause an einem See sitzen, dessen Wellen beruhigend gegen die Felsen am Ufer plätschern. Ich weiß, dass ich mich nicht zu sehr in so eine Situation reindenken darf. Die Gefahr ist groß, später unterwegs überängstlich zu sein, fast schon paranoid. Ich muss aber davon ausgehen, dass ich in solchen oder ähnlichen Situationen nicht fähig sein werde, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Nur im absoluten, wirklich absoluten Notfall und wenn es gar nicht anders geht, lassen wir einander zurück.«

Ich spreche betont langsam. Es kann gar nicht deutlich genug werden, wie wichtig mir ist, dass das auf keinen Fall passieren sollte.

»Wir sind viel schwächer, wenn wir alleine unterwegs sind, mental und physisch«, stimmt mir Felix zu. Er schaut mich eindringlich an.

»Auch wenn die Schmerzen noch so schlimm sind, wir sind so tapfer, wie wir können, um gemeinsam zum nächsten Ort, zum nächsten Zelt oder zur nächsten Straße zu laufen.«

Wir nicken beide, noch bevor ich diesen Satz zu Ende sagen konnte. Koste es so viele Schmerzmittel, Medikamente und Zeit, wie es wolle.

Der nächste Punkt ist der einzige, zu dem wir uns nicht durchringen müssen, weil wir ihn schon seit Jahren einhalten. Wir hatten uns während einer unserer ersten Wanderungen in den Alpen darauf geeinigt und es von da an als selbstverständlich betrachtet: Bauchgefühl über alles. Genauer: Wenn einer von uns kein gutes Bauchgefühl hat – an einer kniffligen Stelle am Berg zum Beispiel oder wenn sich Wolken zu einem Gewitter zusammenbrauen – trifft dieses mulmige Bauchgefühl die Entscheidung. Heißt das, dass die Wanderung damit beendet ist und wir umkehren müssen, gibt es trotzdem keine Widerrede. Auch wenn das Bergsteiger-Ego dann geknickt ist.

Zu oft hat es sich schon bewährt, auf unser Bauchgefühl zu hören. In manchen Situationen hat es sogar schon wie ein siebter Sinn funktioniert. Wie einmal auf dem Weg zu einem steilen Gipfel im Osten von Tirol: Wir waren bereits auf ungefähr 3.100 Metern über dem Meeresspiegel, und es fehlten keine 200 Höhenmeter mehr. Eine halbe Stunde ungefähr noch, dann würden wir am Gipfel sitzen. Es war Sommer, der Himmel bewölkt, das Wetter stabil – so zumindest war die Vorhersage. Mit einem Windhauch kam bei Felix aber ein komisches Bauchgefühl auf. Er fühlte sich nicht mehr wohl an der steilen Flanke und hatte die Befürchtung, das Wetter könne umschlagen. Obwohl sich der Himmel aus meiner Sicht in den letzten Stunden in keinster Weise verändert hatte, drehten wir also um. Und kurz nachdem wir auf der nächsten Alm ankamen, brach das Unwetter über uns herein, mit dem niemand gerechnet hatte.

Ein schlechtes Bauchgefühl muss man außerdem nicht begründen, das hat man, und es zählt. Das soll verhindern, dass man in schwierigen Situationen, die eine dringende Entscheidung erfordert, anfängt zu diskutieren. Daraus wird oft ein hitziges Hin und Her, das die Gefahr birgt, dass man sich gegenseitig die Schuld gibt. Auch in der Mongolei wollen wir unsere Energie nicht drauf verschwenden. Wir werden uns auch dort an unseren alten Pakt halten: Bauchgefühl über alles.

Während wir reden, schreibe ich das eine oder andere Stichwort auf kleine Zettelchen. Schnickschnack werden wir später auf die Reise nicht mitnehmen können. Alles, was nicht unbedingt notwendig ist, wiegt zu viel. Einen kleinen Luxus trage ich aber im Rucksack mit: ein leeres Notizbuch, das in der Mongolei zu unserem Tagebuch werden wird. Die kleinen Zettel mit unserem Masterplan werden der erste Eintrag auf der letzten Seite sein.

Der nächste Punkt, ich schreibe ihn auf: Beziehung.

Hand aufs Herz: Niemand möchte mit einem geliebten Menschen darüber sprechen, wie man sich nach einer Trennung verhalten könnte, wenn man trotzdem nebeneinander herlaufen und zusammen in einem Zelt übernachten muss. Vor diesem Gespräch graut es mir schon seit Wochen, und an Felix’ Gesichtsausdruck erkenne ich, dass es ihm genauso geht. Wenn sein Blick immer wieder zur Seite wandert und er sich gleichzeitig mit der Hand über den Hinterkopf fährt – dann hat Felix ein Thema vor sich liegen, das ihm unangenehm ist. Den ersten Satz zu diesem Thema fängt er dann oft an mit einem zögerlichen »Ich weiß nicht …«.

»Ich weiß nicht. Uns muss klar sein, dass wir so eine Probe noch nie hatten. Egal wie stabil, wie unkompliziert oder wie schön eine Beziehung sein mag – so eine intensive Reise ist noch mal was ganz anderes.«

»Auf jeden Fall. Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, auch schon viele Gedanken gemacht.«

Felix tippt mit dem Fuß auf den Boden, bevor er weiterredet. »Du weißt, dass ich meine Freiheiten brauche. Und du ja auch. Nur: Wo und wie sollen wir uns die dort nehmen? Wenn wir täglich nebeneinander herlaufen, zusammen Pausen machen, zusammen das Zelt aufschlagen und zusammen kochen. Und dann auf keinen drei Quadratmetern Platz übernachten. Tag für Tag. Wir wollen uns den Freiraum gegenseitig nicht nehmen, können ihn uns aber auch nicht geben.«

Während es nur so aus Felix sprudelt, weil er diese Gedanken seit vielen Wochen zurückgehalten hat, bleibe ich ganz still. Ich warte darauf, dass er noch etwas Positives findet. Eine Ermunterung?

»Was ich sagen will, ist einfach, dass wir das nicht unterschätzen dürfen. Es gibt genug Paare, die daran zerbrochen sind, an so viel erzwungener Nähe. Natürlich glaube ich an uns und wünsche mir, dass das nicht passieren wird. Versteh mich nicht falsch. Wir müssen eben sehr auf uns achten. Und aufpassen. Und an uns arbeiten. Das ist alles.«

Felix atmet tief ein und wandert mit seinen Augen das Gras ab, auf dem er sitzt. Als würde er dort nach weiteren Worten suchen, die ihm zwischendurch verloren gegangen sind. Vier findet er.

»Dann wird das schon.«

Dann wird das schon? So viele Ängste auf einmal, und damit sollen sein Sorgenmonolog und das Thema abgehakt sein?

»Meinst du nicht, dass das zu einfach klingt? Weil es eben nicht einfach so wird?«

»Einen Masterplan mit der Masterlösung für Gefühle gibt es eben nicht.«

Felix zuckt mit den Schultern.

»Ich weiß nicht. Wir dürfen nicht aufhören, einander zu respektieren. Auch Eigenarten des anderen, die wir noch nicht kennen und die uns dort vielleicht aus der Bahn werfen werden.«

»Und wir dürfen nicht alles auf die Goldwaage legen, was der andere sagt.«

Erst jetzt schreibe ich wieder mit. Es ist schwer, eine Lösung für Beziehungsprobleme auf ein paar Zeilen zusammenzufassen. Am Ende würden es nämlich ganz bestimmt nicht diese Notizen sein, die unsere Beziehung retten würden. Aber immerhin könnten wir uns dann nicht vorwerfen, wir hätten nicht von vornherein Acht aufeinander gegeben.

Wir sind beide kurz still, um das Gespräch sacken zu lassen. Felix wirft einen Stein ins Wasser. Noch einen. Noch einen.

»Später gehe ich noch Radfahren. Am besten ist’s wahrscheinlich, du übernachtest heute bei dir.«

Ist das sein Ernst? Ich dachte, wir würden die letzten Abende vor unserer Abreise gemeinsam verbringen, um einander Kraft zu geben. Offenbar ist es für Felix wichtiger, die alleine zu tanken. Wenn er Radfahren geht, ist das nämlich ein klares Signal: Das macht er immer dann, wenn er den Kopf frei kriegen muss. Wenn eine Runde Joggen oder Basketball mit seinem Sportskumpel dazu nicht ausreicht – dann schwingt sich Felix aufs Rad und strampelt sich die wirren Gedanken in ein paar Stunden aus dem Kopf.

Obwohl ich mich ziemlich vor den Kopf gestoßen fühle, weiß ich, dass wir beide nicht glücklich wären, wenn er sich nicht die Zeit für sich nehmen würde. Dass ich enttäuscht bin und heute nicht alleine sein wollte, behalte ich deswegen für mich.

»Lass uns aber bitte noch den Masterplan zu Ende bringen, ja?«

Es folgt ein nächstes Szenario und damit ein neuer Punkt im Masterplan: Wenn es nicht sein muss, treffen wir keine Entscheidungen, wenn wir hungrig und ausgelaugt oder völlig übermüdet sind. Das haben wir uns auf unseren bisherigen Reisen schon gesagt. In solchen schwachen Momenten neigt man nämlich zu Schnellschüssen. Hauptsache, was essen! Hauptsache, ausruhen! Diese Hauruck-Entscheidungen waren in der Vergangenheit nicht immer unsere besten. Es passiert zum Beispiel, dass man sich von einem Taxifahrer übers Ohr hauen lässt (das wäre ein kleineres Übel). Oder dass man sich zu später Stunde in einem falschen Teil der Stadt wiederfindet, schlimmstenfalls in Gassen, die wenig vertrauenswürdig in Hinterhöfen enden (das wäre ein größeres Übel). Welche kleinen oder großen Übel in der Mongolei passieren könnten, wissen wir noch nicht. Wir wollen es aber nicht drauf anlegen, das rauszufinden.

Der fünfte und letzte Punkt im Masterplan: Die Tagesrationen für Frühstück, Mittagssnack und Abendessen werden wir unter keinen Umständen überschreiten.

Diesen Punkt setzen wir nicht aus Erfahrung auf den Masterplan, sondern in weiser Voraussicht: Wir haben genau und nicht nur einmal kalkuliert, wie viel Nahrung wir brauchen und was wir pro Tag zur Verfügung haben werden. Mag sein, dass wir uns nach einem anstrengenden Wandertag noch zweimal nachnehmen wollen, wenn der Topf schon leer ist. Um später auf unserem Fußmarsch aber nicht wirklich hungern zu müssen, gilt: Tagesration ist Tagesration.

Hinter »Tagesration« setze ich einen Punkt.

»Fertig.«

»Lies noch mal vor«, bittet mich Felix, und wir gehen die einzelnen Szenen und unsere Anmerkungen noch einmal durch.

»Fällt dir noch was ein, was wir vergessen haben?«

»Ich glaube, das passt«, antwortet Felix. »Für dich auch?«

»Für mich auch.«

Ich klappe das Notizbuch zu, und wir umarmen uns. Damit ist der letzte Punkt auf der Vorbereitungsliste abgehakt. Dreieinhalb DIN-A4-Seiten – alles erledigt.

»Wir kriegen das schon hin.«

Ich nicke und hoffe, dass Felix damit recht hat.

Vom Steg aus springe ich ins Wasser und nehme mir ganz bewusst vor, die Ängste und Sorgen im See zu lassen. Übermorgen geht’s los, und der Masterplan erfüllt tatsächlich schon jetzt seinen Zweck: Es ist, als hätten wir eine Bedienungsanleitung dabei. Für größere und kleinere Probleme, die bei einem Fußmarsch – zusammen mit dem Partner – durch das am dünnsten besiedelte Land der Welt auftauchen können.

Zum ersten Mal glaube ich gerade, dass ich bereit bin für diese Reise, und ich fühle das aufgeregte Kribbeln, das ich in den letzten Wochen vermisst habe.

Als ich abends auf dem Fensterbrett in meinem WG-Zimmer sitze und aus dem vierten Stock das Treiben auf der Straße beobachte, liegt unser Notizbuch in meinem Schoß. Auf der letzten Seite fasse ich unseren Masterplan zusammen. Schwarz auf weiß, ohne Kompromisse.

UNSER MASTERPLAN

Nicht vergessen: Der gilt immer und ohne Ausnahmen – darauf haben wir unser Wort gegeben.

1 Nur im absoluten, wirklich absoluten Notfall und wenn es überhaupt gar nicht anders geht, lassen wir einander zurück, wenn einer von uns krank oder verletzt ist. Davor versuchen wir alles, um gemeinsam Hilfe zu holen. Merke: Alleine sind wir nur halb so stark.

2 Bauchgefühl über alles! Hat einer von uns in irgendeiner Situation ein schlechtes – oder auch ein besonders gutes – Bauchgefühl, dann hören wir darauf. Das Bauchgefühl muss man nicht begründen, das zählt. Immer! In den Alpen und im Altai.

3 Bei allem, was wir tun – wir achten auf unsere Beziehung und belasten sie nicht mit den täglichen Herausforderungen. Wir respektieren uns und unsere Eigenheiten – und legen nicht alles auf die Goldwaage, was der andere macht. Denn: Manchmal kann es auf so einer Reise schon passieren, dass einer kurz die Nerven verliert. Das sei ihm verziehen :-)PS: Natürlich gewähren wir einander auch weiterhin unsere Freiräume! So gut es mit einem Drei-Quadratmeter-Zuhause eben funktionieren kann.

4 Auch wenn gerade der Magen knurrt: Wir halten uns an unsere Tagesrationen von Frühstück, Mittagssnack und Abendessen.

Ins Nirgendwo, bitte!

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