Читать книгу Doran - Franziska Hartmann - Страница 11
WIE DIE SONNE
ОглавлениеAm nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten, Bryos meine Errungenschaft zu präsentieren. Ich wollte schon lossprinten, als Kaya mein Frühstück abdeckte, da hielt sie mich auf. „Magst du heute Morgen deiner Schwester noch einen Besuch abstatten?“
Überrascht verharrte ich an Ort und Stelle. Es schien mir ungewöhnlich, dass Kaya mich explizit darum bat, meine Schwester aufzusuchen. Ich wollte sie fragen, was los war, aber mein Auge war mal wieder schneller, als mein Mund sprechen konnte. Zwar konnte ich nicht genau erfassen, was geschehen war, aber was ich sah, reichte mir, um sofort zu Lilly zu laufen: Sie war traurig. Und wütend. Und das auf eine solch tiefgreifende Weise, dass der Anblick von Kayas Farben mir das Herz brach. Sie waren trüb und flackerten gleichzeitig aufgebracht. Sie waren beinahe zu dunkel, um sie zu erkennen und schienen gleichzeitig um Hilfe zu schreien. Ich riss den roten Vorhang zur Seite und platzte in Lillys Hütte. Sie weinte. Schluchzend saß sie auf dem Bett, die blonden Wellen hingen ihr ins Gesicht. Eigentlich war sie immer ein sehr fröhliches Mädchen gewesen, Mamas kleiner Sonnenschein. Verloren wie jetzt hatte ich sie noch nie gesehen. Sie weinte so laut, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass ich das Zimmer betreten hatte. Erst als ich mich zu ihr aufs Bett setzte, wurde ihr Schluchzen leiser. „Was ist los, Schwesterherz?“, fragte ich sie. Sie antwortete eine ganze Weile nicht. Ich zweifelte bereits daran, dass meine Worte durch die um sie wabernde, dichte Schwade aus Dunkelgrau, Violett, Rot und Schwarz gedrungen waren.
Da hob sie den Kopf, sodass ich endlich ihr Gesicht sehen konnte, das sich hinter den Haaren versteckt hatte. „Kaya…“, schniefte sie.
„Was ist mit Kaya?“, hakte ich nach, als Lilly nicht weiterredete.
„Sie hat gesagt… Sie meinte, dass…“ Wieder fing sie an zu schluchzen.
Ich fühlte mich hilflos. Ich wollte Lilly helfen, wollte sie aufmuntern, aber ich wusste nicht wie. „Was hat Kaya gesagt?“, bohrte ich weiter.
„Sie meinte, das geht nie wieder weg“, wimmerte Lilly. „Sie meinte, da würden Narben in meinem Gesicht bleiben.“
Ich schwieg. Was sollte ich dazu sagen? Ja, Schwesterherz, das weiß ich schon seit über einer Woche.
„Ich will nicht, dass das bleibt“, jammerte Lilly weiter. „Mich werden doch alle immer komisch angucken.“
„Man gewöhnt sich daran“, sagte ich leise.
Lilly hörte auf zu schluchzen. „Wirklich?“
Nein, eigentlich nicht. „Klar. Und außerdem hab ich dir doch gesagt, für mich wirst du immer das schönste Mädchen sein. Egal ob mit Narbe oder ohne. Du magst mich doch auch, obwohl ich ein goldenes Auge habe, oder?“
Lilly nickte heftig. „Natürlich! Aber… dein Sonnenauge ist schön. Narben nicht.“
Ich musste lächeln, als sie Sonnenauge sagte. „Es wird sicher auch Personen geben, die deine Narben schön finden. Mich zum Beispiel.“
Endlich schlich sich auch auf Lillys Lippen wieder ein kleines Lächeln. Es ließ ein paar helle Farbtupfer aufsprühen. Und auch wenn diese den dunklen Schleier nicht zu vertreiben vermochten, waren sie doch ein kleiner Schritt Richtung Besserung.
„Was machst du heute, Bruder?“, fragte Lilly.
„Ich gehe wieder zu Bryos und schnitze“, antwortete ich freudestrahlend.
„Du bist jeden Tag bei ihm.“
„Ja! Er hat gesagt, wenn ich jeden Tag zu ihm komme, nimmt er mich mit in den Wald, um Holz zu sammeln“, erklärte ich. „Möchtest du heute mal mit zu Bryos kommen?“
Lilly schüttelte den Kopf.
„Wir hetzen auch nicht. Wir gehen in deinem Tempo und wenn du nicht mehr möchtest, bringe ich dich wieder zurück“, versicherte ich ihr.
Doch sie wiederholte ihre Kopfbewegung nur. „Ich bin noch so müde, ich möchte nicht.“ Ihr Lächeln war wieder verschwunden.
Ich wusste, dass ihre Müdigkeit nicht der einzige Grund war. Sie schämte sich für die Wunde in ihrem Gesicht. Sie hatte Angst vor den Blicken der anderen. Ich stand auf, nahm ihre Hände und zog sie in meine Richtung.
„Bruder?“, rief sie überrascht.
„Steh auf. Bryos freut sich sicher, dich kennenzulernen. Ich habe ihm schon viel von dir erzählt.“
„Aber ich will nicht“, quengelte Lilly. Trotzdem krabbelte sie mir entgegen an ihre Bettkante.
Ich drehte mich um. „Kletter auf meinen Rücken, ich trage dich.“ Cuinn hatte das oft getan. Er hatte sie ständig auf dem Rücken durch die Stadt getragen. Und sie hatte dabei immer Spaß gehabt.
Lilly zögerte kurz, dann stieg sie auf meinen Rücken.
„Festhalten!“, rief ich und kaum hatte sie ihre Arme um meinen Hals geschlungen, lief ich los. Ich musste grinsen, als sie vor Freude quietschte, während ich mit ihr durch das hohe Gras galoppierte. Lillys Befürchtungen waren berechtigt gewesen: Wir wurden angeschaut. Von allen, an denen wir vorbeirasten. Doch ich war mir sicher, dass Lilly das gar nicht bemerkte. „Bist du bereit für einen Sprung?“, fragte ich sie.
„Ja! Ja!“, rief sie aufgeregt.
Ich rannte auf einen am Boden liegenden Ast zu. Als ich absprang, kreischte Lilly vergnügt. Bei meiner Landung geriet ich beinahe ins Stolpern und beschloss, mein Tempo etwas zu verlangsamen. Vor Bryos‘ Stand kam ich schließlich keuchend zum Stehen. Ich ließ Lillys Beine los und sie rutschte von meinem Rücken herunter. Ich sank ins Gras und blieb dort eine Weile schwer atmend liegen. „Du bist ganz schön schwer.“
Lilly kicherte. „Oder du zu schwach.“
„Schwer und frech“, ergänzte ich.
Lilly lachte noch mehr. „Aua, mein Gesicht tut weh.“
„Das kommt davon, wenn man seinen großen Bruder auslacht.“
Lilly streckte mir die Zunge raus.
„Doran, sag bloß, du möchtest mir heute deine Schwester vorstellen“, unterbrach Bryos unseren Schlagabtausch.
Lilly und ich verstummten. Ich rappelte mich wieder auf und klopfte mir das Gras von der Kleidung. „Ja! Bryos, das ist meine Schwester Lilly.“ Ich machte eine ausladende Handbewegung zu Lilly. „Lilly“, ich schwang meine Hand Richtung Bryos, „das ist Bryos, der beste Holzschnitzer weit und breit.“
Bryos saß da, in die Figur vertieft, die er gerade schnitzte. Doch bei meinen Worten schlich sich ein amüsiertes Lächeln auf seine Lippen.
„Bryos, ich muss dir unbedingt etwas zeigen!“, rief ich aufgeregt und lief um den Verkaufstisch herum zu dem Feuergeist.
Mit einem Blick auf meine Füße hob er eine Augenbraue. „Du hast ja immer noch keine neuen Schuhe.“
Ich errötete. „Das stimmt.“
Bryos ließ Holz und Schnitzmesser sinken. „Wofür hast du dein Geld ausgegeben?“
„Genau das wollte ich dir zeigen.“ Nervös tastete ich an meine rechte Seite, wo ich das Gewicht des Dolches spürte. Meine Hand umschloss das Heft und als ich den Dolch aus dem dunklen Leder zog und zwischen mich und Bryos hielt, erfüllten mich wieder Stolz und dieses Gefühl der Sicherheit.
„Junge, was willst du mit einem Dolch?“, fragte Bryos skeptisch.
Ich grinste. „Ich möchte damit schnitzen.“
Bryos schüttelte den Kopf. „Das ist kein Schnitzmesser.“
„Das hat Skar auch gesagt.“
„Und du hast es dir natürlich trotzdem gekauft“, seufzte Bryos. „Wie hast du ihn überhaupt dazu bekommen, dir einen Dolch zu verkaufen? Das sieht Skar nicht ähnlich. Und dann auch noch für nur hundert Rhipa.“
Nun grinste ich noch breiter. „Worte“, antwortete ich nur und winkte Lilly zu mir. Sie folgte mir hinter den Verkaufstisch. Ich überließ ihr das Sitzkissen und setzte mich neben sie ins Gras.
„Möchtest du auch schnitzen?“, fragte Bryos sie sanft.
Lilly schüttelte schüchtern den Kopf.
„Bist du dir sicher?“, hakte ich nach. Es war mir unbegreiflich, wie man das Schnitzen nicht zumindest ausprobieren wollen konnte.
Lilly nickte. „Ich will dir nur zuschauen, Bruder.“
Einen Moment lang sah ich meine Schwester nur verständnislos an. Dann zuckte ich mit den Schultern und schnappte mir ein Stück Holz. „Bryos, ich werde dir zeigen, dass mein Dolch ein hervorragendes Schnitzmesser ist.“
Bryos lachte. „Ich gebe dir zehn Minuten, ehe du dein richtiges Schnitzmesser wieder zur Hand nimmst.“
Davon ließ ich mich nicht entmutigen. Ich setzte die Klinge meines Dolches zum Schnitzen an. Zugegeben, es war ungewohnt. Die Klinge war wesentlich länger als die meines Schnitzmessers. Mir wurde schnell klar, dass es schwieriger würde, mit dem Dolch Feinheiten auszuarbeiten. Lilly sah mir begeistert zu. Ich wollte ihr einen Kettenanhänger schnitzen, wie ich es für Koto getan hatte. Allerdings sollte es keine Rose, sondern eine Sonne werden. Denn das war das, was ich ihr wünschte: Sie sollte wieder strahlen wie die Sonne. Neugierig beobachtete Lilly, wie ich die einzelnen Sonnenstrahlen schnitzte. Als mir einer der dünnen Holzarme abbrach, fluchte ich lauthals. Lilly lachte darüber nur. Ihr Lachen zu hören, milderte meinen Frust und ich begann von neuem.
„Ha!“ Als ich den Anhänger schließlich zu meiner Zufriedenheit fertig gestellt hatte, hielt ich ihn stolz in die Höhe. Ich kramte einen kleinen Metallring und ein dünnes Lederband aus einer Kiste unter dem Tisch und fädelte erst den Ring durch ein Loch im Anhänger und dann das Band durch den Ring.
„Oh, die ist aber schön geworden“, staunte Lilly mit glänzenden Augen.
„Für dich“, meinte ich und reichte ihr die Kette.
Lillys Augen wurden noch größer. Dann fiel sie mir um den Hals. „Die ist wundervoll! Danke, Bruder!“
Ich lächelte und als sie sich wieder von mir löste, bedeutete ich ihr, sich umzudrehen, damit ich ihr die Kette hinten im Nacken zuknoten konnte. Dann wandte ich mich triumphierend zu Bryos und reckte das Dolchmesser in die Höhe. „Siehst du, es funktioniert.“
„Mit dem Schnitzmesser wärst du schneller gewesen“, beharrte Bryos. „Trotzdem hast du für deine Arbeit meine Anerkennung.“
Ich sah ein, dass mir das wohl genügen musste. Ich würde in Bryos nicht dieselbe Begeisterung für meinen Dolch wecken können, wie ich sie verspürte.
„Bruder, können wir heimkehren?“, fragte Lilly leise, durch ein müdes, blasses Violett hindurch.
Ich wollte gerne noch länger bei Bryos bleiben, aber ich hatte Lilly versprochen, sie zurückzubringen, wenn sie nicht mehr mochte. Also nickte ich. Ich stand auf und half Lilly auf die Beine. „Wir sehen uns morgen wieder, Bryos“, verabschiedete ich mich und schlüpfte mit Lilly hinter dem Tisch hervor.
„Doran!“, rief Bryos mir hinterher. Ich blieb stehen und drehte mich um. Bryos lächelte mir warm zu. „Komm morgen nicht zu spät. Ich möchte Holz sammeln gehen.“
Mein Herz pochte etwas schneller und ich konnte nicht anders, als aufgeregt zu grinsen. Bryos wollte mit mir Holz sammeln gehen! Er würde mit mir das Tal verlassen! Ich wandte mich von Bryos‘ Stand ab und schlenderte mit Lilly über den Marktplatz. Als wir diesen verlassen hatten und die Baumhaussiedlung betraten, konnte ich mich nicht mehr zurücknehmen: Ich vollführte jubelnd einen Freudensprung. Und plötzlich fühlte ich mich so energiegeladen, dass ich rein gar nichts mehr von den Strapazen der vergangenen Monate spürte.