Читать книгу Doran - Franziska Hartmann - Страница 4

HALBBLUTFEUER

Оглавление

„Ich will nicht sterben.“ Ich klammerte mich an meinen Bruder. Wir saßen in einer Ecke in dem kleinen hölzernen Wagen, der uns und noch ein Dutzend weiterer Kinder ins Unbekannte transportierte. Ich hörte von draußen das Hufgeklapper der Pferde, die den Wagen zogen. Dieser wurde bei jeder Unebenheit des Bodens durchgerüttelt. Dabei stieß ich mir ständig die Knochen an den Wänden und am Boden. Mir tat alles weh. Meine Schultern, meine Ellenbogen, die Wirbelsäule bis hinab zum Steißbein. Etwas neidisch schaute ich zu dem Wolfsmädchen, das neben mir zusammengerollt an der Wand lag. Sie war eine Gestaltwandlerin. Was hätte ich dafür getan, jetzt solch ein weiches Fell zu haben, auf dem ich liegen konnte. Das meinen ausgezehrten Körper vor den harten Wänden schützte.

„Du wirst nicht sterben“, versuchte mein Bruder, mich zu beruhigen. Cuinn hielt mich in einem Arm, in dem anderen unsere Schwester Lilly. Sie war die Jüngste von uns und sie weinte. Das tat sie schon, seitdem wir in den Wagen gebracht worden waren. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn ich hätte am liebsten dasselbe getan, doch sogar dafür war ich zu angespannt. Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Es waren Geschichten erzählt worden. Geschichten darüber, dass sie Halbblute, wie wir sie waren, auf Scheiterhaufen verbrannten. Warum sie das taten, hatte ich noch nicht ganz verstanden. Ich wusste nur, dass meine Mutter ein Mensch war und mein Vater ein Feuergeist. Und dass Vater uns plötzlich hatte verlassen müssen. Und dann waren Stadtwachen in unser Haus eingefallen und hatten meine Geschwister und mich mitgenommen und eingesperrt. Seit dem waren bestimmt schon einige Monate vergangen. Aber sicher war ich mir nicht. In der dunklen Zelle, in die sie uns mit zig weiteren Halbbluten eingepfercht hatten, war mir jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen.

Cuinn löste sich von Lilly und mir. „Bleibt hier sitzen“, sagte er leise. Er krabbelte zur Wand, die rechts neben uns lag. Was hatte er vor? Ich beobachtete, wie er eine Hand auf das Holz legte. Blaues Licht schimmerte unter seiner Hand hervor. Als es verglommen war, zog Cuinn seine Hand zurück. Die Wand darunter schwelte ein wenig, war ansonsten jedoch unverändert. Ich hörte Cuinn leise fluchen, ehe er die Hand erneut auf das Holz legte. Mittlerweile schauten auch ein paar andere Halbblute neugierig zu Cuinn herüber. Seine Handfläche leuchtete wieder auf. Nach wenigen Sekunden begann das Holz zu schwelen. Als er dieses Mal seine Hand wieder von der Wand nahm, glühte das Holz dort, wo er es vorhin noch berührt hatte. Aufgeregt sprang Cuinn auf und stolperte beinahe, als der Wagen mal wieder kräftig holperte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich zu Lilly und mir wandte. Ich hatte ihn lange nicht mehr lächeln sehen. Aber nun verstand ich, was ihm Anlass dazu gab: Das Glühen des Holzes breitete sich aus. Es fraß ein Loch in die Wand, das sich langsam ausdehnte. Aufgeregtes Gemurmel wanderte durch den Wagen. Cuinn nahm meine und Lillys Hand und riss uns auf die Füße. Als das Loch groß genug war, rief er: „Lauft!“

Die anderen Halbblute ließen sich das nicht zweimal sagen. Es entstand ein wildes Getümmel. Jeder wollte als erstes hinaus. Ich sah, wie ein Mädchen, das noch den richtigen Moment abpasste, um aus dem fahrenden Pferdewagen zu springen, geschubst wurde. Sie schrie auf, als sie durch das Loch fiel. Ich zuckte zusammen, als ich das dumpfe Geräusch ihres Aufpralls hörte. Cuinn drängte uns zu dem Loch. „Wenn ihr draußen seid, rennt fort! Ich folge euch“, sagte Cuinn. Dann sprangen Lilly und ich nacheinander hinaus. Als ich mich umdrehte, hielt der Wagen an. Cuinn stieg aus dem Loch. „Lauft, hab ich gesagt!“, rief Cuinn Lilly und mir zu. Doch als ich einige Wachen wahrnahm, die begannen, unsere Mitgefangenen wieder festzunehmen, war ich wie gelähmt. Cuinn kam auf uns zugerannt. Er nahm mich und Lilly an die Hand. Und rannte weiter. Ich konnte kaum mit ihm Schritt halten. Ich wollte laufen. Schneller. Schneller. Doch ich konnte nicht. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich bekam kaum Luft. Meine Beine fühlten sich wackelig an. „Bruder, ich kann nicht mehr“, rief ich verzweifelt. Doch Cuinn blieb nicht stehen. Er lief weiter. „Bruder! Bitte!“ Da stolperte ich. Und während ich fiel, rutschte meine Hand aus der meines Bruders. „Cuinn!“, rief ich. Ich schlug auf dem harten Steinboden auf, ohne meinen Fall abfangen zu können. Ein gellender Schmerz durchzuckte meinen gesamten Körper. Ich stemmte die Arme auf den Boden und versuchte, mich aufzurichten. „Bruder!“, schrie ich, so laut ich konnte. Mir war schwindelig. Ich erkannte Cuinn nur noch schemenhaft in der Ferne. Ich sackte zurück auf den Boden. „Lilly“, murmelte ich. Jemand packte mich von hinten an meinem Hemd und riss mich unsanft hoch.

„Ich habe noch einen!“, hörte ich eine dunkle Männerstimme rufen. „Das ist unser Adlerauge.“

Unwillkürlich legte ich eine Hand über mein rechtes Auge, als er mich Adlerauge nannte. Dieses verdammte goldene Auge.

Der Mann schleifte mich und einen weiteren Jungen, vermutlich etwas jünger als ich, über den gepflasterten Weg.

„Ihr räudigen Bengel! Ihr habt doch nicht wirklich gedacht, dass ihr so leicht davonkommt?“

Los, Doran, noch kannst du fliehen. Du musst etwas tun, um hier wegzukommen, hämmerte es in meinem Kopf. Gleichzeitig erfüllten mich unzählige Szenarien, wie ich entkommen könnte. Ich konnte versuchen, mich loszureißen. Ich konnte ihm kräftig auf den Fuß treten. Ich konnte ihm in seine dreckige, fleischige Hand beißen, die mich seitlich am Kragen gepackt hielt. Letzteres erschien mir der geringste Kraftaufwand zu sein.

Der Wachmann schrie auf, als ich ihm, so fest ich konnte, die Zähne in die Hand rammte. Er ließ von mir ab und ich rannte erneut los, obwohl mir immer noch von meinem vorherigen Sturz schummrig war. Ich hätte mir vorher denken können, dass mein Fluchtversuch zum Scheitern verurteilt war. Doch meine Hoffnung schwand erst vollkommen, als meine Beine mich nicht recht voranbringen wollten. Schneller, als ich mich befreit hatte, landete ich in den Armen eines anderen Wächters, der gerade drei Halbblute an einem Rad des angesengten Pferdewagens festgebunden hatte. Er riss mich herum, drückte mich auf den Boden neben die anderen Halbblute und fesselte meine Hände ebenfalls mit einem dicken Seil an den Wagen.

Der Mann beugte sich zu mir herunter, sodass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. „Ein kleiner Rebell also. Du denkst wohl, du seist mutig. Aber du bist nicht mehr als eine schmutzige Ratte.“

Ich spuckte ihm ins Gesicht. Der Blick seiner dunkelbraunen Augen verfinsterte sich. Er wischte sich mit der Rechten die Spucke aus dem Gesicht und benutzte dieselbe Hand daraufhin, um mir eine solch kräftige Schelle zu verpassen, dass mir kurz schwarz vor Augen wurde. Meine linke Wange brannte, dass es mir Tränen in die Augen trieb. Erst als er ging, um weitere Halbblute zu verfolgen, wagte ich, zu den anderen Halbbluten zu schielen. Ich bereute es sofort. Mein rechtes Auge spielte verrückt. Das musste meine Angst sein. Meine Anspannung. Alle Menschen um mich herum umgaben bunte Farben. Ich befand mich in einem grellen, nicht enden wollenden Farbenmeer, das in meinem Auge brannte und mir ein penetrantes Stechen in den Kopf trieb. Doch noch schlimmer als die beißenden Farben war das, was sie mir verrieten. Sie flüsterten zu mir. Sprachen eine Sprache, die nur ich verstehen konnte. Und sie setzten die Kinder um mich herum in Flammen. Sie sagten mir: Ihre Lebenszeit ist abgelaufen. Sie werden allesamt verbrennen. Heute. Und du hast keine Chance, sie davor zu bewahren.

Ich schluckte und blickte auf meine Hände an dem hölzernen Rad. Würde ich auch sterben? Verrate mir, ob ich heute sterben werde! Aber der Blick auf meine Hände verriet mir nichts. Ich sah nur ganz gewöhnliche Hände. Ohne Farben. Ohne irgendeinen Hinweis. Abgesehen davon, dass sie knöchrig und aufgeschürft waren und ich das Gefühl hatte, ich würde eine ganze Weile keinen einzigen Gegenstand darin halten können.

„Bruder!“

Der Ruf einer sehr vertrauten Stimme weckte meine Aufmerksamkeit. Mein Blick schnellte herum. Lilly. Eine Wache zerrte sie an mir vorbei. „Lilly!“, schrie ich und versuchte vergebens, mich von den Fesseln zu befreien. „Lilly!“ Sie verschwand aus meinem Sichtfeld, als der Mann sie in einen weiteren Pferdewagen verfrachtete. Sie war das letzte Kind, das darin verschwand. Dann wurde die Tür endgültig geschlossen und der Wagen setzte sich in Bewegung. „Lilly!“, schrie ich erneut.

„Halt den Mund oder willst du dir noch eine einfangen?“, fuhr der Mann mich an, der mich vor wenigen Minuten geschlagen hatte. Er war zurückgekehrt, um meine Fesseln zu lösen und mich in einen intakten Wagen zu bringen, der gerade herangefahren war. Ich verstummte und folgte ihm ohne weitere Versuche, mich zu wehren. Lilly. Sie hatten andere Farben umspielt als die anderen Kinder. Sie hatte eine Chance. Sie würde nicht sterben. Nicht heute. Die Erkenntnis beruhigte mich irgendwie. Auch wenn ich nicht wusste, was mit mir geschehen würde. Und wusste, dass die anderen sterben würden. Lilly würde leben. Und Cuinn? Ich hatte ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht würde ich ihn nie mehr wiedersehen.

Der Pferdewagen füllte sich. Ich spürte es, weil ich gegen die Wand gedrückt wurde und ich immer schlechter Luft bekam. Es wurde eng. Ich wusste nicht, wie viele wir waren. Ich vermied es aufzuschauen. Ich konnte das nicht sehen. Ich wollte nicht sehen, wie sie starben. Es reichte, den Tod zu spüren, ich musste ihn nicht auch noch vor Augen haben. Der Wagen begann zu ruckeln und zu schaukeln. Die Angst, die ich vorhin noch verspürt hatte, war fort. Als hätte ich sie mit Cuinn und Lilly verloren. Zurück blieb nur eine Leere. Ein taubes Gefühl, das mich lähmte.

„Doran!“

Ich sah immer noch nicht auf, als jemand meinen Namen rief. Es war die Stimme eines Jungen.

„Doran, ich bin es, Leon. Wo sind dein Bruder und deine Schwester?“

Ich wandte mich noch weiter von Leon ab. Er war einer der Halbblute, mit dem ich mich während unserer Gefangenschaft angefreundet hatte. Wir hatten immer viel geredet. Uns gegenseitig geholfen, die Zeit totzuschlagen und unseren Hunger, unseren Durst und unsere Angst zu mildern. Doch nun wollte ich nicht reden. Und ich war mir sicher, dass nichts in dieser Welt den Schmerz, von dem ich wusste, dass er sich unter der Taubheit versteckte, mildern konnte.

„Glaubst du, es stimmt, was sie sich erzählen? Werden sie uns verbrennen? Werden wir sterben?“

Bitte frag mich das nicht, dachte ich. Ich wünschte, ich hätte die Antwort nicht gekannt. Doch ich kannte sie. Und ich hasste sie.

„Das sind bestimmt nur Gerüchte. Wir werden nicht sterben. Warum sollten sie uns umbringen?“, hörte ich die Stimme eines Mädchens.

„Warum sperren sie uns ein? Warum lassen sie uns hungern?“, entgegnete Leon. „Sie tun es, weil wir Halbblute sind. Vielleicht ist das auch Grund genug, uns umzubringen.“

„Nein, sag so etwas nicht! Es wird sicher alles wieder gut“, meinte das Mädchen.

Nein, wird es nicht. Nichts wird gut.

Nach einer gefühlten Ewigkeit blieben wir stehen. Ich hörte, wie die Tür des Wagens geöffnet wurde.

„Marsch, nicht so langsam!“, rief jemand zu uns herein.

Die Halbblute neben mir bewegten sich.

„He, bist du taub, Junge? Bewegung!“

Ich schaute zur offenen Tür. Der Mann, der dort stand, fixierte mich mit seinem harten Blick. Ich war der Letzte im Wagen.

„Sind deine Ohren etwa ebenso missgebildet wie dein Auge?“

Ich trottete auf ihn zu. Er packte mich am Arm und zog mich hinaus. Draußen hörte ich lautes Geheul. Schreie. Es waren Kinder, die nach ihren Eltern schrien. Die um Vergebung flehten. In jenem Moment, in dem sie an riesige Pfähle gebunden wurden. Pfähle, die von gebündelten Holzscheiten umgeben waren. Während der Mann mich zu einem der Pfähle stieß und begann, mich festzubinden, dachte ich ebenfalls an meine Mutter. Sie hatte mir immer gesagt, mein goldenes Auge erinnere sie an eine Sonne. Eine leuchtende, alles erhellende und wärmende Sonne. Es bereitete mir oft Schwierigkeiten. Ich sah Dinge, die ich nicht sehen wollte. Und es verging kein Tag, an dem ich keine Kopfschmerzen hatte von all den Eindrücken. Doch meine Mutter versuchte, mir immer wieder einzubläuen, wie wunderschön dieses Auge war. Und dann dachte ich an meinen Vater, der einfach verschwunden war. Und wider Erwarten war das erste Gefühl, das sich durch meine Taubheit durchkämpfte, keine Angst, sondern Wut. Der Gedanke an meinen Vater machte mich wütend. Er hatte uns allein gelassen. Dabei war sein Blut doch der Grund, weshalb wir nun in dieser Lage waren.

Meine Gedanken verfielen, als ich Lilly erneut erblickte. Eine Wache war dabei, sie an den Pfahl neben mir zu binden. „Lilly!“, rief ich, so laut ich konnte.

„Bruder! Bitte, ich will zu meinem Bruder!“, rief Lilly unter Tränen zurück.

Die Wache hielt inne und schaute zwischen Lilly und mir hin und her. Nach kurzem Zögern löste er Lillys Fesseln und zerrte sie zu mir herüber. „Habt ihr ein Glück. Ich bin vermutlich der Einzige, der euch diesen Gefallen tun würde“, murmelte er, während er Lilly direkt neben mir am Pfahl platzierte und dort fesselte.

Gefallen. Der Mann wusste offensichtlich nicht, was er dort redete. Hätte er uns einen Gefallen tun wollen, hätte er uns einfach freigelassen.

„Sie machen Feuer, Doran“, wimmerte Lilly und schaute ängstlich die Reihe der Pfähle entlang zu einem Mann, der eine Fackel entzündete.

„Ich weiß“, antwortete ich nur. Ich hätte sie gerne aufgemuntert. Doch mir kamen keine aufmunternden Worte mehr in den Sinn.

Als das Feuer brannte, entbrannte auch Jubel im Volk. In dem widerlichen Volk, das vor uns stand und tatenlos zusah. Und sich freute.

„Verbrennt die Verräterbrut!“

„Nieder mit dem magischen Volk!“

Das waren die Worte, die sie brüllten.

Ich starrte sie an. Auch als ich grausame Schmerzensschreie hörte, starrte ich sie noch an.

Lilly heulte. „Bruder!“, weinte sie.

„Sieh nicht hin“, riet ich ihr.

„Aber ich höre sie“, jammerte sie weiter. „Sie werden uns auch verbrennen. Er kommt näher. Der Mann mit der Fackel, er…“

„Sieh nicht hin!“, unterbrach ich sie barsch. Denn ich spürte, dass mit jedem Wort, das sie sagte, meine Angst wieder stärker wurde und sich zu der Wut gesellte. Die Angst, die ich nicht spüren wollte.

Sie sagte kein Wort mehr. Doch sie weinte noch immer leise. Und ich spürte ihr Zittern neben mir.

Und dann kam die Hitze. Eine nicht zu ertragende Hitze. Lilly schrie. Lilly stirbt nicht, sagte ich mir immer wieder. Ich musste darauf vertrauen, dass mein Auge mich nicht im Stich ließ. Lilly würde überleben. Sie musste überleben! Dichter Rauch vernebelte meine Sicht. Ich hustete. Jetzt brach die Angst vollends durch. Angst und Panik. Mir war heiß. Und ich bekam keine Luft. Ich hörte Lillys Schreie. Und das Knistern des Feuers. Und wilde Rufe aus dem Volk. Ich konnte nicht mehr denken. Doch obwohl mein Gehirn unter dem Sauerstoffmangel kaum noch funktionieren wollte, ließ mich ein Ruf aus der Menge aufhorchen: „Feuergeister!“ Der Ruf war lauter und klarer als alle anderen. Und er war voller Panik.

Feuergeister. Waren Feuergeister hier? Konnte das sein?

Lillys Schreie. Hitze.

Hilfe. Ich wollte rufen, doch als ich das Wort mit den Lippen formte, kam kein Ton heraus.

Und dann wurde meine Welt schwarz.

Doran

Подняться наверх