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DAS HERZ EINES WOLFS

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Der letzte Schrei, den ich in der Nacht hörte, war mein eigener, als ich schweißgebadet erwachte. Kurz darauf erschien Amber in meinem Zimmer. „Doran, was ist passiert?“, fragte sie mich geschockt.

Ich atmete schwer. Dann schüttelte ich den Kopf. „Nichts. Ich habe nur schlecht geträumt.“

„Soll ich dir einen heißen Tee machen?“, bot Amber mir an. „Das beruhigt Körper und Geist.“

In dem Moment, in dem ich dankbar nickte, wirbelte ein roter Lichtstreifen um Ambers linke Hand. „Pass auf, dass du dich nicht verbrühst, wenn du den Tee aufgießt“, sagte ich.

Sie schaute mich kurz irritiert an, dann verließ sie den Raum. Ich schloss die Augen. Heute würde ein schlimmer Tag werden. Ich war unausgeschlafen. Die Farben tanzten wild und grell vor meinem goldenen Auge. Ich öffnete die Augen erst wieder, als ich hörte, wie der Vorhang beiseitegeschoben wurde. Amber trat ein. Sie hielt einen Becher in der rechten Hand. Die linke war mit einem feuchten Stofftuch umwickelt. Ohne ein Wort zu sagen, stellte sie den Becher neben mir auf einen kleinen Tisch. Dort blieb sie stehen, hielt sich die verhüllte Hand und schaute eine Weile schweigend auf diese herab. Dann sah sie mich an. Durch ein buntes Farbenmeer aus Verwirrung, Überraschung, Skepsis und Bewunderung. „Ich habe mir beim Teekochen die Hand verbrannt“, sagte sie. Sie stellte diese Tatsache einfach in den Raum. Doch ein gewisser Unterton verlangte eine Erklärung, als wäre ich schuld daran, dass sie sich verletzt hatte.

Beschämt schaute ich auf meine Bettdecke.

„Doran, wusstest du, dass ich mich verbrennen würde?“

Ich reagierte nicht.

„Du bist ein Seher! Bei der Feuergöttin Fulvia! Weißt du, wie selten deine Gabe ist?“

Je begeisterter Amber klang, desto unwohler fühlte ich mich.

„Was kannst du noch alles sehen?“, fragte sie mich.

Nun verkrampfte sich endgültig alles in mir. „Mal dies, mal das“, antwortete ich ausweichend. Ich sehe, was die Leute lieben. Ich sehe, was sie hassen. Ich sehe, wie sie heißen. Ich sehe, wo sie herkommen. Ich sehe ihre Zukunft. Ich sehe ihren Tod.

Zum Glück schien Amber endlich zu merken, dass ich ihre Begeisterung nicht teilen konnte. „Kann ich dir noch etwas Gutes tun?“

Ich schüttelte den Kopf.

„In Ordnung, Doran. Dann lasse ich dich erst einmal wieder allein. Ich hoffe, du kannst nach dem Tee noch ein wenig schlafen.“ Amber wartete noch kurz auf eine Antwort. Als ich ihr keine gab, ging sie langsam hinaus. Ich nahm den Tee von meinem Tisch und pustete, um das Getränk abzukühlen. So saß ich da, nahm immer mal wieder kleine Schlucke und beobachtete dazwischen den vom Becher aufsteigenden Dampf, bis es draußen hell wurde und der Becher leer war.

„Frühstück!“ Kaya kam hereingeschneit und brachte ein Tablett mit einer Schüssel und einem Becher darauf mit. Sie stellte es mir auf den Schoß. In der Schüssel erkannte ich Haferbrei mit Beeren und der Becher war erneut mit Tee gefüllt. „Wie fühlst du dich?“, fragte Kaya.

„Müde“, antwortete ich knapp und nahm den Löffel neben der Schale in die Hand, um damit im Brei herumzurühren.

Kaya entging die Geste nicht. „Magst du keinen Haferbrei?“

„Doch.“ Ich nahm einen Löffel. Eigentlich mochte ich Haferbrei wirklich. Mutter hatte ihn oft gekocht. Vielleicht schmeckte er mir genau deshalb diesen Morgen nicht.

„Hm… Fühlst du dich bereit, deine Schwester zu besuchen?“

Auf einmal war ich hellwach. „Darf ich denn?“

Kaya lächelte und nickte. „Wenn du möchtest, können wir nach dem Frühstück gemeinsam zu ihr gehen, Ich komme einfach gleich wieder, wenn du…“

„Warte!“, unterbrach ich sie und schaufelte plötzlich so schnell wie möglich den Haferbrei aus der Schale.

„Ganz in Ruhe. Verschluck dich nicht!“, mahnte Kaya. Doch da hatte ich mein Frühstück bereits verputzt.

„Fertig!“, sagte ich, nachdem ich auch den Tee ausgetrunken hatte. Ich stellte das Tablett auf den Tisch, schlug die Bettdecke zur Seite und sprang auf. Mir wurde schummrig.

Kaya umklammerte meinen Arm, als ich zur Seite taumelte, um mich zu stützen. „Nicht so hastig, junger Mann! Ich lasse dich nur zu deiner Schwester, wenn du mir versprichst, vorsichtig zu sein und auf dich zu achten.“

Ich nickte. „Entschuldigung.“

Sie begleitete mich hinaus. Mit nackten Füßen trat ich in weiches, tiefgrünes Gras. Vor mir erstreckte sich eine grüne Landschaft mit hohen Bäumen, in denen teilweise Baumhäuser hingen. Und zwar waren das keine gebauten Häuser. Sie waren in die Bäume hineingewachsen, bestanden aus ineinander verschlungenen Ästen und Zweigen. Inmitten der Baumschar ragte ein felsiger Berg zum Himmel empor. Es war der Feuerberg. Er war so hoch, dass man ihn sogar von der Stadt aus sehen konnte. Doch von hier aus wirkte er noch sehr viel imposanter. Ich war ein einziges Mal im Tal der Feuergeister gewesen. Mein Vater hatte mich mal mitgenommen. Da war ich drei Jahre alt gewesen. Ich konnte mich nicht wirklich daran erinnern.

Kaya führte mich an einer Reihe identisch aussehender Hütten vorbei. Am Ende der Reihe blieben wir stehen. Vorsichtig schob Kaya den roten Vorhang beiseite. „Hallo, Lilly. Ich habe Besuch mitgebracht.“

Kaya winkte mich heran. Unsicher betrat ich die Hütte. Erschrocken blieb ich im Eingang stehen, als ich das kleine Mädchen auf dem Bett sitzen sah. Sie starrte mich aus großen braunen Augen an. Ihre rechte Gesichtshälfte war eine einzige Wunde. Die Haut leuchtete teils rot, teils war sie weiß verfärbt. Und ihre Haare waren kürzer, als ich es in Erinnerung hatte.

„Bruder“, sagte sie leise.

Ich ging langsam zu ihr und setzte mich neben sie auf einen Hocker. Ich nahm ihre Hand und drückte sie fest. „Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin da. Wir sind in Sicherheit.“

„Ist Cuinn auch hier?“, fragte Lilly hoffnungsvoll.

Ich antwortete nicht. Musste ich auch nicht. Lilly verstand mich auch ohne Worte.

„Wie geht es dir?“, fragte ich sie stattdessen.

„Besser als gestern“, sagte sie.

Doch den dunklen Farben, bis hin zu schwarz, die sie umgaben, konnte ich ablesen, dass das immer noch weit entfernt von gut war.

„Er ist weggelaufen“, murmelte Lilly so leise, dass ich mich anstrengen musste, um sie zu verstehen. „Ich war nicht schnell genug.“ Jetzt fing sie an zu schluchzen. Tränen rannen über ihr verbranntes Gesicht. „Ich musste ihn loslassen, weil ich nicht schnell genug war. Ich hätte ihm folgen müssen, aber ich habe es nicht geschafft.“

Vorsichtig rutschte ich von meinem Hocker auf ihre Bettkante und nahm sie in den Arm, wohl bedacht darauf, ihre Wunde nicht zu berühren. Etwas unbeholfen strich ich ihr über den Kopf, um sie zu trösten. Eigentlich hatte Cuinn das immer gemacht, wenn es Lilly nicht gut ging. Es war ein seltsames Gefühl, plötzlich der einzige große Bruder zu sein. „Mach dir keine Vorwürfe. Jetzt ist alles gut.“

„Glaubst du, er sucht nach uns?“, fragte Lilly und schniefte.

„Bestimmt tut er das“, versuchte ich, Lilly zu beruhigen. Ich hoffte es. Ich hoffte so sehr, dass er noch am Leben war und wir ihn wiedersehen würden.

Lilly und ich saßen eine ganze Weile so da, Arm in Arm. Bis Kaya uns unterbrach.

„So, ihr beiden. Ihr solltet euch wieder ausruhen. Doran, wenn du magst, kannst du heute Abend noch einmal nach deiner Schwester sehen. Wie klingt das?“

Langsam löste ich mich von Lilly und nickte Kaya zu. „Ja, gerne.“

„Ich will hier nicht alleine sein“, schluchzte Lilly. „Kann mein Bruder nicht bei mir bleiben?“

Kaya ließ ihren Blick von Lilly zu mir und von mir durch den Raum schweifen. „Unsere Hütten sind leider nur für ein Bett gemacht, aber wir könnten probieren, ob zwei hier…“

„Schon gut“, wandte ich ein. „Macht euch keine Umstände.“ Ich schaute zu Lilly. „Ich komme einfach heute Abend wieder.“

Lilly griff nach meiner Hand und hielt sie fest.

„Lilly“, seufzte ich. Ich spürte tatsächlich, dass ich mich selbst auch ausruhen musste. Ich konnte nicht bei ihr bleiben. „Kannst du noch bis zwanzig zählen?“, fragte ich sie.

Sie legte den Kopf schief. „Ja. Eins, zwei, drei, vier, acht, ähm… sieben… nein, sechs…“

Ich lächelte sie ermutigend an. „Vier, fünf, sechs, sieben, acht… Mir scheint, du musst noch ein wenig üben. Wenn ich heute Abend wiederkomme, zählst du mir alle Zahlen bis zwanzig auf, in Ordnung? Ich weiß, dass du das kannst.“

Lilly nickte entschlossen. „Ja, bis heute Abend kann ich das, versprochen!“

„Prima.“ Als ich daraufhin aufstand, ließ sie endlich meine Hand los. Mir wurde etwas schwindelig beim Aufstehen. Vorsichtig tappte ich zu Kaya. Wir verabschiedeten uns von Lilly und gingen zurück in mein Zimmer, wo ich mich sofort erschöpft ins Bett verkroch.

„Du bist ein guter großer Bruder“, lobte Kaya mich, während sie die Decke ordentlich über meine Beine legte. „Es ist schön, dass du für deine kleine Schwester da bist.“

„Mhm…“, machte ich nur. Ein guter großer Bruder.

„Woran denkst du?“, fragte Kaya.

Ich schaute von meinen Beinen auf und blinzelte ein paarmal. „An meinen Bruder.“

Mitfühlend zog Kaya die Augenbrauen zusammen und setzte sich neben mich. „Du vermisst ihn sehr, oder?“

„Ja.“ Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „Aber ich bin auch wütend.“

„Warum?“

„Weil er versprochen hat, dass wir entkommen würden. Gemeinsam. Er hat versprochen, uns zu beschützen. Und dann ist er weggelaufen.“ Ich ballte die Hände zu Fäusten, dass meine Knöchel weiß wurden.

„Doran. Ich bin mir sicher, dass dein Bruder das nicht böse meinte. Er hatte sicher auch große Angst. Und wenn man Angst vor etwas hat, dann läuft man oft davor davon“, meinte Kaya.

„Ich wäre nicht ohne Cuinn und Lilly davongelaufen“, entgegnete ich matt.

Kaya legte mir eine Hand auf die Schulter. „Das glaube ich dir. Und du darfst auch wütend sein. Aber zu viel Wut kann dich krank machen.“

„Und was kann ich gegen die Wut machen?“

„Was hast du denn bisher gemacht, wenn du wütend warst?“, wollte Kaya wissen.

„Wenn ich wütend auf Cuinn war, habe ich ihn entweder angeschrien oder ihn ignoriert. Aber das kann ich beides nicht tun, weil er nicht da ist.“

Kaya schmunzelte. „Da hast du recht. Aber weißt du, was du auch machen kannst, wenn er nicht da ist?“

„Was?“, fragte ich erwartungsvoll.

„Ihm verzeihen. Vergebung ist die beste Medizin gegen Wut.“

Vergebung? Wie sollte ich Cuinn verzeihen, dass er Lilly und mich verlassen hatte? Und überhaupt war es mir ein Rätsel, wie Vergebung gegen Wut helfen sollte.

Kaya schien zu merken, dass ich über ihre Worte nachgrübelte und erhob sich, um mich mit meinen Gedanken alleine zu lassen.

Ob Cuinn da draußen irgendwo durch den Wald lief? War er überhaupt wirklich entkommen? Ich zerbrach mir den ganzen Vormittag den Kopf darüber. Bis Kaya wieder mein Zimmer betrat. Die nächste Mahlzeit des Tages stand an. Es war öde, den ganzen Tag über nur von Mahlzeit zu Mahlzeit zu leben. Mein Mittagessen bestand aus Graupen und Gemüse.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Kaya, während sie meinen Becher mit Wasser füllte.

„Gut“, antwortete ich. Das stimmte sogar einigermaßen. Körperlich fühlte ich mich von Stunde zu Stunde besser.

„Möchtest du nach dem Essen die Gegend ein wenig erkunden? Wir könnten einen kleinen Spaziergang machen. Natürlich nur so weit du es schaffst“, bot Kaya mir an.

„Ja!“, antwortete ich hastig. Mir fiel die Decke auf den Kopf. Draußen durch das Grün zu streifen, klang nach einer guten Alternative zum Krankenbett.

„Notfall!“, hörte ich plötzlich jemanden von draußen schreien.

„Entschuldige mich, bitte.“ Kaya hatte die Worte kaum ausgesprochen, da war sie schon hinter dem Vorhang verschwunden.

Artig aß ich mein Mittagessen, Löffel für Löffel, obwohl es sich anfühlte, als hätte der Notruf Steine in meinen Magen gelegt. War womöglich Lilly etwas passiert?

Als Kaya wiederkam, hatte ich meine Schale leer gelöffelt. Die Pflegerin trug einen dunklen Farbschleier mit sich in den Raum. Ausnahmsweise waren es mal keine grellen Farben, die mir Kopfschmerzen bereiten. Eher war es der groteske Kontrast zwischen den dunklen Farben, die Kaya umgaben, und dem Lächeln, das sie im Gesicht trug.

„Wenn du möchtest, können wir jetzt spazieren gehen“, schlug sie vor.

Doch plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob sie den Spaziergang mir zuliebe machen wollte oder ihn selbst viel dringender brauchte. „Was ist passiert?“, fragte ich. Ich brachte die Worte kaum über die Lippen. Denn ich wusste längst, was geschehen war. Die Farben flüsterten mir zu.

„Es ist alles in Ordnung“, wich Kaya aus. „Hat das Essen geschmeckt?“ Sie nahm das Tablett von meinen Beinen und stellte es auf den Tisch neben dem Bett. Dann reichte sie mir eine Hand, um mir aufzuhelfen.

Ich nahm sie nicht, schaute sie stattdessen nur misstrauisch an. „Warum lügst du mich an? Mutter hat mir immer gesagt, man darf nicht lügen.“

Kaya lächelte mir müde zu. „Recht hat sie gehabt.“ Sie hockte sich neben mich und strich mir die braunen Strähnen aus dem Gesicht, die vor meinem goldenen Auge hingen. „Manchmal verwenden Leute aber kleine Notlügen, um es sich selbst oder anderen leichter zu machen.“ Sie betrachtete mein goldenes Auge. „Aber mir scheint, dass ich dir nichts vormachen kann, Seher.“ Ihr entfuhr ein tiefes Seufzen, während sie ihre Hand zurückzog und sich wieder aufrichtete. „Ich fürchte, deine Schwester und du seid nun die einzigen Halbblute, die übrig geblieben sind.“ Betrübt senkte sie den Blick. „Es tut mir leid.“

Mein Mund wurde trocken, als sie die Worte aussprach. Obwohl ich bereits gewusst hatte, dass sie soeben mit angesehen hatte, wie ein Halbblut seinen Verletzungen erlegen war. „Lilly und ich… sind die Einzigen?“

Kaya nickte.

Ich dachte an die vielen Kinder, die mit uns gemeinsam eingesperrt gewesen waren. Die mit uns gemeinsam gelitten hatten. Mit denen ich mich teilweise angefreundet hatte. Leon. Sie alle sollten… tot sein? Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein. Mir wurde schlecht.

„Komm, wir gehen spazieren.“ Kaya streckte erneut ihre Hand nach mir aus. Diesmal nahm ich sie zögerlich und ließ mich von ihr aus dem Bett ziehen. Ich folgte ihr hinaus in die grüne Landschaft. Die Aussicht beruhigte mich ein wenig. Ich spürte neugierige Blicke auf mir, während wir durch das Tal liefen. Wir trafen auf einige Feuergeister, die Kaya freundlich grüßten. Sie zeigte mir den Marktplatz, auf dem sich die Bewohner des Tales nur so tummelten. Am Stand eines Holzschnitzers blieb ich stehen. Bewundernd beobachtete ich, wie der Mann in seinem Standzelt auf einem Hocker saß, inmitten von Holzspänen, und mit einem Messer die detailreichsten Figuren schnitzte.

„Gefällt dir das?“, fragte Kaya.

Ich nickte. Mittlerweile erkannte ich, dass der Mann gerade eine Drachenfigur anfertigte, die etwa so groß wie seine Hand war. „Das möchte ich auch können.“

Der Mann hielt inne und schaute von seiner Arbeit auf. Obwohl er mich mit einem warmen Lächeln begrüßte, spannte ich mich unter seiner Aufmerksamkeit an. „Soll ich dir ein paar Handgriffe zeigen, Junge?“

Ich war überrascht von seinem Angebot. Unsicher schaute ich zu Kaya.

„Möchtest du?“, fragte sie.

Wieder nickte ich.

„Na, dann komm mal her.“ Der Mann winkte mich zu sich. Er erhob sich kurz, um das Kissen, auf dem er auf dem Hocker saß, hervorzuziehen und vor sich auf den Boden zu legen. „Setz dich nur.“

Ich tat, wie mir geheißen und machte es mir auf dem Kissen gemütlich.

„Was hältst du davon, wenn ich dich hier zum Abendessen wieder abhole?“, fragte Kaya.

Ich schielte zu dem Schnitzer. Denn ich war der Meinung, dass nicht ich das zu entscheiden hatte, sondern er.

„Meinetwegen kannst du so lange bleiben, wie du magst“, sagte er.

Kaya deutete mein daraufhin aufblitzendes Lächeln richtig: „Dann sehen wir uns später wieder, Doran.“

Ich schaute ihr nach, wie sie über den Markt zurück zu den Heilerhütten ging. Als ich mein Gesicht wieder dem Mann zuwandte, schwebte direkt vor meiner Nase ein Holzgriff. Er gehörte zu einem kleinen Schnitzmesser, das der Mann mir entgegenstreckte. Ich starrte unsicher darauf.

„Nimm nur! Ohne Messer gestaltet sich das Schnitzen schwierig“, lachte der Mann.

Ich legte meine Hand um den hölzernen Griff und nahm das Messer entgegen. Die Sonne ließ die scharfe Klinge aufblitzen. Ich dachte daran, dass diese Klinge nahezu wie ein Schmuckstück war: Rein und funkelnd wie ein Diamant.

„Doran ist also dein Name“, sagte der Mann ruhig.

Ich nickte.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Doran. Ich bin Bryos. Hast du schon einmal so ein Werkzeug in der Hand gehabt?“

Ich schaute wieder auf das Messer in meiner Hand. „Ich glaube, noch keines war so scharf wie dieses.“

Bryos lächelte. „Hier kommt deine erste Lektion: Ein guter Holzschnitzer kümmert sich gut um seine Messer. Eine gut geschärfte Klinge schneidet durch Holz wie Butter. Eine stumpfe Klinge bringt dem besten Schnitzkünstler nichts.“

Ich nickte.

Bryos deutete auf einen großen, robust aussehenden Sack, der neben ihm stand. „Such dir ein Stück Holz aus.“

Ich krabbelte zu dem Sack und wühlte darin herum. Bryos besaß Holzstücke in etlichen Formen und Größen. Ich entschied mich für ein nicht zu kleines, aber dennoch handliches, quaderförmiges Stück und setzte mich damit zurück auf mein Kissen.

„Gut. Halt das Messer so, siehst du?“ Er beugte sich zu mir und zeigte mir, wie sein Messer in seiner Hand lag. „So ist es gut. Und schneide von deinem Körper weg. Ich möchte dich nachher nicht mit neuen Wunden an Kaya übergeben. Hast du dir überlegt, was du schnitzen möchtest?“

Ich zeigte mit dem Finger auf einen Wolf, der auf dem Verkaufstisch stand. „Den finde ich schön.“

Bryos lachte. „Da hast du dir aber was vorgenommen. Vielleicht solltest du mit etwas Leichterem anfangen.“

Doch ich schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich möchte einen Wolf schnitzen.“

Bryos hob eine Augenbraue. „Na gut, wie du willst. Dann schnitzen wir jetzt zusammen einen Wolf.“ Er zeigte mir zunächst ein paar verschiedene Schnitztechniken. Dann ließ er mir die Freiheit, mich einfach auszuprobieren. „Aber ich will kein Gejammer hören, wenn dein Wolf Klumpfüße bekommt.“

Ich grinste. Ich mochte Bryos. Auch wenn er sich lustig über mich machte. Ich mochte die Farben, die ihn umgaben. Manche Wesen trugen ein grell leuchtendes Farbfeuer mit sich herum, dass es schmerzte, sie anzusehen. Bryos aber saß dort vor mir zwischen warmen Rot-, Orange- und Violetttönen, die allesamt weich und sanft waren, sodass ich mich mit jeder Minute wohler in seiner Nähe fühlte. Es war lange her, dass ich mich an einem Ort sicher gefühlt hatte. Doch hier tat ich das. Während ich das Messer durch das Holz gleiten ließ und Schicht für Schicht von meinem Holzklotz abtrug, vergaß ich alles um mich herum. Ich vergaß die Zeit, ich vergaß, dass ich nicht zu Hause war, ich vergaß, dass ich vor wenigen Tagen noch auf einem Scheiterhaufen gefesselt gewesen war und ich vergaß meine Wut auf meinen Bruder. Zwischendurch registrierte ich, wie Bryos seinen Platz verließ, um Interessenten zu begrüßen, zu beraten und seine Ware zu verkaufen. Aber in keiner Sekunde wandte ich meinen Blick vom Holz ab. Ich hatte den Wolf vor Augen. Ich konnte ihn ganz genau in diesem Stück Holz sehen. Den Kopf mit den spitzen Ohren, die Struktur des Fells auf seinem Körper. Ich wusste nicht, wie lange ich an meinem ersten Werk saß. Als ich glaubte, fertig zu sein, hielt ich die Holzfigur in der Hand und drehte sie hin und her, um sie von allen Seiten zu betrachten und auf noch vorhandene Mäkel zu untersuchen. Ich wurde unterbrochen, als Bryos mir die Figur aus der Hand nahm. Überrascht und etwas erschrocken schaute ich zu ihm auf.

Er studierte die Figur wie ich zuvor aus jedem Winkel. Dann sah er mich an. „Du hast ein gutes Auge. Und beachtliches handwerkliches Geschick.“ Er stellte meinen Wolf neben den, der noch immer auf dem Tisch stand. Hätte ich nicht gewusst, welcher meiner war und wären die Holzstücke nicht unterschiedlich gemasert gewesen, hätte ich sie nicht voneinander unterscheiden können.

„Und du hast wirklich noch nie geschnitzt?“, hakte Bryos noch mal nach.

„Nein, wirklich nicht“, schwor ich.

Bryos lächelte und gab mir den Wolf zurück. „Dann hast du meinen größten Respekt, mein Junge. Schau mal, Kaya erwartet dich.“ Er nickte zum Marktplatz.

Tatsächlich kam Kaya gerade auf uns zu. „Hallo Doran! Und hast du Spaß gehabt?“

„Schau mal, was ich gemacht habe!“ Stolz stand ich auf und streckte ihr den hölzernen Wolf entgegen.

Kayas Augen weiteten sich. „Den… hast du gemacht?“, fragte sie ungläubig.

Ich nickte.

„Der ist wunderschön geworden“, lobte Kaya meine Arbeit, was mich umso stolzer machte.

„Danke, dass ich mit dir schnitzen durfte, Bryos“, sagte ich zum Abschied und reichte ihm das Schnitzmesser zurück.

Doch statt es entgegenzunehmen, legte er nur seine großen schwieligen Hände um meine und den Messergriff und drückte sie. „Behalt es. Dieses Messer gehört in deine Hände.“

Beeindruckt sah ich zu, wie seine Farben vor Warmherzigkeit bunte Funken sprühten. „Danke“, murmelte ich.

„Komm wieder und ich zeige dir, wie du es richtig schleifst“, bot Bryos mir mit einem Augenzwinkern an.

„Oh ja!“, rief ich begeistert.

Nachdem auch Kaya sich bei Bryos bedankt hatte, spazierte sie mit mir zurück zur Hütte. Schon jetzt konnte ich es kaum erwarten, Bryos wieder zu besuchen.

Doran

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