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KAPITEL 3 Plötzlich alles ganz anders

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Eigentlich habe ich mich von Anfang an allein um die Kinder gekümmert. Ich war mit Jonas hochschwanger, als wir geheiratet haben. Mein damaliger Mann war beruflich stark eingespannt, er ist als Ökonom in einer leitenden Position tätig. Ein gefragtes Berufsfeld. Er hat viel gearbeitet, und ich habe mich um die Kinder gekümmert. Ganz klassisch eigentlich. Ich habe das gern gemacht mit den Kindern. Und ich habe das auch gut gemacht. Bevor die Kinder zur Welt kamen, habe ich als Architektin in einem großen Büro in Stuttgart gearbeitet. Studiert habe ich in Zürich, inklusive zweier Auslandssemester in Mailand. Später habe ich noch promoviert. Meine Eltern haben mir mitgegeben, man soll beruflich etwas machen, bei dem man mit dem Herzen dabei ist. Und das habe ich gemacht. Ich lerne gerne. Das hat mir immer schon Spaß gemacht. Lernen und Lernprozesse finde ich ganz enorm wichtig.

Für mich war es damals in Ordnung, dass mein Mann sich eher um seine Karriere gekümmert hat. Ich habe mir gedacht, wir machen das so: Jetzt ist er erst mal dran. Und wenn er dann beruflich etabliert ist, dann kann ich auch wieder arbeiten. Das war für mich okay. Es ist dann anders gekommen.

Er hatte beruflich viele Optionen. Kurz hieß es mal, wir gehen nach Spanien; dort waren wir dann aber nur wenige Tage, um zu sehen, ob und wie es sich dort leben lässt. Es war dann allerdings von der Stelle her doch nicht geeignet. Später bin ich mit ihm und zwei kleinen Kindern wegen seines Jobs nach Kanada gegangen. Dort sind wir einfach hingeflogen, mit Kind und Kegel, ohne uns Haus und Gegend vorher angesehen zu haben. Er hatte vorher monatelang mit der Firma verhandelt und eine gute Position und einige Mitarbeiter bekommen. Für ihn war es ein Karrieresprung.

Ich habe ihm den Rücken freigehalten, war das Backoffice. Er war oft auf Geschäftsreise. Manchmal sind wir mitgekommen, manchmal nicht. Es war okay, einige Jahre lang. Diese Konstellation hat allerdings dazu geführt, dass ich zu Hause alles allein gemacht habe.

Ich wusste deshalb immer schon, wenn ich etwas unternehmen will, dann muss ich es allein machen. Aber das finde ich nicht schlimm, ich habe mich ein bisschen daran gewöhnt. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass ich mir diese Schiffsreise überhaupt zugetraut habe. Ich habe noch nie erwartet, dass mir einer hilft, einen Reifen zu wechseln oder Schneeketten aufzuziehen oder den Müll runterzutragen. Wenn etwas zu tun ist, dann frage ich auch nicht lange rum: »Meint ihr, das ist eine gute Idee?« In der Zeit habe ich es schon selbst gemacht. Natürlich gehören dazu auch Rückschläge, gehört es dazu, Fehler zu machen. Das ist mir so was von wurscht. Fehler sind Teil eines Lernprozesses. Ich probiere Sachen einfach aus. Wenn ich Schneeketten aufziehe, und dann schlägt das so, dann bleibe ich halt stehen und denke mir, okay, das war jetzt nicht richtig. Und dann versuche ich es noch einmal. Aber ich halte mich nicht lange damit auf, zu überlegen, mache ich das jetzt oder doch nicht oder frage ich irgendwen, ob er das machen kann. Nein. Ich frage höchstens, wie es geht, und dann probiere ich das aus.

Als ich mit dem dritten Kind schwanger war, erkrankte meine Mutter an ALS, einer unheilbaren Nervenkrankheit. Daraufhin haben mein damaliger Mann und ich eigentlich gemeinsam beschlossen, dass wir zurück nach Österreich gehen. Ich hatte mir in Kanada einen Freundeskreis aufgebaut. Aber meine Familie hat mir schon gefehlt. Und ich wollte meiner Mutter helfen und meinen Vater unterstützen.

Mein Mann hatte eine Arbeitsstelle in der nahegelegenen Großstadt in Aussicht. Wir wollten mein Elternhaus umbauen, also, es sah eigentlich ganz gut aus. Es ist dann allerdings ganz anders gekommen. Und wir haben uns getrennt.

So saß ich plötzlich Ende August Mitte der Nullerjahre in unserem österreichischen Bergdorf, im Haus meiner Eltern, schwanger mit dem dritten Kind und alleinerziehend. Vincent war drei und kam in den Kindergarten. Jonas war im August gerade erst fünf geworden. Er hatte bereits in Kanada einen Kindergarten besucht. Von dort hatte ich immer Berichte bekommen, dass Jonas sehr beweglich und aktiv sei, sich aber nicht so gut artikulieren könne. Ja, na gut, er konnte halt kein Englisch, dachte ich mir. Und als es dann darum ging, ob Jonas noch mal in den Kindergarten soll oder schon in die Grundschule, da sagte die Dorfschullehrerin: »Den tu ruhig in die Schule. Der kann bis zwanzig zählen. Den brauchst du nicht noch mal in den Kindergarten schicken.«

Da dachte ich mir, die macht das seit dreißig Jahren, die wird es schon wissen, sie wird mir schon das Richtige raten. Und wenn es nicht geht, dann kann Jonas ja immer noch in den Kindergarten. Was ich aber nicht wusste: Sie hat einfach noch einen Schüler gebraucht. Denn es müssen fünf Kinder sein, sonst können sie in der Dorfschule keine Klasse aufmachen. Und da war Jonas dann in der ersten Klasse mit drei Sechsjährigen und mit Mohammed, der war schon zehn und konnte kein Deutsch. Die Lehrerin musste Jonas einfach behalten, damit die Klasse zustande kommt. Das war keine wirklich ideale Startkombination für ihn.

Aber ich hatte auch alle Hände voll zu tun. Meine Mama war todkrank. Ich war schwanger mit Max, er ist im April auf die Welt gekommen. Das war eine sehr anstrengende Zeit mit einem Baby, zwei kleinen Kindern und einem Pflegefall samt Piepgeräten. Mein Onkel vom Hotel hat Essen für uns organisiert. Es kamen Familienhelferinnen, die haben mit Jonas Hausaufgaben gemacht. Mein Ex-Mann hatte inzwischen eine Stelle in Frankfurt am Main und war nicht da. Ich hatte aber sowieso den Kopf voll anderer Dinge. Ich konnte in dieser Situation nicht vor und nicht zurück. Anderthalb Jahre nach meiner Rückkehr ins Dorf ist meine Mutter dann gestorben.

In der Grundschule lief es bei Jonas mittelmäßig. Was ich von der Lehrerin hörte, war, dass er vieles schon konnte und vieles schnell begriff, aber auch häufig den Unterricht störte. Deshalb hatte ich zwischendurch sogar mal die Idee, Jonas zu Hause zu unterrichten, Homeschooling mit ihm zu machen. Ich dachte, das bringe ich ihm in zwei Stunden bei, wofür sie den ganzen Tag brauchen. Dann wäre die Lehrerin entlastet. Und er wäre happy, weil er nicht hinzugehen bräuchte. Aber das ging rechtlich nicht. Also mussten wir da irgendwie durch. In der zweiten Klasse wurde Jonas dann das erste Mal psychologisch getestet. Da war dann ziemlich schnell klar: Er hat ADHS.

Das ist ja im Augenblick fast so eine Modediagnose, aber Jonas hat das wirklich. Es handelt sich um einen zu niedrigen Dopamin-Spiegel im Hirn. Und der führt dazu, dass Jonas manchmal die schwierigsten Sachen sofort kann. Und dann wieder einfachste Dinge überhaupt nicht. Mal ist es hell, dann ist da wieder nichts. Er hat eine Konzentrationsspanne zwischen ein paar Sekunden und ein paar Minuten. Auf jeden Fall keine, die einer Schulstunde entsprechen würde. Bisweilen hat er total geniale Inseln, mit denen die Lehrer gar nicht klarkommen. »Wieso kann er das jetzt auf einmal?«, fragen sie sich, und das ärgert sie dann. Man kann es ja verstehen: Wenn einer nie zugehört, keine Hausaufgaben gemacht hat, nichts, dann aber einen Test mit null Fehlern schreibt, dann wissen die Lehrer nicht, wie sie damit umgehen sollen und denken sich: »Na gut, dann hat er wahrscheinlich abgeschrieben.« Auf jeden Fall werden sie grantig, und das ist selten gut.

Diese Diagnose gab es also schon relativ früh. Der Test wurde dann noch einmal wiederholt, als Jonas in der Mittelschule war. Mit identischem Ergebnis. In den Gutachten stand damals schon, dass Jonas ganz klare Strukturen braucht, dass es hilfreich für ihn ist, wenn Abläufe immer gleich sind. Manches Alltägliche ist enorm schwierig für ihn: Zum Beispiel kann er bis heute seine Schultasche nicht packen. Das Konzept »Was habe ich heute? Was muss ich dafür in die Schultasche reintun?«, das kann er nicht. Er nimmt einfach immer alles mit. Schuhe binden? Zu kompliziert. Er lässt sie offen. Das ist ja auch nicht lebensnotwendig.

Jonas ist sehr intelligent. Er konnte am besten von all meinen Söhnen Geige spielen, aber er konnte nie Noten lesen. In Österreich müssen alle Kinder in der Schule Blockflöte spielen lernen, also auch Jonas. Der Lehrer nahm ihm allerdings das Mundstück weg, weil er die ganze Zeit nur damit rumgefiept hat. Er sagte zu Jonas: »Du übst ohne.« Also hat Jonas nie richtig Blockflöte üben können. Mit akustischem Feedback. Zuhause hat er das sowieso nie gemacht. Und dann war irgendwann Prüfung. Das Kind, das vor ihm an der Reihe war, hat das Musikstück mit ein paar Fehlern gespielt. Als die Reihe an Jonas war, hat der Lehrer ihm das Mundstück auf die Flöte gesetzt, und Jonas hat das Stück mit genau den gleichen Fehlern gespielt, aber transponiert in irgendeine entlegene Tonart. Und der Lehrer hat gesagt:

»Ja, was soll ich jetzt da machen? Der ist genial, aber ich kann ihm trotzdem keine Eins geben, weil er nichts geübt und sich auch überhaupt nicht an die Regeln gehalten hat. Gut, zwischen Eins und Fünf, dann bekommt er jetzt einfach mal eine Drei.«

Und so war das immer. Jonas hat stets eine fürchterliche Handschrift gehabt. Aber wahnsinnig gute Ideen. Er hat einen Aufsatz geschrieben in der ersten oder zweiten Klasse, als er noch kaum schreiben konnte. Mit Lautschriftwörtern, die muss man laut lesen, damit man sie überhaupt verstehen kann. Dass er mit einem Raumschiff in die Steinzeit reist und ein Feuerzeug dabeihat und dort König wird wie bei den Wilden Kerlen. Und alles revolutioniert, die gesamte Geschichte ändert.

In den Jahren nach der Trennung haben Jonas, Vincent und Max ihren Vater nur in den Schulferien gesehen. Wir haben das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder. Aber gelebt haben die Jungs bei mir.

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