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KAPITEL 4 Normalität?
ОглавлениеLetzte Nacht lagen wir vor Anker. Es war sehr ruhig. Kein Geräusch. Nur gegen Morgen ein paar Vögel. Geweckt wurde ich von Sonnenstrahlen, kein Windhauch weit und breit. So entspannt ist alles, dass ich Zeit habe, nachzudenken. Immer noch bin ich wie in Habacht-Stellung. Wenn ich kurz zur Ruhe komme, so wie jetzt, frage ich mich schon, was ist eigentlich, wenn Jonas doch plötzlich austickt? Was, wenn er mir während eines Manövers kollabiert? Heute müssen wir unter der Storebælt-Brücke durchfahren. Da können wir es uns nicht leisten, dass etwas schiefgeht. Bisher läuft es fast zu gut. Zum Glück ist das Wetter sonnig und vergleichsweise angenehm. Gut, dass ich die Sonnencreme eingepackt habe.
Anker auf ohne Probleme. Das bisschen Schlick am Anker spülen wir mit dem Eimer ab, es ist fast kein Seegras dabei. Unter Motor fahren wir aus dem Svendborgsund und setzen bei sehr wenig Wind später die Segel. Zwischen Fyn und Langeland segeln wir Richtung Norden.
Jonas schläft jeden Tag bis elf Uhr. Am Anfang unserer Tour schien er mir fast süchtig nach seinen starken Medikamenten. Nachdem ich mir sämtliche Beipackzettel durchgelesen hatte, wurde mir ganz anders. Eine heftige Mischung aus Schlaftabletten und Aufputschmitteln. Kein Wunder, dass er mir vorkommt wie im lethargischen Wachschlaf. Wieso haben die ihm aus der Entzugsklinik solche Hämmer mitgegeben? Ich begreife das nicht. Ich denke darüber nach, ihm jeden Tag etwas weniger davon zu geben. Das kann ja nicht gesund sein. Er wirkt leicht retardiert, nicht richtig ansprechbar. Er hat auch irgendwie die Augen gar nicht ganz offen. Ich mache mich im Netz noch mal schlau und bespreche mich mit Peter. Denn natürlich ist Jonas so zugedröhnt auch zu müde zum Abhauen oder zum Randalieren. Das hat vielleicht auch Vorteile. Aber, da sind wir uns einig, diese Menge an Medikamenten ist zu viel. Ich versuche also, ihn davon zu überzeugen, weniger zu nehmen. Jonas sagt, er könne nicht schlafen und brauche deshalb unbedingt die Medikamente. Er hat aus der Klinik so eine Medikamentenbox mitbekommen, wie alte Leute sie haben, mit dem Aufdruck der Wochentage und Tageszeiten. Da waren schon in der Klinik immer die ganzen Pillen drin: blau, grün, lila.
»Es ist doch hier auf dem Boot völlig egal, wann du schläfst,« argumentiere ich. »Du kannst ruhig am Tag schlafen, kannst auch in der Nacht auf sein, das spielt ja keine Rolle. Kein Mensch muss hier in die Schule oder zur Arbeit, da kannst du ruhig schlafen, bis zum Nachmittag. Du brauchst keine Schlafmittel. Oder wenn, dann nimm halt erst mal nur eine Tablette, und dann gucken wir.«
Ich ahne schon, dass das kein kontrolliertes Absetzen der Medikamente sein wird. Jeder Arzt würde wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber wir versuchen das jetzt mal so.
Am Anfang der Reise hat Jonas kaum etwas gegessen. Dafür umso mehr geschlafen, geschlafen, geschlafen. Seit er aber weniger Medikamente nimmt, verdrückt er meistens doppelte Portionen. Eigentlich muss man es sogar so sagen: Er frisst. Jonas schaufelt das Essen nur so in sich rein. Zwischendurch kann ich kaum hingucken. Nach dem Essen ist alles in einem Bereich von rund dreißig Zentimetern um seinen Platz herum verwüstet. Reishäufchen liegen neben dem Teller, alles ist mit Soße vollgespritzt, Jonas hat Essen in den Haaren hängen. Ein Wahnsinn. Seine Feinmotorik ist nicht gut. Von Manieren wollen wir erst gar nicht reden. Ich muss mich ziemlich zusammenreißen, um nicht zu schimpfen, und sehe Peter an, dass es ihm mindestens ebenso geht. Aber, hey, Jonas isst wieder. Ich schaffe es, darüber hinwegzusehen, wie er das tut. Ich werte seinen gesunden Appetit als gutes Zeichen und vertage den Rest auf später.
Jonas raucht zwar noch, vielleicht aber nicht mehr ganz so viel. Zwischendurch fühlt es sich manchmal fast so an, als hätten wir einen völlig normalen Teenager an Bord. Allerdings stellt er bisweilen ziemlich kindliche Fragen, anhand derer man merkt, dass ihm bei grundlegenden Dingen tatsächlich der Überblick fehlt:
»Wann sind wir denn in Dänemark?«
»Jonas, wir sind schon lange in Dänemark. Das haben wir doch besprochen.«
Zwei Stunden später wieder:
»Kommen wir heute noch nach Dänemark?«
Auch fragt er immer wieder, wo wir hinfahren und wann wir ankommen, was ich ihm natürlich beantworte. Trotzdem ist mein Eindruck oft, dass er in dem Moment, in dem er die Frage ausgesprochen hat, schon nicht mehr wirklich an der Antwort interessiert ist. Ich frage mich dann immer mit Schrecken, wie Jonas eigentlich drei Jahre lang in Frankfurt zurechtkommen konnte. Ich weiß, dass frühzeitiger und regelmäßiger Cannabis-Konsum das Gedächtnis schädigen und Teile des Hirns beeinträchtigen kann, die für die Emotionsregulation und das kombinatorische Denken wichtig sind. Deshalb mache ich mir natürlich Sorgen. Und ganz im Hinterkopf lauert die Frage, ob und wie Jonas noch mal irgendeine Schule schaffen soll.
Als Jonas endlich aufwacht, ziehen wir den großen blauen Spinnaker unter seinem Bett hervor und setzen ihn. Zuerst haben wir einige Leinen innen geführt, was beim Spinnaker aber ganz großer Unfug ist, weil sie sich sofort verhaken, da sie ja nirgends eingefädelt sind wie beim Großsegel. Zum Glück geht kaum Wind. So können wir in Ruhe alles umknoten und die Leinen außen herumführen. Denn wenn der Spinnaker erst mal Wind eingefangen hat, zieht er ordentlich an, und dann ist es für so eine Aktion zu spät.
So geht es dann Richtung Storebælt-Brücke. Plötzlich tauchen zwei Schweinswale auf. Die sehen aus wie schwarze kleine Delfine und sind wohl ziemlich selten. Wie elegant sie durchs Wasser gleiten! Jonas versucht, sie durch Rufe und Klappern am Bug länger in der Nähe des Bootes zu halten. Als ich das sehe, spüre ich einen Stich im Herzen. Vielleicht geht mein Plan ja doch auf, und diese Reise hilft ihm.
Heute sind kaum Tanker unterwegs, die sonst in großer Zahl den Hauptverkehrsweg zwischen dem Kattegatt und der Ostsee nutzen. Auch diese dicken Pötte müssen unter der großen, über 18 Kilometer langen Hängebrücke durch. Man sieht das riesige Bauwerk mit den beiden imposanten steinernen Pfeilern schon von Weitem.
Je näher wir kommen, desto dringlicher frage ich mich, wo man da eigentlich durchfahren kann. Auf der Seekarte sind zwei Durchlässe zu erkennen. Einer links mit 18 Metern Durchfahrtshöhe und einer in der Mitte mit 65 Metern. Zuversichtlich halten wir zuerst auf den linken zu. Dann aber bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob die Kaimana mit Mast, Antennen und Aufbauten wirklich unter 18 Meter hoch ist. Peter hat alles durchsucht, doch in den Unterlagen und Handbüchern, die wir dabeihaben, ist die Masthöhe nirgends zu finden. Schöner Mist. War meine morgendliche Vorahnung wohl doch nicht so falsch. Vielleicht geht hier gleich etwas richtig schief. Mit dem Mast unter einer zu niedrigen Brücke hängen bleiben? Und das mit meiner Laien-Crew? Unangenehme Vorstellung. Also entscheide ich kurzerhand, doch den mittleren Durchlass zu nehmen. Als wir dahin abbiegen wollen, müssen wir allerdings feststellen, dass sich auf direktem Weg eine vorgelagerte Insel und eine Untiefe von sechzig Zentimetern befinden. Auf Grund zu laufen wäre wohl genauso unangenehm. So müssen wir im tiefen Wasser einen recht scharfen Zacken fahren und, weil wir den Spinnaker draufhaben, der uns stark nach vorne zieht, das Großsegel und den Spinnaker ein paarmal auf die jeweils andere Seite wechseln. Jonas packt mit an. Und er hält sich an meine Anweisungen. Beim ersten Mal brauchen wir noch über acht Minuten, beim letzten Mal nur mehr anderthalb Minuten. Schließlich rauschen wir mit vollen Segeln bei Windstärke 4 bis 5 unter der Storebælt-Brücke durch. Peter hat ein breites Lächeln im Gesicht und sieht zufrieden aus. Geschafft! Jetzt bin ich doch ein bisschen stolz auf meine Crew.
Gegen fünf Uhr nachmittags kommen wir in Kerteminde an und können an einem fetten dänischen Motorboot festmachen. Peter kocht eine riesige Portion Nudeln. Ich bin erschöpft und gleichzeitig froh, diese anspruchsvolle Etappe geschafft zu haben. Meine Hände sind ganz rau. Beim Essen schaufelt Jonas wieder alles stumm in sich rein. Wie krumm er dasitzt. Gut, dass außer uns niemand an Bord ist, der seine nicht vorhandenen Tischmanieren kritisieren könnte. Nur hie und da riskiert er einen Seitenblick auf uns. Wenn er so in sich gekehrt wirkt, spüre ich, wie ich sofort besonders hellhörig werde. Ich muss mich dann stark am Riemen reißen, um nicht lauter Fragen zu stellen. Jonas und ich haben einfach lange Zeit keinen Alltag miteinander geteilt. Wir müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen. Immer wieder muss ich mir sagen, wie gut es ist, dass wir jetzt hier auf dem Boot sind. Weit weg von Drogen und Dealern. Ich muss von Tag zu Tag denken. Und heute war ein guter Tag.
Abends machen wir einen kleinen Strandspaziergang. Und Jonas dreht eine Hafenrunde mit dem Beiboot. Jedes Mal, wenn er lostuckert, habe ich im Hinterkopf: Was ist eigentlich, wenn er nicht wiederkommt? Was, wenn er einfach abhaut? Aber er kommt wieder. Er kommt immer wieder.
Der nächste Tag ist ein Hafentag. Bei regnerischem, kaltem Wetter gehen wir ins Fjord&Bælt-Museum, das auch ein Aquarium beherbergt. Mir fällt auf, dass Jonas deutlich jünger wirkt als 16. Wenn er eine lebendige Krabbe in der Hand hat, einen schwimmenden Rochen streichelt oder ein Seehundsfell und ein Schwanengefieder in den Fingern hält, macht er große Augen und stellt einfache, direkte Fragen. Er kommt mir dann wie ein unsicheres Kind vor. Aber egal ob es die Fütterung von Seehunden und Schweinswalen oder das Sezieren eines Fischs ist – er ist mit einigem Interesse dabei. Und wirkt wieder ein bisschen wacher. Nimmt wieder ein bisschen mehr an allem teil.
Heute, am 19. Juli, ist es richtig sonnig, warm und windstill. Dänischer Sommer. Wir haben ausgeschlafen, dann frisches Brot und einen Kuchen gebacken und fürstlich gefrühstückt. Wie gut, dass ich mich entschieden habe, einen Thermomix® fürs Boot anzuschaffen. So sind wir unabhängig von den Bäckereien und haben immer schnell einen Essensvorrat. Auch das Kochen geht echt fix. Dieses Gerät kommt meinem Pragmatismus sehr entgegen, obwohl Peter schon sagt, ich könne gar nicht mehr »richtig« kochen. Mir wurscht. Hier auf dem Boot ist das super.
Ganz gemächlich fahren wir dann kurz vor Mittag unter Motor los. Es ist gerade vollkommen windstill. Flaute. Spiegelglatte Ostsee. In seglerischer Hinsicht bin ich also überhaupt nicht gefordert. Ich muss auch nichts kochen. Nichts vorbereiten. Nichts checken. Wir treiben so dahin. Peter sonnt sich in Badehose auf Deck, und Jonas hat die Angel ausgepackt. Ruhig und ganz geduldig sitzt mein großer Sohn mit Sonnenhut da auf seinem Anglersitz, obwohl kein Fisch beißen will. Dass er ausgerechnet die Geduld zum Angeln hat, hätte ich nun wirklich nicht gedacht. Das ist ja eigentlich langweilig. Dann auch noch ohne Erfolgserlebnis: Denn wieder und wieder zieht er lediglich Seegras aus dem Wasser. Aber ich sehe: Jonas ist entspannt. Peter ist entspannt. Das ist der Augenblick, in dem ich begreife: Wir haben ganz einfach Urlaub. Völlig normal. So wie andere Familien auch. Ich kann mein Glück kaum fassen. Diesen Augenblick möchte ich genießen. Also gehe ich schwimmen. Baden. Ohne Neoprenanzug schwimme ich zweimal um die Kaimana herum. Es ist herrlich erfrischend.
Später sehen wir noch zwei Robben, die ihre Köpfe aus dem glatten Meer recken. Nach einem Nachmittagsimbiss auf dem Vordeck kommt dann doch ein bisschen Wind auf, und wir fahren mit Jonas am Steuer die zehn Meilen bis zum Hafen Havnsø bei der Insel Nekselø.
Und Jonas legt an. Jonas ganz allein. Ich sage ihm zwar, wann er auskuppeln und wie er lenken soll, aber das Boot gleitet unter seiner Führung sanft an den Steg. Peter und ich halten die Fender. Sobald wir nah genug am Steg sind, springt Peter an Land und bindet die Kaimana fest. Zehn Minuten nach uns kommt ein Däne, der den Steg fast wegrammt, was unser Anlegemanöver im Dead-slow-Modus noch professioneller wirken lässt, wie ich finde.
Wenn die Wetterbedingungen nicht gerade extrem sind, das stelle ich an solch ruhigen Segeltagen fest, geht gar nicht so viel Zeit für das eigentliche Segeln drauf. Klar, ich muss mir die Route überlegen, das geschieht manchmal aber auch erst, wenn wir schon unterwegs sind. Oder sie verändert sich noch einmal. Die meiste Zeit bin ich damit beschäftigt, den Alltag an Bord zu organisieren, das heißt, Essen zu kochen und vor allem Zeug zusammenzusuchen, das ich ganz sicher eingekauft und irgendwo hingesteckt habe, aber gerade nicht finde. Vielleicht zehn Prozent der Zeit an Bord müssen wir dafür aufwenden, die Segel richtig zu setzen und zu navigieren. Im Übrigen fährt so ein Schiff auch sehr gut, wenn die Segel nicht perfekt eingestellt sind. Als mein Hamburger Segelfreund Jörn die Segelfotos der Kaimana sieht, die ich ihm maile, rügt er mich und sagt, also hier musst du aber eine Leine anders führen usw. Das kann schon sein. Das Boot fährt trotzdem; nicht so schnell, aber es fährt.
Jetzt sitzen wir in der Abendsonne im Cockpit. Was für ein wunderschöner ruhiger Tag. Ich kann es eigentlich kaum glauben. Für morgen allerdings gibt es Sturmwarnung.