Читать книгу Auf den Straßen von Paris - Frédéric Ciriez - Страница 10
ОглавлениеIm rechten Rückspiegel erahnt er einen Motorradfahrer, wie er herankommt, ihn passiert, nur um sich wieder hinüberzulegen in die mittlere Fahrspur und, diesmal auf der linken Seite, das Fahrzeug vor ihm zu überholen. Blödmann … Es brauchte nur einen kleinen, schlimmen Ruck mit dem Steuer während der Fahrer im toten Winkel des Rückspiegels verschwand, und der hätte das Ende seiner Tage erlebt. Nichts als einen kleinen Ruck des Lenkrads, eine winzige Bewegung der Hand … Er gibt ihn, er gibt dem Steuer den Ruck, drängt für wenige Augenblicke auf die linke Fahrbahn, erntet wütendes Hupen, und kehrt in seine Spur zurück.
Später, nach den runs in Rungis und der Eröffnung der Carole-Strecke, haben wir die Rennen auf den Périphérique verlegt, bis dann die beschissene Reportage über den Prince Noir erschien. Lachhaft, dieser Name – Schwarzer Prinz! Wir nannten ihn den Baron … Das hat lange gedauert auf dem Pépriphérique, ich schätze gut zehn Jahre, bis Ende der 80er. Der Périph’, das war unsere Strecke, das war die Rennbahn für konkurrierende Banden. Man traf sich abends, meistens am Donnerstag, Freitag und während des Wochenendes … andererseits, eigentlich wann es passte. Aus den Banlieues waren alle dabei … Die mediale Vermarktung des Prinzen hat den Jungs, die sich auf dem Périph’ amüsierten, enorm geschadet. Ich bin nicht böse auf die Journalisten. Die wollten eben ihre Bilder. Im übrigen glaube ich keine Sekunde, dass der die Kamera ohne Hilfe auf sein Motorrad gebaut hat. Die Bilder sind viel zu scharf, man braucht Stoßdämpfer für die Kamera, da haben ihm Profis geholfen, das ist glasklar. Den Prince Noir, den respektiere ich als Fahrer, aber nicht als Menschen. Außerdem, sich so ein Pseudonym zu verpassen, das ist eine Schande … Ich habe ihn nicht persönlich getroffen, aber wenn ich sein Gesicht sähe, dann würde ich ihn sicher erkennen. Ich erinnere mich gut an diese Bande, an die zehn Biker mit einem monströsen Ego, ich bin sicher, dass er zu denen gehörte.
Er tritt aufs Gas, will die Leistungskraft seines Autos testen. Er beschleunigt auf 110, reiht sich auf die linke Spur ein. Dann geht er wieder runter mit dem Tempo, wird langsamer, beschließt, dass sein Platz die Mittelspur ist, im Bauch der Schlange, ruhig und konzentriert auf das, was Christian erzählt. Er fährt in einen Tunnel, wird zu einem orangefarbenen Leuchtkörper, reglos mit 70 Stundenkilometern, eingepasst in die Geschwindigkeit der Autos um ihn herum, er schließt die Augen, für drei lange Sekunden, die Arme auf das Lenkrad gestreckt, 1, 2, 3 … Er macht sie nicht auf, 4, 5, 6 … gerät plötzlich in Panik, reißt bestürzt die Pupillen auf, ringt keuchend nach Luft, keine fünf Meter hinter einem blauen Logan. Ein Lieferwagen überholt ihn. Er fängt den Blick des Beifahrers auf, Kopf wie ein Handwerker, die Haare voller Gips. Das wird er nicht nochmal machen. Er verspricht sich, das nicht nochmal zu versuchen.
Der Typ hat die Straßenrennen einer ganzen Generation verpfuscht. Nachdem das Fernsehen ihn gezeigt hatte, begann die Jagd auf Rennfahrer, die Flics waren zur Stelle, sobald sie mehr als vier Motorräder nebeneinander sichteten. Den Schaden hatten alle. Um die Spuren zu verwischen und den Bullen auf die Nerven zu gehen, um zu verhindern, dass die sich wahllos die Leute griffen, haben wir eine kleine Untergrundbewegung in Gang gesetzt. Wenn wir Rennen austrugen, hatten alle schwarze Klamotten an, wir sind gefahren wie die Wahnsinnigen: alle in schwarz, aber auf unterschiedlichen Maschinen … Das ging ungefähr ein Jahr so. Und alles wegen einer Reportage … Gegen Bezahlung habe ich für das belgische Fernsehen sogar eine Parodie auf den Baron hingelegt. Die Produktion wollte Außenaufnahmen – wie ich mit Vollgas auf dem Motorrad über den Périph’ rase. Ich mache also die Standortbestimmung, ich fahre drei, vier Stunden lang herum, andauernd eine andere Ausfahrt, um auch wirklich alles Notwendige im Kasten zu haben, bis ich sehe, dass die Bullen im Anmarsch sind … Da bin ich abgehauen. Von den Belgiern habe ich nie wieder was gehört.
Er fährt wieder in die andere Richtung, in den Norden von Paris, schon seit geraumer Zeit. In einer guten Viertelstunde müsste er zu Hause sein, genug Zeit, um die Sendung bis zu Ende zu hören. Porte de Patin. Eine lange Gerade, wie gemacht für Höchstgeschwindigkeiten. Der Prince Noir hat hier beschleunigt, Christian hat hier beschleunigt. Die Fahrbahn vor ihm ist frei, auf mindestens dreihundert Meter. Eine jungfräuliche Strecke, die sich vor ihm im leichenblassen Kegel des Scheinwerferlichts auftut. Und wenn der »Prinz« wieder hervorschießen würde, ein Vierteljahrhundert nach seinem selbstgefälligen Husarenstück, noch entschlossener, noch schneller als 1989? Wenn er seiner Maschine plötzlich zu viel Gas gäbe, wenn er stürzen und in die Leitplanken krachen würde? Wenn er sich vor seinen Augen umbrächte? Christian schweigt im Moment. Der frühere Stuntman scheint seine Fahrzeuge abgestellt zu haben, geheilt vom Rausch der Geschwindigkeit und von den Sirenen des Ruhms. Von einer schnellen Maschine geschleppt, mit 200 Klamotten auf Holzschuhen … Und wenn der nun ebenfalls seine Vergangenheit neu schreiben würde? Wenn er mitten in der Nacht auftauchte, ohne Vorwarnung. Wenn er die Runde auf dem Périphérique machte, von einem Boliden gezogen, die Holzpantinen in Flammen, wenn er einen Slalom hinlegte um die Autos herum, wie ein Wasserskifahrer um die Bojen? Die Xantia fährt 70 und bleibt in der Spur. Ihr Fahrer ist immer noch nicht daheim. Er ist allein. Er ist frei.
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RÜCKSPIEGEL
An einem eiskalten Dezemberabend 1993, anlässlich des Festivals OFF Transmusicales, betritt der Vater des künftigen Selbstmörders – ein Metzger, der sich mit Teilzeitarbeit in den Supermärkten der Region über Wasser hält – die Bar La Trinquette, eine Trinkhalle für Rocker in der rue Saint-Malo, wo sein jüngerer Sohn auf der Bühne rumbrüllt und den Bandleader eine Holzfällermütze schmückt. Der Schlachter ist ein lächelnder Riese von gut fünfzig Jahren, er trägt einen cremefarbenen Sommeranzug und am Eingang der Bar trifft er auf seinen älteren Sohn und dessen angesoffene Freunde. Der Vater strahlt. Weil er Metzger ist will er das nicht wahrhaben – aber im Grunde seines Herzens ist er ein Rocker. Die Männer der Familie sind endlich vereinigt.
Der Vater taumelt durch die finsteren Gefilde der Sozialhilfe, spielt seinen ganz eigenen Zeitarbeiter-Rock in den Schlachterläden auf dem Land. Die Mutter kommt nicht über die Scheidung hinweg, verliert ihre Arbeit, will mit dem Leben Schluss machen. Der ältere Sohn schöpft den gesamten familiären Bodensatz aus, muss regelmäßig seinen hilflosen Vater unterbringen. Der Jüngere röhrt in die Mikros.
Zehn Jahre später, es ist Frühling, gibt der Jüngere ein Konzert in einer schäbigen Bar an der Avenue de Flandre, direkt neben der Metrostation Crimée, Paris. Die Hitze und die auf Dämmerlicht geschalteten Fahrzeuge fließen träge die Verkehrsader hinunter. Im Hinterzimmer des Bistros singt der Jüngere, eine einsame Cellistin zur Seite, vor genau drei Fans – dem älteren Bruder und zwei Exilanten. Es ist die Epoche, in der jeder an seinen Stern glauben muss, wenn er Sänger werden will – dieser heißt Sirius und ist der hellste unter dem Himmelsgewölbe, direkt nach der Sonne. Die Wirklichkeit ist die: Leute aus Lorient auf Tour ziehen keine Massen an. Der Ältere denkt nach: Was wird aus dem Kleinen? Die Nacht bricht an, die Außenseiter sind auf Achse.
Der Ältere sorgt sich um die Zukunft des Jüngeren. Der Kleine trägt die Sorge des Älteren in sich. Eines Tages findet er den Älteren blutüberströmt in dessen Wohnung, er hat versucht, sich umzubringen, er hat sich die Venen aufgeschnitten und die Brust durchbohrt. »Sah aus wie in einem Krimi«, urteilte der Jüngere. »Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich mit dem Auto rumgefahren bin, sag zu niemandem was«, bläst sich der Ältere auf, als er aus dem Krankenhaus kommt, in das er völlig verstört eingeliefert wurde.
Der Ältere sucht Rat beim Jüngeren: Eine alleinstehende Frau mit drei Kindern hat ihm vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen. Was tun?
In der Küche seiner Zwei-Zimmer-Wohnung bewahrt er eine Messer-Garnitur. Ungefähr so wie einen Bund mit Schlüsseln. Der Jüngere rät ihm, nicht mehr mit Messern zu spielen. Er verspricht, die Waffen wegzuwerfen, auch das blutgetränkte Hemd, das aussieht wie Einwickelpapier vom Metzger.
Er schaut sich die Messer an. Was für Messer sieht er? Die vom Papa Metzger, die zum töten, oder die für den Esstisch?
Der Jüngere sagt seinem Beifahrer, als sie in eine menschenleere, von gleißender Sonne geräderte Straße einbiegen, um Umzugskartons aus dem Gewerbegebiet Saint-Ouen abzuholen: »Hier hat sich mein Bruder umgebracht.«
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Dienstag, 30. April, 20.10 Uhr
Er fährt in Richtung Nirgendwo durch die Gemeinde Colombes. Von den Zweigen blühender Kastanienbäume beschattete Hinweißchilder, Kanapees im Sonderangebot bei Univers canap’, rechts die PC-Werkstatt, links Georges’ Spirituosen. Das Herz heult. Er erwartet eine Geste / eine angebotene Hand / die ideale Prothese / die Zivilisation / die Herrschaft der menschlichen Rasse über das verfolgte Tier / die Kunst zu speisen / die hohe und raffinierte Kunst der Selbsttötung, seppuku und jigaï: Samurai, seine Entehrung aufschlitzend; Frau, die Halsschlagader mit einem dekorativen Entermesser durchtrennend. Das Herz pocht im Brustkasten, dürstet nach seinem Blut, verlangt nach Papas Messer, das Fleisch zerteilt hat in den Landschaften des Leuchtfeuers des Westens.
Immer im dritten Gang, Gewerbegebiet – 50% bei Cousinella, ein Laden für Renn-Mountainbikes, Chez Momo, der Teppich-König, grüne Welle auf der Avenue, ein pfauenblaues Schaufenster der Gemeinschaft der Bestattungsunternehmer. Das Herz will den Horizont besiegen, ihn in seine Farbe tauchen. Der Mann biegt rechts ab, zweiter Gang, erster, er reiht sich ein auf dem Parkplatz des Supermarkts Auchan, keiner wird ihn hier erkennen.
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Montag, 29. April, 11.30 Uhr
Wie ein Untoter schleicht er in den Flur des Hauses 8b, rue Lecuirot. Ein Schwarzer mit einem Wassereimer wischt den Fußboden, hört Musik auf Kopfhörern. Ein widerlicher Geruch nach Industriereiniger hängt in der Luft. Er schlurft bis zur Treppe, beginnt mit dem Aufstieg. Im Zwischengeschoss trifft er auf ein Skelett mit rosa beflitterten Lippen, in einem Hosenanzug aus Tweed schwimmend, die karierte Schiebermütze quer auf dem Kopf. Er überrascht sich damit, der Dame, die ihn anmacht (kennt man sich?), ein Lächeln zu schenken, erntet im Gegenzug ein Augenzwinkern, sieht eine Hand, die mit den Autoschlüsseln spielt. Er setzt seinen Aufstieg fort, dreht sich um. Sie ist verschwunden (er hört noch das Klappern der Pfennigabsätze im Treppenhaus, das Klirren des Schlüsselbunds). Die Treppenstufen vermehren sich, sie kippen. Er bewegt sich auf einer einzigen Stufe. Hinter ihm ist nur Leere. Vor ihm – er weiß es nicht. Schweiß rinnt ihm über den Hals. Vor einigen Minuten war es noch die Bullenhitze und das Gedränge der Menge an der Metro Alésia, jetzt sind es Ruhe und kühler Schatten in einem Treppenschacht. Die Abwesenheit alles Menschlichen ist angenehm / eine Erleichterung / ein Hafen / eine Atempause. Und doch, irgendetwas beklemmt ihn, etwas, das er begehrt: ein Ereignis / eine Erscheinung / eine oder zwei Frauen, die es nicht gibt / die er berühren könnte. Sich noch ein Ruck geben, und er wird auf dem Treppenabsatz der Agentur ankommen. Kein Geräusch. Und wenn sie nun eine Überraschung für ihn hätten, ein hipp hipp hurra für den Star-Gewerkschafter? In der Tat … auf dem Absatz wartet niemand. Kein Geräusch, nicht mal ein Hauch von Aktivität jenseits der Tür. Er steht starr, spitzt die Ohren (er kann nicht allzulange hier rumstehen, man könnte ihn überraschen, er wäre der Lächerlichkeit preisgegeben, würde seine Reputation verspielen, er muss zur Sitzung eine Etage höher, muss pünktlich sein, Thema: »Der Demonstrationszug am 1. Mai – Koordination und Leitung«). Die Räumlichkeiten sind heute menschenleer. Vielleicht feiert ja die Internationale der Mannequins den 1. Mai schon am 29. April … Die einzige Wirklichkeit ist die Messingplatte, die über der Bürotür glänzt: Elite. Resigniert macht er sich an den Aufstieg ins nächste Stockwerk, zum Treffen mit den Seinen. Die Kollegen warten schon. Er kommt immer häufiger zu spät. Eigentlich ist er gerne pünktlich. Elektrische Lichterketten sind über der gesamten Länge des Geländers aufgetaucht. Sie blinken alle zwei Sekunden und folgen der Wendeltreppe aufwärts. Er ist auf dem Absatz stehengeblieben. Aber im Dämmerlicht ist da nur eine einzige stille Festgirlande. Er dreht um. Er wird zurück nach Hause gehen. Ja, das wird besser sein, er wird zurück nach Hause gehen, das Tageslicht wiederfinden und die Sonne da draußen.
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