Читать книгу Auf den Straßen von Paris - Frédéric Ciriez - Страница 11

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Dienstag, 30. April, 20.34 Uhr

Das plastikverpackte Küchenmesser gleitet über das Band zur Kasse (es ist keine Minute her, dass ihm dieses Modell im rüden Licht der Werkzeugregale ins Auge fiel: eine kräftige Stichwaffe mit schwarzem, von drei Nieten gehaltenen Griff, eine 27 Zentimeter lange Klinge aus gehärtetem Stahl in gleichschenkligem Dreiecksschliff mit breiter Basis, Verkaufspreis vernünftige 14,90 Euro). Das ist sein einziger Einkauf. Das Messer rutscht über das schwarze Band, abgenutzt und verbraucht von einer wachsenden Warenflut seit der Eröffnung des Supermarktes im Jahr 2004. Es bewegt sich in exakt gleichem Abstand zwischen der Hand des Kunden und jener der jungen Kassiererin. Mechanisch greift sie nach ihm, lässt es kreisen, weil sie nach dem Barcode sucht. Ihre Hand mit dem synthetischen Brillant liegt auf dem Messergriff, während die Klinge unter dem Bogen hervorragt, den Daumen und Zeigefinger bilden. Die glanzlosen Fingernägel sind abgekaut. Sie bekommt einen Zwanziger, gibt das Kleingeld zurück, reißt wie gewohnt den Kassenzettel ab und der Kunde versäumt nicht, ihn an sich zu nehmen und ihn sorgfältig in die Plastiktüte gleiten zu lassen, wo jetzt das Messer schlummert, fertig zum Gebrauch, von einem durchsichtigen Plastikfilm vor jeglichem Hautkontakt geschützt.

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RÜCKSPIEGEL

Sein tiefsinnigstes Lied ging so: »Kikeriki!«

Während der Abschiedszeremonie im Krematorium von Lorient, wo sein kleiner Sarg aus hellem Holz darauf wartete, auf das Laufband des städtischen Brennofens zu gleiten, ließ einer der Grabredner den berühmten Schrei des Entschlafenen erklingen: »Kikeriki!

Der hier ja zum Tod gesagt hatte – er hatte den Schrei des Hahns mit absoluter Perfektion imitiert, und das verdiente in der Tat, dass einer ihn in aller Öffentlichkeit zitierte, dass hier jeder etwas über das Wesen des Selbst­möders erfuhr: wie er die Onomatopoesie des Hühnerhofs gemocht und damit bewies hatte, dass er eine Art vitalis­tisches Frohlocken in sich trug, das jederzeit herausbrechen konnte, am Tag und in der Nacht, an jedem beliebigen Ort, zu jeder Gelegenheit.

Während des ganzen ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends lebt er allein in Clichy-sur-Seine, stirbt fast vor Einsamkeit, interessiert sich immer mehr für die bretonische Kultur. Die Kumpel von früher, meist schon im Eheleben gefangen und vom Arbeitsleben in der Provinz genormt, rufen nur noch selten an, oder gar nicht. Das Unvermögen, ein ganz gewöhnliches Leben führen zu können, macht ihn fast wahnsinnig, er fühlt sich wertlos, er hasst sich. Er geht kaum unter die Leute, er hat nur ein, zwei treue Freunde, mit denen er von Zeit zu Zeit das Wochenende verbringt, mehr nicht. Der Grund für seine bevorstehende Annullierung wird langsam erkennbar.

Er und drei Freunde feiern ihren dreißigsten Geburtstag an den Ufern von Trieux (22) in einem geräumigen Haus aus Stein, das sie zu diesem Anlass gemietet haben. Thema des Kostümabends: Sex / Geld / Macht. Getränke für ungefähr 400 Leute – rund 100 geladene Gäste. Der einzige Polizist der Soiree verbirgt sich hinter einer Plas­tikfratze (das Kostüm hat er in der rue du Faubourg-Montmartre in Paris geliehen, immer wieder und tausendmal bestellt, weil dort normalerweise Uniformen nur für Filmaufnahmen hergegeben werden). Seine beiden anderen Gefährten haben sich in eine Tunte verwandelt und in einen Sträfling mit Jacques-Chirac-Maske. Sein Bruder hat sich das ganze Gesicht grün angestrichen: man könnte an den Hulk denken, aber es handelt sich um Mister Dollar. Er selbst ist ein römischer Centurion, der am frühen Morgen, mit Helm und tröstenden Worten, durch die von Alkoholüberlebenden und leeren Flaschen verstopften Zimmer schwankt, der Sieger der Nacht.

Eins der wichtigsten Bücher in seinem Leben ist Der gallische Krieg von Julius Cäsar.

Eines Sonntag morgens im Frühjahr 2004, noch vor der Messe in der Kirche zum Heiligen Nicolas-du-Char­don­net, wo er mit drei Freunden das Wesen katholischer Fundamentalisten bloßzulegen hofft, erwähnt er ganz nebenbei seine Furcht vor dem Geheimdienst, der ihn wegen seiner Gewerkschaftsarbeit auf der Straße oder während des Gottesdienstes filmen könnte – wenn man ihn nun für einen Spion hielte, der die Kirche den Versammlungsräumen der Mutualité in Paris vorzieht? Nach der Messe machen sich die Freunde an der Theke bei einem Glas Weißen über ihn lustig.

(Doch weil allein der Wahnsinn wirklich ist, heißt das wichtigste Dossier, mit dem er sich insgeheim beschäftigt Edvige (Hedwig) – die Frauen werden dich umbringen. Wer ist Edvige? Edvige ist eine Datei, mit deren Hilfe die Polizei Informationen über natürliche oder juristische Personen sammeln und analysieren kann, die ein politisches Mandat ausüben, in Gewerkschaften arbeiten oder in der Wirtschaft aktiv sind … Das Gesetz namens Edvige wird im Oktober 2008 offiziell zurückgezogen und danach mit Hilfe einzelner Dekrete Paragraph für Paragraph wieder eingeführt.)

Wenn er am Telefon antwortet, spürt man bisweilen seine unendliche Erleichterung.

In Frauengesellschaft fühlt er sich selten wohl, meldet sich kaum zu Wort, spricht nur, wenn sie ihm Fragen stellen. Eines Abends ist er auf ein Glas mit einem Paar zusammen. Er zahlt für sich und seinen Freund, aber nicht für dessen Gefährtin, kumuliert so seinen Hang zum Geiz und die blinde Ablehnung des anderen Geschlechts. An einem anderen Abend zeigt er sich dagegen wortgewandt und berät mit viel Takt eine junge Frau, die mit ihrem Arbeitgeber über Kreuz liegt. Sie ist Redaktionssekretärin in einem Architektur-Magazin, ihr Chef überhäuft sie mit Arbeit, bezahlt sie miserabel und behandelt sie schlecht. Sie ist auf hundertachtzig. Der Gewerkschafter und die Ausgebeutete verstehen sich prima.

In Clichy kommen ihn Freunde besuchen; sie wundern sich über das Rad und die Tür eines weißen Autos, mit der er eine Ecke des Wohnzimmers dekoriert hat. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Zwischenlager, wo er Reserveteile für seine Xantia aufbewahrt.

Seine liebste Kollegin, unerbittliche Gewerkschafterin und Freizeit-Astrologin, fasst seine Zukunft in Worte: »Ich habe seine Gestirne befragt und einen Mann mit einem Messer in der Nacht gesehen.«

Einer seiner Lieblingsausdrücke ist: »Ich bringe es hinter mich.«

Während eines Fests auf dem Land in der Nähe von Loué / Sarthe, als sich alle alkoholisiert zu Bett gelegt haben, bleibt er wach bis in den frühen Morgen und kümmert sich zusammen mit einem alten, alleinstehenden Kumpel um die Kinder.

Er nimmt gerne Zuflucht im Auto, er wandert auch gerne in den Bergen.

Seine letzten Lebensjahre zeigen ihn wie erschlagen von überbordender Verantwortung, einer Verantwortung ohne Objekt, denn er muss sich um niemanden kümmern, weder um Frau und Kinder noch um kranke Eltern. In der Öffentlichkeit ist er durchscheinend, von besorgniserregender Milde. Die Leute übersehen ihn. Er existiert nicht. Seine Tilgung aus der Gesellschaft vollzieht sich gleichzeitig mit dem kommerziellen Erfolg elektrischer Lich­terketten, die nach 2005 in Pariser Wohnungen und auf den Häuserfassaden im ländlichen Raum zu einer immer häufiger anzutreffenden Dekoration werden. Welche Gir­lande mag wohl um seinen Hals geknüpft sein?

Sein Lieblingselement war immer das Wasser. Während er an der Atlantikküste segeln oder tauchen geht, weiß er nicht, dass seine Graburne eines Tages in der Bucht von Lorient versenkt werden wird, an jenem geheimen Ort, wo er sich bisweilen versteckt.

Das letzte Buch, das er gelesen hat (und zurückgegeben – es war ausgeliehen), war von Catherine Gaston-Mahé und hieß Houat, la mémoire de l’île (Houat, Erinnerung an die Insel, Sked Editions, 1995). Es ruht auf dem Bürotisch seiner Kollegin, während er am Nachmittag des 30. April in seinem Auto ausharrt.

Die Gewerkschaft hat der Mutter versprochen: ein Saal wird nach ihm benannt. Das wird niemals geschehen. Die Mutter wird mehrmals um eine Erklärung bitten, sie wird nie eine erhalten. Ein Selbstmörder ist kein Held.

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Dienstag, 30. April, 20.45 Uhr

Auf dem Parkplatz des Auchan-Supermarktes lässt er seine Xantia wieder an, noch ohne es zu begreifen, hat er entschieden, nie wieder zu Fuß zu gehen / nie wieder aufrecht zu stehen, er fährt bereits, bewegt sich ohne Ziel in einem Gewebe aus sonnendurchfluteten Straßen, in einem völlig überlasteten Verkehrsnetz / dreckig / mag­netisch / beruhigend. Er treibt in der kreisrunden Stadt, in einer entleerten Orgie gesellschaftlicher Spiegelfechtereien. Die Kastanienbäume blühen, Konturen von lichterfüllter, verschwimmender Majestät. In der untergehenden Sonne richten die Stadtgärtner die Blumenbeete auf den Verkehrsinseln. Die ganzheitliche Semiotik der Stadt ist auf ihrem Zenith. Wuchernde Sinnhaftigkeit: rote Ampeln / grüne Ampeln, Arbeiten am öffentlichen Verkehrssystem, Ladenschilder über verblichenen Schaufenstern, sozialer Mix in franko-afro-maghrebinischen Familien, Hausfrauen mit Einkauf / Kinderwagen, in Zeitlupe, schweigsam, trübe Luftspiegelungen aus Auspuffgasen. Die dumpfe, diffuse Musik der Presslufthämmer in der Avenue erzeugt Nahtstellen auf dem Brustkorb. Er sieht oder glaubt zu sehen, dass sein Telefon auf dem Beifahrersitz vibriert, er liest oder glaubt zu lesen: KOMM TANZEN HEUTE ABEND. Ein kurzer Blick mahnt ihn: da ist nichts auf dem Beifahrersitz, nichts, nur ein Messer.

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Transfixion / Transfixiant

Pathologische Anatomie, allgemeine Chirurgie – (Engl.: Transfixion, Transfixing) N.f. * trans: aus latein. trans (trans-), außerdem * fixion: aus latein. fixum, von figo, figere (-fixion), hineinstoßen, durchbohren, durchdringen. Mit Transfixion wird allgemein der Vorgang des Durchbohrens bezeichnet. Die ~ ist auch eine spezielle Technik in der Chirurgie, insbesondere ein Verfahren bei Amputationen: Gliedmaßenamputation mit Bildung eines Weichteildoppellappens durch Durchstechen des Weichteilmantels mittels Amputationsmesser dicht am Knochen u. nachfolgende Weichteildurchtrennung in Richtung Strecker- u. Beugerseite. Für einige Pathologien: Neuralgien, Migräne ... werden sogenannte transfixiante Schmer­zen diagnostiziert. Eine Verletzung ist transfixiant, wenn sie das Organ vollständig durchdringt.

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Dienstag, 30. April, 2.40 Uhr

Er träumt. Er trägt weiße Motorradstiefel, Hosen und einen ledernen weißen Spenzer mit rotem Drachen auf dem Rücken. Seinen Kopf schützt ein weißer Integralhelm in Spindelform. Er kommt mit 15 km/h, sich um die eigene Achse drehend, auf einer Ninja neuesten Modells vom Niveau –4 die Tiefgarage herauf. Der Bolide verfügt über vorteilhafte 400 Pferdestärken und die erfreuliche Anonymität falscher Nummernschilder. Es ist Nacht und er nähert sich der Porte de la Chapelle, auf fast verlassener Straße. Geschmeidig rollt er an die Périphérique heran, fährt gegen den Uhrzeigersinn ein, gleitet langsam auf die Fahrbahn, die noch warm ist von der Hitze des Tages.

3, 2, 1, 0, Start: Er beschleunigt brutal, zwingt die Maschine in eine dem Dasein abträgliche Relation von Gewicht / Geschwindigkeit, fegt Richtung Porte de Clignancourt mit 220 km/h, fährt Slalom zwischen nachtaktiven Fahrzeugen, die sich plusminus 10 % an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten, das sind 80 km/h auf dem Pariser Autobahnring. So rasend die Ninja ihre Rennbahn frisst, so geschwind reduziert sich die Stadtlandschaft auf ein negatives Kontinuum aus Beton, Licht und Stahl. Mit 290 km/h erreicht er die Porte Saint-Ouen, sein Puls klettert auf 90 Herzschläge pro Minute, und seine Venen ziehen sich zusammen und versteifen sich und sind hart wie Holzklötze, als er das Krad in die Kurven nötigt und seine Knie den Boden küssen. Dann, bei 314 km/h, ist es ein weißliches Abtasten von Sodium-Unterdrucklampen, das man auch einen Tunnel nennen könnte. Ein langgezogener, kalter Blitz, der ihn an etwas Unendliches erinnert, während seine rechte Hand immer noch Gas gibt. Der Kopf ist extrem nach vorn gebeugt, auf sein finales Bett gestreckt, die Augen aufgerissen im blendenden Licht, und plötzlich …

… ist draußen dunkle Nacht, zurück in der Sternenstadt. »Aus dem Weg, du Bastard«, der Schrei schießt aus seinem Bewusstsein hervor, nur knapp hundert Meter vor einer weißen Xantia, die auf die äußerste Überholspur hinüberzieht ohne zu blinken, eine alte schwarze Xantia neben sich, die sich abmüht, eine himmelblaue Xantia rechts zu überholen, selbst bedrängt von einer roten Xantia, die stillzustehen scheint. Die Ninja entscheidet in letzter Sekunde, dem Hindernis auszuweichen, passiert zwischen weißer Xantia und Leitplanke, diesem langen, tödlichen Rasiermesser, eine Handbreit von der Lederweste entfernt. Der Bastard von einem Fahrer hört einen Knall neben sich, wie eine Explosion im Frühlingswind, erahnt den weißen Blitz auf seiner Linken (kommt ihm der Gedanke, dass der Prince Blanc im Begriff ist, den Rekord des Prince Noir und den des Ghost Rider einzudampfen? Weiß er, dass hier Geschichte geschrieben wird? Dass die Zeit abgeschafft wird? Träumt er von der absoluten Umdrehung? Von der ultimativen Leistung?, er, der in seinem serienmäßigen Schlitten France Culture hört). Dann ist die Chaussee plötzlich verlassen, freigegeben für den Weißen Prinzen – »Porte de Passy: 4 Minuten«, zeigt die Verkehrstafel an –, und diese Informa­tion ist genauso trügerisch wie die 323 km/h auf der Zielgeraden, denn die Porte de Passy liegt bereits hinter ihm. Und all diese »Portes«, die Aus- und Einfahrten, sie exis­tieren nicht mehr. Nur noch die alles überrollenden Reifen des Motorrads, der fötale weiße Punkt, der da abnorm über die Kontrollbildschirme der Autobahnpolizei zischt, mit einem kritischen Moment im Abschnitt Porte de Bagnolet allerdings, den er mit 325 km/h auf der linken Seite einer langen Schlange von Müllwagen entlangsaust. Der Pilot will plötzlich den Kopf nach rechts drehen, einen befreundeten Chauffeur im Lastwagen erkennen, aber die Geschwindigkeit lässt das nicht zu. Nichts mehr. Die Ruhe nach dem Sturm. Nichts / Alles. Hier ist sie wieder, die Porte de la Chapelle, wo die dunkle Tour des Weißen Prinzen zu Ende geht, wo er soeben den Geschwindigkeitsrekord auf dem Autobahnring von Paris unterboten hat, ohne dem Tod die Hand zu küssen, diesem Gevatter ohne jedes Hupsignal.

Durchschnittsgeschwindigkeit: 253 km/h; Gesamtzeit: 8,35 Minuten. Nächstes Projekt: Den eigenen Rekord unterbieten, größter Motorradfahrer des 21. Jahrhunderts werden.

Auf den Straßen von Paris

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