Читать книгу Auf den Straßen von Paris - Frédéric Ciriez - Страница 9

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Dienstag, 30. April, 16.40 Uhr

Er setzt seine Irrfahrt durch den Norden von Paris fort. Sonnenstrahlen löchern den Wagen, der unter den Ziegelsteinkonstruktionen von Argenteuil dahinrollt, wie um die Zeit totzuschlagen. Es ist jetzt 15 Uhr und soundsoviel, die Stadt ist leer / ausgeleert / ausgehöhlt, kaum ein Funke von Leben in den stillen Straßen. Die hydropneumatische Federung erzeugt ein verstörendes, in gewisser Weise schmerzlinderndes Gefühl von Unentschlossenheit, oder auch den Schock eines Morphium-Schusses – seit 200 Metern im dritten Gang über eine Avenue, sie trägt die Namen des französischen Maréchal (die Welt steht trotzdem, hart, solide, und ihr unveränderliches Abbild zieht auf den blauen Pupillen des schwitzenden Fahrers vorbei – Mod’hair, Top Hallal-Fleisch, Ecole supérieure d’ostéopathie, Century 21 Immobilien, eine schaurige Folge rostroter Häuser mit Pappe in den zerbrochenen Fenstern, jetzt ein weites Terrain, Nomaden mit Wohnwagen, an denen die Räder fehlen, das Auge zuckt beim Anblick einer Citroën-Vertretung und eines gekrümmten Alten, der in der Bullenhitze auf seinen Einsatz an der Fußgängerpassage wartet).

Der Frühling schreit seine Lebenskraft aus den Blättern der Bäume und verhöhnt das ultraviolette Feuer, das seit vielen Tagen die Stadt zu Kohle brennt. Das pflanzliche Leben brüllt seine allgöttliche Geschlechtlichkeit hinaus. Die Fenster der Xantia sind geschlossen, die Schalldämpfung ist gewiss um einiges besser als die ihrer nicht gerade attraktiven älteren Schwester, der BX. Als wäre die Jüngere eine Zierde der Natur, das graziöse Ergebnis eines langen ästhetischen und industriellen Sedimentierens, die stille Musikerin der Familie. Der Fahrer allerdings – besser noch, der Gatte – ist nicht dieser Ansicht: Er hämmert gereizt auf die Schalttafel, zweimal, will die Frau endlich zum Schweigen bringen, sie noch fester verbarrikadieren, sie fest vernähen, um der Stille noch mehr Stille abzuverlangen in seiner letzten Behausung.

Den unschuldigen Greis hat er hinter sich gelassen, der hat vermutlich gut gelebt und ist in dem Alter, um die Welt ohne großes Bedauern zu verlassen. Er will das Autoradio ausschalten, obwohl es längst stumm ist, während er mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h über eine belebte Verkehrsader der Banlieus im Norden rollt, sinnlos seit geraumer Zeit und ohne klares Ziel, wenn nicht dem, irgendwann für immer anzuhalten. Er kommt zu einem Kreisverkehr, am Ausgang der Stadt / an der Einfahrt in die nächste. Sportlicher Betrieb wird angezeigt – eine Eisbahn, ein Schwimmbad, eine Mehrzweckhalle … Rechts sieht er die weißen Quader des Baukomplexes und hinter den Mauern, wie ein von willkürlichen Visionen geplagtes Medium, sieht er einen Speer, der unter dem Dach der Turnhalle vorbeifliegt, langsam herabsinkt, herabsinkt, bevor er schließlich den Oberschenkel eines Sprinters trifft, der sich auf seinen Lauf vorbereitet.

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Montag, 15. April, 11 Uhr

Er schleppt sich durch das Treppenhaus in der rue Lecuirot Nr. 8. Krisensitzung im Gewerkschaftsbüro. Ein Arbeitsinspektor ist von einem türkischen Unternehmer miss­handelt und entführt worden. Der Gewerkschaftsfrühling fängt schlecht an. Der gesetzlose Maurer hat den Funktionär auf einer Baustelle aus dem Verkehr gezogen und in Beton eingegossen, ihn in eine Grabfigur der Branche verwandelt – zu seiner Befreiung brauchte es einen Vorschlaghammer. Der entsetzte Inspektor hat sich in ein Erholungsheim zurückgezogen, einige seiner Kollegen sind im Ausstand. Geschichten dieser Art häufen sich in der Île-de-France. Was soll man machen? Wie soll man ungebildeten Kleinunternehmern Anstand und Sitte wieder nahe bringen? Wie soll die Gewerbeaufsicht ihre Noblesse als Beschützerin der Arbeiter und der illegalen Einwanderer bewahren, wenn Sicherheit auf den Baustellen kein Thema ist?

Lockige Haarsträhnen kleben ihm auf der Stirn. Angstschweiß perlt in Kristallen über seine Schläfen. Sein Anzug ist wüstensandfarben, sein Solarplexus steht in Flam­men. In der vagen Hoffnung, einem dieser Topmodelle vor der anstehenden Sitzung zu begegnen, schnürt er durch das Treppenhaus, oben warten dieser Strohhaufen von Gewerkschaft und postmoderne männliche Kollegen, die einem die Wangen küssen. Aber niemand ist auf dem Flur, niemand und nichts, weder Licht noch Gemurmel, nur der synthetische Lavendelduft eines Reinigungsmittels. Er umklammert das Geländer wie ein Blinder seinen Stock. Er hat auf Autopilot umgeschaltet. Leute sehen und an die anderen denken, das wird ihm guttun. Na so was – er hört Gebell und Gelächter. Vielleicht ein Nachbar, der seinen Hund ausführen will. Gestern ist ihm auf dem Quai de Jemmapes eine Frau begegnet, eine deutsche Dogge an der Leine, so groß wie ein Pony. Er bleibt stehen, lauscht den Stimmen nach, die sich über ihm bewegen. Plötzlich geht das Licht an. Aouhhhhhh ! … Gebrüll, das Tote aufweckt. Eine Frau kommt die Treppe heruntergestürzt. Sie trägt einen schwarz gepunkteten, weißen Ganzkörperanzug mit einem Schwanz hinten dran. Unter dem Stoff zeichnen sich ihre Beinmuskeln ab, ihr perfekter Hintern sieht milchig aus, wie nackt. Ihr Gesicht ist zweifarbig schwarzweiß, am Kopf kleben Ohren aus Leder, schwarz glänzt die Hundeschnauze. Aouhhhhhhhh! Sie heult, dann heult eine andere, und doch die gleiche, aouhhhhh! ..., eine Dalmatiner-Dame, einsachtzig groß, die sich kerzengerade auf den Vorderpfoten hält, dann noch eine und noch eine, aouhhhhhh!..., die ganze tolle Meute, aouhhhhhh!... Er rührt sich nicht vom Fleck, in sich selbst gefangen, wie gelähmt zwischen den beiden Etagen, umgeben von vorbeidrängenden Mannequins, die vor Lachen brüllen. Dann verhallt diese Imitation hündischer Verzweiflung, bis sie allmählich völlig verstummt. Er ist wieder allein in seinem Treppenhaus, setzt seinen Aufstieg fort, erreicht den Absatz mit der Model-Agentur, wo das Messingschild Elite im Licht der Deckenlampe glänzt.

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Dienstag, 30. April, 17.20 Uhr

Er treibt in der Stadt wie ein Ertrinkender (diese hier heißt Asnières). Seine Hände auf dem Lenkrad sind nass, das Gebläse verrührt heiße Luft, die über sein Gesicht und seine ausgetrockneten Lippen streicht. Schweißtropfen (oder Tränen) strömen in die Winkel seiner fahlen Augen und über die Wangen. Sein Haaransatz ist nass, klebrig.

Er führt seine Xantia, die über den weichen Brei der schmelzenden Straße schwimmt, mit den Reifen Abdrü­cke in den Asphalt prägend und eine Spur aus schwarzem Schleim hinterherziehend (die nächtliche Frische wird diese Industrie-Hieroglyphen verfestigen, im Moment sind sie leider ziemlich verschwommen, Kohorten von Fahrzeugen mit allzu vielen verschieden geschnittenen Reifenprofilen haben sie unleserlich gemacht). Das Telefon wimmert in seiner Jackentasche. Er nimmt es und schaut sich das Terminal für zwischenmenschliche Beziehungen an: WIE VEREINBART BIN MORGEN MITTAG AUF DER PLACE DE FETES WIR RECHNEN MIT DIR BUSSI SYLVIE, er legt den Apparat auf den Beifahrersitz.

Er zeigt seltsame Anzeichen von Schmerz, Sylvie hat er schon vergessen und er sieht auch nicht mehr diese Flut pflanzlicher Bilder, die vor seiner sonnengänzenden, schattenschimmligen Windschutzscheibe vorbeiziehen, taumelnd und milchig, während er schon zum vierten Mal um sich selbst kreist, um einen Kreisverkehr, entscheidungslos, unfähig, irgendeine Ausfahrt zu wählen, das Steuer leicht eingeschlagen, unbeweglich und festgeriegelt in der Position Auto-Pilot.

Die Xantia und ihr Meister kreisen weiter um das runde Beet aus Rasen und Tulpen, auf dem sich, wie kopflos, ein Rasensprenger dreht. Noch eine Revolution, noch eine Umdrehung, dann zwei – im Ganzen sieben sind es bis jetzt, sieben zwanghafte Touren in einem Rettungsreifen auf einer Regatta ohne Kurs. Die Xantia befindet sich hinter einem Müllwagen, der grün ist wie die Hoffnung, der sich in eine Avenue verdrückt, zwei chromblitzende Gugus hinter sich, und schließlich an der öffentlichen Mediathek in einem Pulk aus Fahrzeugen verschwindet.

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RÜCKSPIEGEL

Er liebt rotes Fleisch und Käse, er deckt sich mit den üblichen, preisgünstigen Produkten ein, dem pasteurisierten Camembert Président zum Beispiel und gern – um nicht zu sagen, leicht amüsiert – mit den guten Jahrgängen des Côte-du-Rhône der Kooperative Cellier des Dauphins (ein Mann der linken Mitte zwar, fortschrittlich und politisch moderat zugleich, ist er seiner Herkunft aus dem einfachen Volk treu geblieben, seine Gewohnheiten haben wenig gemein mit denen der sozialistischen Kleinbourgeoisie, wo man Bordeaux bevorzugt und den Käse im Milchgeschäft zum Preis von Rinderfilet einkauft).

In seiner Bibliothek stehen Klassiker der europäischen Sozialwissenschaften, es dominieren Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas, Theoretiker des »kommunikativen Han­delns« – gern zitiert er den deutschen Denker und bedient sich dessen Formulierungen –, darüberhinaus auch die Feldstudien der Chicagoer Schule, Erving Goffmanns etwa, der Verfechter der »teilnehmenden Beobachtung«. Neben seriösen Werken zur Weltpolitik stehen einige Meister des »schwarzen Romans«: Jim Thompson, Marc Behm, Pierre Siniac, Jean-Patrick Manchette – all das verrät sicheren Geschmack, kein einziger Kleinkrämer dabei. Eines Tages sagt er, sorgenvoll und mit Blick auf das Wirken des Soziologen: »Man muss die Desillusionierung aushalten.«

Seine Musiksammlung wird gegenwärtig von einem Album der lokalen Rockgruppe William Pratt aus Lorient geprägt – More than a mouthfull (1993) –, dessen Hülle einen nackten Mann mit Erektion zeigt, mit aschgrauer Haut und roten Haaren auf blauem Grund, ein bisschen Francis Bacon eben.

Im Kino schaut er sich gerne lustige oder grausame Filme an, besonders die von Rainer Werner Fassbinder und Werner Herzog.

Am Vorabend des neuen Jahrtausends gelingt ihm so etwas wie ein Geniestreich, der sowohl seinen ausgeprägten Sinn für Humor zeigt, wie auch den für Knausrigkeit. Er, der Junggeselle, hat eingeladen. Für die fünf Gäste hat er zwei Dutzend Austern vorbereitet und einen Biskuitrolle Vandamme, die er auf leicht angeschlagenen Tellern serviert. Die Frauen konstatieren ernst sein Zölibat, die Männer sind eher vergnügt und stellen sich Spaß-Ehen vor, in denen es keine Mahlzeiten mehr gäbe, sondern nur noch Ströme von Bier in Kristallflöten und Wohnräume in Pelforth-Bierflaschen.

Ein zweiter Geistesblitz erwischt ihn in seinem Auto, nur wenige Minuten vor dem Jahrtausendwechsel, als er sich wegen des strahlenden Lichts und weil es einfach mehr hergibt, nach Paris aufgemacht hat: nur hat er plötzlich keinen Tropfen Benzin mehr in seiner Xantia und steht mit seinen Gästen in der Autoschlange vor einer Tankstelle an der Porte de Clichy zusammen mit einigen Zeitgenossen, die leicht als Pfennigfuchser, Abgebrannte, Lotterpack oder Deppen durchgehen würden.

Eines schönen Morgens im August 1998, im Badeort Hyères les Palmiers, wo es noch einen Weinmarkt mit dem altertümlichen Namen Les Vignades gibt, erhält er von zwei Freunden ein Autogramm des Varieté-Sängers und Schauspielers Guy Marchand, dem sie angeblich soeben in einer Bar über den Weg gelaufen sind. Er stiefelt los und will herausfinden, ob es sich nicht um einen Scherz handelt: nein, Guy Marchand ist wirklich dort … was er schon immer mag ist dessen burleskes Spiel, den aedistischen Gesang, man lacht, akezptiert seinen Geschmack in der Öffentlichkeit wie das Schönheitspfläs­terchen im Gesicht einer Frau. Im übrigen hat er zu Hause eine Sammlung der besten Aufnahmen des »sentimentalen Meisters«. Nette Koinzidenz am Rande: Einer seiner beiden Wohltäter arbeitet gegenwärtig an einer »Anthropologischen Annäherung an den Begriff der Unterschrift«. Die Kameraden trinken auf ihre Beute.

Im selben Sommer führt ihn eine verstörende Kulturreise zum Mandarom Shambhasalem, der heiligen Stadt des Aumismus, der universellen Religion der Gesichter Gottes, oberhalb des Ortes Castellane in den Alpen der Haute-Provence gelegen. Er erreicht die Stadt wenige Monate nach dem Tod seiner Heiligkeit, des Seigneurs Hamsah Manarah, bisweilen Swami Hamsananda Sarasvati genannt, bei den Meldebehörden, der Polizei und in der Presse auch als Gilbert Bourdin bekannt, ein wegen Vergewaltigung gesuchter Sektenfürst. Er und drei Freunde werden im Schatten der 33 Meter hohen Statue des Kosmo-Planetaren Messias von einem jungen Mann im Tunika-Gewand empfangen, der ohne zu antworten Beleidigungen aus einer anderen Besuchergruppe wegsteckt. Die Sekte stirbt an ihrem Nachwuchsmangel, die Domaine mit ihren naiven, regenbogenfarbenen Tempelbauten geht den Bach runter. Die Ritter des Weiheordens vom Triumphierenden Varja sind ohne ihren geistigen Führer verloren. Ein Mönch geleitet die jungen Touristen in eine Pagode und beschwört mit tiefer Stimme das Mantra, den Ton vom Anfang der Welt: »Aum« (om).

Seine bedeutendste Reise bringt ihn Mitte des Jahres 2000 nach Conakry, in die Hauptstadt der Republik Guinea, wo er in der Familie eines einheimischen Studienfreundes aufgenommen wird wie ein König. Der Schwarze Kontinent fasziniert ihn.

Das spektakulärste Foto, das je von ihm gemacht wurde, zeigt ihn 2007 – von Kopf bis Fuß – an der Seite zweier für den Karneval verkleideter Kameraden in einem Hotelzimmer in Malo-les-Bains, dem Badeort von Dunkerque – duyne kerke, die Dünenkirche auf flämisch (und draußen bricht die Nacht herein über der Nordsee und über dem eiskalten Platz vor dem Casino, das auf seine Spottgeburten in Operettenuniformen wartet, heulender Wind treibt Sand durch die Straßen, zerschleißt die Gassen und Bürgerhäuser an der Uferpromenade, die so gerade ist wie der unendliche Horizont an den sanften, gestaltlosen Dünen, grau in der Finsternis jenseits der belgischen Grenze, bis hinüber zur holländischen Stadt La Panne – De Panne –, deren Lichter in der Ferne leuchten). In einem Klamottenladen hat er sich ein Kostüm in elektrisch-blau genehmigt, dazu eine gelbe Perücke und eine Riesenbrille mit blauem Gestell.

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Dienstag, 16. April, 23.10 Uhr

Er fährt vom Parkplatz des Leclerc-Supermarkts in Clichy, hat sich dort mit Nahrungsmitteln und Benzin für die ganze Woche versorgt. Er schaltet sein Autoradio an und stellt France Culture ein, Kanal 93.5, auf dem die Sendung Récit B beginnt, die er regelmäßig hört. Angekündigt ist eine Programmfolge zum Thema »Beschleunigung«, die bis zum Monatsende dauern soll. Er hat sein Fenster heruntergelassen, raucht, rollt mit 55 km/h über den Boulevard Victor Hugo. Er hat’s nicht eilig. Keiner wartet auf ihn.

… eines Sonntags im September 1989 zerreißt ein Motorradfahrer mit dem Künstlernamen Prince Noir die Stille der Morgendämmerung, er schafft den Pariser Stadt­autobahnring Périphérique in elf Minuten und vierzehn Sekunden. Eine Suzuki GSX-R-1100 reitend, umständehalber frisiert, rast er mit 192 Stundenkilometern Durchschnittsgeschwindigkeit, an manchen Stellen mit 250 km/h, über die gut 35 Kilometer lange Strecke. Für die Nationalpolizei ist der Rekord die reine Provokation, sie will den Fahrer enttarnen, indem sie die Motorradszene unterwandert. Vergeblich … Die Performance führt allerdings ein wenig in die Irre: Ist sie, wie es gerüchteweise heißt, von den Sensationsjournalisten des privaten Fernsehkanals La Cinque auf der Suche nach einem knallharten scoop in Auftrag gegeben worden, oder ist sie die Meisterleistung eines narzisstischen Performers? Über die mögliche medienwirksame Manipulation eines Typs, den seine Motorradkumpel »Pascal« nennen, gehen die Meinungen auseinander …

Der Mann in der Xantia hält besonnen seine Position auf der Mittelspur. Er muss nicht überholen. Seine Hände liegen entspannt auf dem Lenkrad, in Kontrollposition. Mit der Linken sucht er nach der Fensterautomatik, er braucht etwas mehr Luft. Dann schmiegt er sich noch tiefer in den Sitz, entspannt die Beine, beugt den Kopf zurück, lässt ihn auf der Nackenstütze ruhen, relaxt.

… Erfahrene Motorradfahrer sind sich einig, dass diese Todesfahrt über den Périphérique im Jahr 1989 keine große Nummer war. Nicht nur war die Zahl der Fahrer, die ein Motorrad mit dieser Geschwindigkeit steuern konnten, zu der Zeit Legion, nein – ein guter Fahrer mit einer prima Rennmaschine hätte das leicht besser machen und die Zeit unter zehn Minuten drücken können. Die »Heldentat« des Prince Noir lässt vor allem die Eitelkeit eines simplen Rasers erkennen, der es lediglich geschafft hat, die Aufmerksamkeit der Polizei auf die Biker-Gemeinde zu lenken. Der Schwarze Prinz ist 2012 fünfzig Jahre alt geworden und ist gegenwärtig Objekt eines Mikro-Kults im Web. Wie übrigens auch der schwedische Fahrer »Ghost Rider«, der 2004 als Hom­mage an den französischen Performer den Périphérique in neun Minuten und sechsundfünfzig Sekunden auf einer Honda Hayabusa schaffte – Wanderfalke auf japanisch, ein für seine außerordentliche Fluggeschwindigkeit bekannter Raubvogel. Ghost Rider, dessen hauptsächliches Steckenpferd die Provokation der Ordnungskräfte auf schwedischen Autobahnen ist, gilt heute als der unangefochtene Meister des Geschwindigkeitsterrors im öffentlichen Straßenverkehr …

Der Fahrer hat vor einer roten Ampel angehalten. Es ist schön heute Abend. Die Luft ist warm, subtil. Das Thema der Sendung macht ihm Spaß. Wenn er die Xantia jetzt in der Tiefgarage parkt und zu sich in die Wohnung hochsteigt, wird er allerdings die Sendung Recit B für einige Zeit verlieren. Die Ampel springt auf grün. Statt nach rechts abzubiegen, Richtung Wohnung, fährt er links ab und auf die Porte de Clichy zu, dann verschwindet er gegen den Uhrzeigersinn auf dem Périphérique.

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Dienstag, 30. April, 18.40 Uhr

Er irrt durch die Straßen von Enghien-de-Bains. Die Sonne verbrennt alles. Die Stadt hat keinen Schatten, ist strahlenkrank. Seine Haare kräuseln sich in der warmen Luft des Gebläses. Zweiter Gang, dritter. Er verlässt ein Wohnviertel, nähert sich dem Casino. Das Autoradio ist stumm. Die Fensterscheiben sind wasserdicht. Er ist auf Tauchfahrt durch das Nichts (es erwartet ihn eine Sache, die jede Motorik ausschließt, jede Fortbewegung, jedes Bedürfnis). Seine letzten Gewerkschaftsakten hat er zu Hause gelassen. Er treibt, wartet im hellen Sonnenschein auf das Ende der Nacht. Er fährt mit ernstem Eifer, wie ein Fahrschüler an der Seite eines Prüfers, respektiert alle Geschwindigkeitsbegrenzungen. Seine Artgenossen über­holen ihn. Von Zeit zu Zeit verschwimmt ihm der Blick, er gähnt. Um ihn herum tobt das Leben. Vierter Gang. Er umrundet den See von Enghien und schickt sich an, in Richtung Saint-Denis zu fahren, die Hagiographie des 272 enthaupteten Schutzpatrons von Paris geht davon aus, dass der Heilige, den Kopf unterm Arm, von Montmartre sechs Kilometer bis zum heutigen Standort der Basilika marschierte. Die See glitzert, ist bedeckt mit Booten. Erschreckt schaut er auf sein Telefon, das ihn soeben fragt WAS MACHSDU HEUTE ABEND SUPER FETE KOMM, genau in dem Moment, als er an einem Müllwagen vorbeifährt und glaubt, dass er den Fahrer kennt, dessen Arm da aus dem Wagenfenster hängt. Nein, es ist nicht der Freund, der ihm gerade eine SMS geschickt hat. Warum sollte es der auch sein? Warum sollte er hier Seite an Seite in Enghien-les-Bains mit einem Kumpel stehen, der ihm vorschlägt, heute Abend zusammen auszugehen, wenn der gerade den Dreck von Paris einsammelt?

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Montag, 22. April, 11 Uhr

Sie verlässt die Agentur Elite, steigt die Treppen der Nummer 8b, rue Lecuirot hinunter, eingehüllt in ein Kleid aus jungfräulichem Mousseline und die Aura der Jugend. Die Frühlingsluft ist ausschweifend warm, der Treppenschacht feucht wie ein Brutkasten. Das Mannequin passt ängstlich auf, bei jeder einzelnen Stufe, ein falscher Schritt könnte ihr die Knochen brechen. Ihre Hand, so mager wie die Arme, gleitet über das Geländer. Das ist vielleicht ein neumodisches Hochzeitskleid, das sie trägt, oder eine Garderobe für den Abend, die ihr auf den Gliedern flattert. Ihre fahrigen Gesten, die ruckartigen Bewegungen, lassen sie aussehen wie eine Gliederpuppe. Jeder Schritt wird zum Drama. Er sieht sie kommen. Er zeigt sich ausnahmsweise in einem schwarzen T-Shirt City of lights, und in Erwartung der Begegnung hämmert sein Herz bis zum Hals. Da ist sie nun, auf gleicher Höhe. Sie schätzen sich ab. Sie trägt keine Sonnen­brille, er auch nicht. Sie hat meerblaue Augen, genau wie er. Augen so abgrundtief und grau wie das wilde Meer. Ihr hageres Gesicht betont im Übermaß die feinen Linien – diese Augenbrauen wie Arkaden, die Wangenknochen, Kiefer und Zähne hinter leicht geöffneten Lippen. Er selbst ist ziemlich stämmig. Vielleicht weil es sie drängt, seine Haut zu berühren, hebt sie vorsichtig die Hand und beginnt, sein Gesicht zu streicheln. Ihre Finger streifen leicht die Schläfen, wandern abwärts – die Augenlider, der Nasenrücken, der Cupido-Bogen, die Lippen, dann die Wangen, Kiefer, Kinn. Er bewegt sich nicht, wird zärtlich gekratzt. Hat jemals eine Unbekannte sein Gesicht gestreichelt? Niemals. Seine Arme sind steif. Sie schaut ihn an wie eine Offenbarung. Sie hat ihn wiedererkannt. Er ist ihr Spiegel und ihr Messias. Auch er hat sie erkannt. Sie ist sein Schrecken. Sie lässt die Hand sinken, drückt sie auf den Plexus, auf das Feuer. Beider Augen sind transparent, widerstandslos. Doch dann fühlt er sich bedrängt, will sich aus dem Staub machen. Sie zieht heftig ihre Hand zurück, lässt ihn in Frieden, und da ist es zu Ende, weil alles zu Ende geht, sie steigt wieder abwärts und er steigt hinauf. Sie ihrer müßigen Freiheit entgegen, er zu seinen sinnlosen Pflichten.

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Dienstag, 16. April, 23.22 Uhr

Er kutschiert gemächlich über den Périphérique und nähert sich mit 63 km/h der Porte de la Muette, es läuft immer noch Récit B auf France Culture. Draußen sind es 21 Grad Celsius. Auf dem Radiopaneel leuchten rot die Ziffern 93.5 FM. Eine elektrische Signaltafel über der Straße zeigt an: »Périphérique Verkehr flüssig.« Wie ein Festzug reihen sich die weißen, satellitenvernetzten Leuchtfeuer um den Pariser Ring und ihr mildes Spektrallicht vermählt sich mit der im Radio dokumentierten Zeugenaussage Christians – 50 Jahre alter, ehemaliger Stuntman, gegenwärtig Requisiteur für Kino-Spezial­effek­te, seit sechsundzwanzig Jahren Teilzeitbeschäftigter für Schauspiel und Theater, der sich mit dem Thema Beschleunigung auskennt.

Ich war der erste Franzose, der zur Eröffnung von Motorrennen den »Sabot« gewagt hat, die Holzschuhnummer. Der »Sabot«, das ist … wenn sie dich mit Affengeschwindigkeit hinter einem Motorrad herziehen, auf Holzschuhen, ich habe das bis 220 km/h ausgehalten. Gesehen hatte ich das bei einem Typen in Deutschland, auf dem Nürburgring. Als ich wieder in Frankreich war, wollte ich es selbst probieren. Das war professioneller Exhibitionismus, meist bei den großen Konkurrenzen, Typ 24 Stunden von Le Mans, aber auch bei den Dorfveranstaltungen auf den Nationalstraßen. Ich habe nicht viel verdient mit der Nummer, es war eher eine Leidenschaft, eine Möglichkeit, berühmt zu werden und Arbeit beim Film zu bekommen. In den 80er Jahren war ich der Mann, den alle kannten. 1985 kam meine Tochter zur Welt, da habe ich den »Sabot« aufgegeben.

Das Mobiltelefon des Fahrers vibriert. Es zeigt den Namen des Anrufers: Patrick, ein Gewerkschaftskollege, der etwas von ihm will – der will andauernd irgendwas, ständig, unaufhörlich. Er antwortet nicht, er hört lieber Christian im Radio zu. Das Telefon vibriert wieder – eine Nachricht, er wird sie sich später ansehen.

Eines Tages sieht so ein Typ meine Show und bietet mir an, Stunts für einen Film zu machen – Banana’s Boulevard, 1986, ein Film Richard Balduccis mit den Forbans. Die waren damals Stars. Danach folgte Dreh auf Dreh, viele kleine Filme, viele sind nie gezeigt worden, auch ein paar interessantere Sachen, ein Film von Pierre-William Glenn zum Beispiel, der 1993 herauskam. Es ging um einen Unfall bei den 24 Stunden von Le Mans, ich sollte mit 150 Sachen stürzen. Habe auch viel fürs Fernsehen gemacht, die großen Sendungen in den 90er Jahren, wie La nuit des héros und Les Marches de la gloire. Na ja, Star sein war nicht mein Ding. Auf der Straße haben mich die Leute erkannt und wollten ein Autogramm. Gefiel mir nicht. Damals haben wir auch viele echte Unfälle nachgestellt. Wir waren überall in Frankreich, haben mit den Verunglückten diskutiert und den Unfall imitiert. Da gab es eine schwangere Frau, die unter einen Austin Mini geraten war … Wir haben die Szene wiederholt, ich war die schwangere Frau unter dem Auto.

Der Mann in der Xantia nickt zustimmend, mitfühlend. Nächste Ausfahrt Porte de Vanves. Er hat nichts vor. Niemand wartet auf ihn. Hier im Auto spricht einer zu ihm. Das ist cool.

Ich bin einer aus dem Banlieue im Süden. Arpajan, 91. Departement. Mein Vater war Feldwebel, kümmerte sich um die Tour de France für Militär-Motorräder. Das Motorrad war für mich die natürlichste Sache. Studiert habe ich nicht, bin überall rausgeflogen. Habe Mechaniker gelernt und mit 19 Jahren Stuntman, Ende der 70er Jahre war ich beim streetracing in Rungis dabei, den illegalen Rennen auf der Straße; viele Rennen, jede Menge Unfälle. Jedes Wochenende das große »Egal-was-passiert«. Wir waren Jungs aus den Banlieues, kein Geld in der Tasche. Die Maschinen für die runs haben wir halt ab und zu geklaut. 1979 haben sie in Tremblay-en-France den Carole-Kurs gebaut, wegen der vielen Unfälle. Sie wollten der Sache einen Rahmen geben, die Rennfahrer und ihre Wahnsinnsfahrten von den öffentlichen Straßen fernhalten. Carole – so hieß das Mädchen, das bei einem run in Rungis umgekommen war. 1980 sind direkt vor dem Haus meiner Mutter in Arpajon zwei Kumpel gestorben, Brüder, ein Auto ist ihnen in den Weg gekommen. Der auf dem Sozius ist vorher nie Motorrad gefahren. Meine Mutter dachte, ich wäre es gewesen.

Der Fahrer schließt plötzlich die Augen, eine Sekunde, zwei, drei, vier Sekunden, öffnet sie wieder, richtet sie auf das Leben. Ja, das ist cool.

Das Motorrad, das waren die Kumpel und nichts als die Kumpel. Die Tussis waren uns egal. Meine habe ich 1981 getroffen. Ich arbeitete in einer Mercedes-Werkstatt in Libourne. Ich hatte mir einen Arm gebrochen, hatte die Nase voll vom Landleben, ich wollte zurück nach Paris. Mein Plan war: Ich bleibe bei der ersten Schnalle, die ein Appartement hat. Ist mir klar, dass das widerlich ist, aber so kam es. Wir sind immer noch zusammen … Wenn das kein Beweis für wahre Liebe ist! Ich habe außer denen, die mit ihren Frauen schon genauso lange auf derselben Bude sitzen, keinen einzigen Freund. Woraus folgt, dass du aus reinem Zufall an die Liebe geraten kannst.

Ja, das ist in der Tat cool.

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Dienstag, 30. April, 22.40 Uhr

Die Xantia ist leblos und unsichtbar in der Nacht, doch plötzlich wird sie blendend weiß, pur, total, eingefangen vom vorauseilenden Scheinwerferlicht eines Müllwagens, der den Hof der Verbrennungsanlage verlässt – gespens­tische weiße Dame, beklemmende Verkünderin des Todes, in ihrem Inneren die flüchtige Erscheinung eines Lockenkopfes, des über das Lenkrad gebeugten Fahrers, die Lippen auf dem Heft des Messers, das ihm im Herzen steckt (wie eine letzte Laterne über dem schlummernden Programm menschlicher Begebenheiten, oder auch das zeitzünderische Licht der Glühbirnen in einer elektrischen Girlande – wie jene, die den eisigen Beton und die Granitfassaden der Häuser an der Peripherie von Lorient schürzen, die zum Leben erwachen am Heiligen Abend und die in der feuchten, schwarzen Nacht glitzern, während die Leute schlafen / ihre Arbeitskraft nachbessern / träumen.)

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Auf den Straßen von Paris

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