Читать книгу Auf den Straßen von Paris - Frédéric Ciriez - Страница 6
ОглавлениеDer weiße Xantia steht vor dem Hof für abgeschleppte Autos in Saint-Ouen (93400), es dämmert. Ein Kassenzettel auf dem Beifahrersitz über 14.90 Euro, 20.34 Uhr – der Zeitpunkt, zu dem das Küchenmesser gekauft wurde, das im Herz des Fahrers steckt. Sein Kopf ist auf die Knie gesunken, das Ganze sieht aus wie der Foetus eines jungen Mannes mit kastanienbraunem, gewelltem Haar, der, sozusagen mit sich selbst beschäftigt, am Griff des Messers nuckelt. Das Messer: Eingegraben ins Herz, und nichts wird jemals wieder so hart sein in seinem Leib, nichts hatte jemals eine solche Konsistenz wie diese in die seidenweichen Kranzgefäße versenkte stählerne Klinge. Fleischige Lippen haben sich um die Waffe des Abends gekrampft, tropfend und leblos. (In der Ferne die nervöse Stadt – in den Straßen wird der Samstag Abend eingeläutet, der Frühling sprüht.) Was den Toten anbetrifft, so wartet der in dieser verlassenen, erdfarbenen Straße, dass man ihn abholt, so wie man ein Kind von der Schule abgeholt hätte, das sich weigert, um seine Mutter zu weinen. Über ihm inhaliert der Himmel weißen Rauch, der senkrecht aus der Müllverbrennungsanlage der kommunalen Müllverarbeitung Syctom steigt. Deren Eingang liegt ein bisschen weiter unten in der Straße, in der Nummer 22.
Eine notdürftig verputzte Mauer aus Hohlblocksteinen entlang des Abstellplatzes, auf deren Krone sich Stacheldraht ringelt. Das dahinter ist Paris. Jenseits des Baumarktes Conforama, dem Land, wo das Leben so wunderbar billig ist, erscheinen am Horizont die wie Brustwarzen sich reckenden, beleuchteten Kuppeln der Sacré-Cœur über dem Nordhang des Montmartre-Hügels. Davor, das Industriegebiet ausgrenzend, trägt ein Arm der Seine an diesem Abend jenes Rostrot des Himmels mit sich, das gegenüber am anderen Ufer auch die Spiegelglasfassaden der Bürogebäude reflektieren. Der Xantia steht eingeparkt zwischen einem vergessenen Lieferwagen und einer Skoda-Limousine, 800 Euro zum Ausschlachten. Auf der anderen Straßenseite parken hinter einem Ring aus Mauern so um die 300 illegale Schlitten. Sechs Kameras passen auf und registrieren Sekunde um Sekunde ihre Nicht-Existenz, während in den Rückspiegeln der eingesperrten Wagen Fragmente einer erstorbenen Autowelt aufblitzen – starrer Kühlergrill im Schminkspiegelchen einer Sonnenblende, ein im Nichts eines Wagenfensters sich manifestierendes Nummernschild, ein erloschener Scheinwerfer, eingeschaltet vom Licht der Dämmerung. Eine feine Staubschicht hat diese leblose Gesellschaft überzogen. Kein Kind aus osteuropäischen Gefilden hat sich zu dieser Stunde auf dem ummauerten Gelände eingefunden, um den Mercedes eines Funktionärs im höheren Dienst auseinander zu nehmen, auch kein Lösungsmittelschnüffler. Nur die letzten Wogen der Tageshitze kräuseln noch die Leisten aus Chrom und die Schattenbilder der verwaisten Karosserien.
Plötzlich leuchtet die Westentasche des Toten auf und schickt gedämpftes Summen wie von einer elektrischen Haarschneidemaschine aus. Der kleine Screen eines Mobiltelefons, aufgeladen von Emotionen aus grünflüssigem Kristall, liefert ein die Umstände erfassendes SMS: BIST DU HEUTE ABEND UNTERWEGS? Das künstliche Samsung-Herz, im Telefon eingenistet wie ein Appendix in der Leistenbeuge, erlischt abrupt und lässt seinen Besitzer in der Stille der Straße zurück. Der Tote hat die Augen auf seinen Unterleib gerichtet. Die gleich Schießscharten noch halb offenen Augenlider lassen zwei Strahlen aus blauem Licht passieren. Der Nacken ist gespannt. In den Haaren spielt das letzte Tageslicht. Das Kinn berührt die Stelle, wo sich die Schlüsselbeine treffen. Das auf den Oberkörper gesunkene Gesicht sieht fröhlich aus, und frisch. Die leicht geöffneten, in den Mundwinkeln von weiß getrockneter Spucke bedeckten Lippen küssen den schwarzen, mit drei Nieten aus Stahl verzierten Griff des Messers. Der gedrungene Körper von mittlerer Größe weist auf Ende Vierzig. Unter dem Sicherheitsgurt straffen sich ein heller Anzug und ein weißes Hemd, schwarze Stadtschuhe an den Füßen, dessen einer – wie zur Erholung – auf der Kupplung ruht.
Der Kamin der Verbrennungsanlage streckt sich in den rostfarbenen Himmel. Seine drei Abzugsrohre machen ihn zu einer mehrläufigen Flinte, an die hundert Meter hoch, die mit professioneller Stetigkeit den Wasserdampf aus verbrannter Materie verschießt. Weiße Eruptionen entweichen aus klaffenden Abzugsöffnungen und verflüchtigen sich waagerecht im Nichts der Luft. Warnleuchten aus rötlichem Licht verzieren dieses Industrieorgan wie mit immateriellen Rubinen, pur und unverfälscht im leeren, rostigen Himmel. Einzelne Müllwagen fahren noch auf den Hof der Anlage, um sich vor Anbruch der Nacht ein letztes Mal ihrer Fracht zu entledigen. Die Leute von der Kontrollbereitschaft glotzen unbeteiligt auf ihre Monitoren, die ohne Ende die Filmversion der Wirklichkeit ausstrahlen.
Im Jahr 1884 drückt der Prefekt Eugène Poubelle den Parisern die Benutzung des Mülleimers auf, genannt »Poubelle«. 1896 entsteht die erste Verbrennungsanlage in Saint-Ouen. Der Kamin raucht nur ein paar Schritte entfernt von der Stelle, wo der Tote in einem Sarkophag ruht, der den Namen einer obskuren ägyptischen Göttin trägt, Xantia. Die Materie verbraucht sich. Ihre energetische Verwertung wird manifest in der Produktion von heißem Dampf für Heizung und häuslichen Strom in Paris und Umland (einige Häuserblocks vom Kamin weg verdampft Instinkt, taumelt gemeines Volk im Alkohol, nisten Flüche und feuchte sexuelle Triebe). Es ist noch keine Stunde her, da sah die ziegelrote Sonnenscheibe aus wie ein offener Schließmuskel, wie ein gigantischer Projektor. Die Verbrennungsanlage kennt keinen Sonntag und auch keine Feiertage (Saint Ouen, der Heilige Audoenus, ist der Schutzpatron der Fleischgriller). Das gegenwärtige Zentrum für Energieverwertung namens Syctom, dessen phonetische Nähe zum televisuellen Terminus Sitcom bemerkenswert ist, wurde 1990 gegründet.
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Die Reifen der Rollstühle, die auf das Reha-Zentrum Kerpape in der Nähe der Atlantik-Stadt Lorient zuhalten, drehen still um ihre Achsen. Die sie antreibenden muskulösen Arme haben die Spannweite großer Meeresvögel, sie breiten sich aus in ständigem Rhythmus, riesige V-förmige Wellen beschreibend. Die Hände der Piloten, oft Opfer des Straßenverkehrs, stecken in weißen und schwarzen Halbhandschuhen von der Sorte, mit denen Cabriolet-Fahrer – Männer oder Frauen – Mitte des 20. Jahrhunderts hoch über die steilen Felsen der Côte d’Azure dahinbrausten. Eng verbunden mit ihrem normalen fahrbaren Untersatz gleiten die Stühle aus einwandfreiem Chrom auf das Etablissement zu, das hier ans Meer gebaut wurde. Die Strandkiefern mit ihren stufenförmig wie japanische Pavillons ausgebreiteten Ästen grüßen heute Abend in majestätischer Gelassenheit das sie umgebende Wasser. Das Meer schäumt sacht auf die sandigen Ufer. Um diese Tageszeit sind die Sterne noch unsichtbar, einige Stunden wird es dauern, bis sie sich in glitzernde Nadeln über einem Atlantik verwandeln werden, der so schwarz sein wird, wie die Nacht, gesäumt nur von gespenstischer Gischt. Das ist die Dämmerung. Das Meer sieht aus wie blaues Bier. Die Behinderten kehren zurück ins Zentrum wie Matrosen in ihren Hafen.
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Das Auto badet in rotem der Dämmerung abgerungenen Licht, die sich auf der Straße mit dem Namen »Die Docks« ausgebreitet hat. (Ein Projekt der Öffentlichen Hand, »Horizon 2025« genannt, das die vollständige »Rehabilitation« des Quartiers vorsieht: zehntausend neue Einwohner, Miettürme am Seine-Ufer, ein Einkaufszentrum von europäischem Zuschnitt, eine amtlich patentierte und statistisch festgestellte soziale Vielfalt, eine Siedlung zum Ruhm des französischen Volksliedes, architektonische Modelle, die in einer Räumlichkeit des Rathauses von Saint-Ouen ausgestellt sind, eine eigene Agentur für öffentliche Verständigung, die Informationen über eine Hotline zu geben verspricht, preisgegeben von Bedienungspersonal mit leicht mechanischer Stimme und einem Zwischendiplom in Politischen Wissenschaften, der volle und penible Strang von Sozialstruktur also, eingegraben ins urbane Gewebe wie ein Messer ins Herz.) Der jüngste Wohnsitz des Dahingeschiedenen ist im Moment allerdings nur ein weißes Mobil-Home der Marke Citroën, auf den Namen Xantia getauft (die Karre trägt den Namen einer Göttin der Straßen, ist aber nichts als eine Gelegenheitsdame, aus zweiter Hand quasi – die Frauen werden dich umbringen dafür), das sich an den mit Stacheldraht verhauenen Leib des Abstellplatzes gedrückt hat. Fehlt nur noch das Plakat für ein Schauspiel ohne Zuschauer, das absolute Spektakel (Reminiszenz vielleicht an eine Illustration des belgischen Zeichners Guy Peellaert im Badezimmer des Verstorbenen: Ein Poster der »Supremes«, die drei schwarzen Sängerinnen der »Motown« preißend, die – gehüllt in fuchsienrote Fummel, in einen Sturzbach aus Perlen und ein diamantenes Lächeln – sich auf dem Dach eines liegengebliebenen Autowracks präsentieren).
Die Unterbrechung des Spektakels ist die einzige philosophische Frage, die zählt.
Neben der des Suizids.
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Der Aufbahrungsraum von Lorient – Stadt im Departement 56, Unterpräfektur Morbihan, Küstenstreifen mit bretonischer Sprache – wurde beim Ortsausgang an eine vierspurige Ausfallstraße gebaut, mit ihren nie abreißenden Strömen bunter Autos unter einem aschegrauen Himmel. (Lorient, L’Orient, Laure riant – die lachende Laure: leicht ist es, den Namen der Stadt zu variieren, deren Verbindung zum Orient über ein vergangenes indisches Handelskontor nicht hinausreicht, die Sonne am Atlantik vielleicht noch eingerechnet, die an schönen Tagen über den Betonquadern der 50er-Jahre-Architektur zu schmelzen vermag wie Gold oder Bronze, letztere ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, erstarrt in ewiger urbaner Fiktion, morbide und depressiv). Es handelt sich um einen sternförmigen Komplex, aschefarben auch er, als wolle das Gebäude mit dem flanellfarbenen Ton seines Wirkens harmonieren. Tagsüber verschmilzt der milchige Rauch des Brenners mit dem Himmel und letztlich weiß niemand, dass die Kadaver sich verbrauchen wie Holz in der Feuerstelle eines Kamins, bevor sie als Wasserdampf durch den Abzug verschwinden. In der Nacht, im Licht der Straßenlampen, behauptet sich der Rauch eher wie ein vertikaler, weißlicher Schlussstrich – die Finsternis des ständig wachsenden Vermisstwerdens anreichernd (wenn nun die bestimmende Lebensfarbe von Morbihan, des Westens also, wirklich grau ist – grau und nichts anderes, wenn der Tod, der die Nacht begattet, demnach weiß trägt, dann sind wir weit entfernt von den Farben der Hoffnung, die sich zu Beginn des neuen Jahrtausends in jenen von schmerzlicher Entchristianisierung befallenen Zonen nur in elektrischen Girlanden ausdrücken, ausgestellt wie die letzten Reste religiöser Organe, nicht nur auf dem Tannenbaum im Wohnzimmer, sondern auch draußen vor dem Haus, auf den kalten Fassaden aus Granit, die zu blinken beginnen auf dem klingenden Stein, wenn er endlich da ist, der heilige Abend und mit ihm das ganze lange Fest.
Die Dämmerung. Eine aschegraue Dämmerung. Das Maul der Verbrennungsanlage verströmt ausdruckslose Freude. (Die eigentliche Fremdartigkeit Lorients aber geht auf ihre keltischen Gene zurück, wie Schlacke kleben sie auf der Anpassung ans Französische, auf dem Militärischen, das die Stadt drückt mit seinem Arsenal und der U-Boot-Basis, längst rehabilitierte Überbleibsel der Nazi-Zeit; im August beherrscht interkeltische Festlichkeit die Straßen, ein Sturm der echten und der eingebildeten Kelten aus aller Welt, und natürlich die Mädchen, die – so will es die lokale Hymne – »so sind wie die Hummer / sie tragen ihre Bänder in rot und in schwarz«.) Das ist die Dämmerung.
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Xantia: Die Limousine mit dem Namen einer Industrie-Gottheit steht in einer beeindruckenden Straße. Ihr weißes Leichentuch liegt im Staub der Stadt, der die Luft gesättigt hat, Tag um Tag satter in der Hitze des Frühlings. Ihre Flanken sind von all den Kanten eines Lebens zerbeult, Falten auf dem Kleid aus Blech, befleckt von Schmiere aus dem Dunkel unter den Kotflügeln. Hingestreckt auf dem Gehweg vor dem Abstellplatz wartet sie darauf, endlich genommen, verkauft, zerlegt zu werden, in der Schrottpresse zu enden. Oder aber ihre Reinheit wieder zu gewinnen, Jungfräulichkeit aus den Händen eines unverheirateten Bastlers, eines Schraubers mit Hang zur Vernunftehe. Im Wageninneren ist der Besitzer im Zustand absoluten Autismus (er ist tot). Die Zentralverriegelung ist eingerastet. Das Auto ist verschlossen, eine wandernde Junggesellenwohnung ohne Vorhänge an den Fenstern. Abgeschaltet sind alle Organe und Funktionen – Motor, Tachometer, stehengebliebener Kilometerzähler, die weißen Ziffern für 184456 Kilometer, die rote 7 für Hektometer, als wäre das hier ein Glückspiel, Gangschaltung auf Leerlauf, Gebläse auf volle Kraft aber ohne Luft, Autoradio stumm, etc. – mit einer einzigen, gleichen Botschaft: Bitte nicht mehr stören!
In etwas weniger als zwei Stunden wird der 1. Mai Einzug halten in diese trostlose Straße. (Für die Heiden im Norden Europas ist längst Walpurgis, die Nacht, in der die Lebenden den Toten begegnen, das Ende des Winters und der lebenspendenden Erneuerung. Anachronistischer Hexensabbat löchert die Stille der fernen skandinavischen und germanischen Wälder, Feuer prasseln in feuchter Finsternis, während die Demonstrationszüge der französischen Arbeiterklasse sich noch gedulden müssen, bis sie endlich in diesen großen Tag hineinmarschieren dürfen, über die Boulevards und durch das Stadtzentrum von Paris, in praller Sonne.) Der Maibaum ist gepflanzt, mitten hinein ins Herz des Fahrers, seine stählerne Wurzel getränkt von menschlichem Blut.
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Er ist noch nicht tot. Aber bald, aber bald …
Dienstag, 2. April, 11 Uhr morgens.
Er befindet sich im XIV. Arrondissement von Paris, steigt die Treppen eines Hauses in der rue Lecuirot Nummer 8b hinauf. Noch bevor er das Stockwerk mit den Büros seiner Gewerkschaft erreicht, kreuzen Frauen seinen Weg – zwei Damen wie Stelzvögel, die eben die Agentur »Elite« verlassen, die Vermittlung für Mannequins; eine ziemlich braune Blondine und eine Schwarze mit gelbem Haar, beide so um die Zwanzig. Sie bewegen sich ruhig, scharf, die nackten Arme in der frischen Luft des Treppenabsatzes, Sonnenbrillen auf der Nase (das Treppenhaus ist freilich finster wie ein Brunnenschacht). Eingezwängt in seinen engen Anzug aus sandfarbenem Leinen mustert er sie aus den Augenwinkeln, die rechte Hand hängt ob des Gewichts einer geräumigen Aktentasche etwas tiefer als die Linke. Die Tür mit dem Messing-Firmenschild »Elite« schließt sich wieder. Noch zwei Stufen muss er steigen, bis er die beiden direkt vor sich hat. Geschafft. Sie bemerken ihn nicht, oder nur flüchtig. Sind das Professionelle oder nur Berwerberinnen fürs Metier? Er belauert sie, diese Kreaturen einer anderen Menschenkategorie, Gipfel gesellschaftlicher Gestaltung und plastischer Sonderheit. Zwei Frauen wie Jungstuten – die leichenblasse Ghoula in einer Tunika aus rotem Satin, eine Schwarze, die Augenbrauen und das geglättete Haar mit Superoxyd gelb gebleicht. Es bleibt ihm noch eine Etage bis ins Gewerkschaftsbüro. Thema heute: »Die Mitgliederwerbung optimieren«. Sie sind nicht ganz so perfekt wie im Fernsehen oder im Internet mit seinen Pixel-Collagen, aber immerhin …
Warum haust die Gewerkschaft über der Agentur »Elite«? Auf der oberen Etage – eine progressive Vision von Demokratie, interprofessioneller Dialog, aufopfernde Treue, narzistische, kleinstmögliche Förderung von Engagement, Kollegen, die Wirklichkeit. Auf der unteren Etage – der Handel mit dem Schein, der Bestand an kosmopolitischem, die Rassen transzendierendem Menschenmaterial, Hülsen, geografische Zuordnung (Frage: welche Gewerkschaft ist eigentlich für Mannequins zuständig? Sind diese beiden Mädchen eigentlich organisiert? Und wo? Bei ihnen da oben? Das würde ihn überraschen. Und warum soll nicht er sie vertreten? Das würde ihm Abwechslung von den normalen Lohnempfängern verschaffen. Und der Arbeiterschaft ein bisschen frisches Blut …). Er dreht sich um, schaut sich das abgenutzte Treppenhaus zwischen dem dritten und vierten Stock an, erspäht zwei Haarkronen in Bewegung. Er könnte kopfüber hinunterspringen, auf die Mannequins stürzen, sie mit seinem Tod grüßen. Er könnte auch einfach zurücksteigen, einem dieser Mädchen das Glasbein brechen, sich eine Scherbe greifen, als wäre es eine zerbrochene Flasche, sich damit die Adern öffnen, das Herz des Opfers durchbohren. Ihm wird schwindlig, er nimmt sich zusammen.
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Die Straße wartet. Sie verharrt im Dämmerschlaf in brüllender Hitze, der alles verzehrenden Gewalt der Sonne ausgesetzt, umgeben von Mauern aus Schamottsteinen wie von den Wänden eines Backofens. Kein Windhauch, eher eine unbestimmte Art von Atemnot über dem glühenden, sich verflüssigenden Makadam. Ein herumirrender Hund mit mageren Flanken hebt das Bein und will ein paar Tropfen loswerden am Reifen eines Lieferwagens, der zwischen dem Abstellplatz und einer Automobilvertretung an der Ecke Boulevard Victor-Hugo steht. Der Hund hat Durst, lässt die Zunge zwischen den Reißzähnen aus dem Maul hängen, kratzt sich das weiße Fell, das an manchen Stellen rot ist wie von einer Nekrose, trollt sich schließlich und will in den Autohof hineinkommen, den er vielleicht mit der Gesellschaft zum Schutz der Tiere SPA verwechselt – (falls ein illegales Tier es bis auf den Hof schafft, könnte es womöglich ein Auto besetzen, sich im Schatten ausruhen, sich dort wohlfühlen, in einem Alfa Romeo verrecken, während es auf die Nacht wartet).
Im ZAC, der Stadtraumentwicklungszone von Saint-Ouen, wird an diesem Dienstag Nachmittag gearbeitet. Von der rue Ardoin bringen die Abschleppwagen die eingesammelten Fahrzeuge nacheinander auf den Hof. Die Müllwagen kommen und verschwinden wieder aus der Syctom, die Kaminrohre stoßen Rauch in den durchsichtigen Himmel. Paletten mit zusammengefalteten Kartons stapeln sich beim Öko-Verpackungssystem. Der Lager- und Hamsterdiscount »laffaire.com« öffnet dem Publikum die Pforten, ein »Privatverkauf« italienischer Anzüge ist angesagt. Morgen allerdings wird nicht gearbeitet, da haben wir Maifeiertag. Zu dieser Stunde wartet die Straße, sie ist offen wie nie, herzklopfend offen. Ihr schwarzer Bauch ist nackt, ausfließend, bereit sich zu entleeren, wie eine Gebärmutter sich ihrer blutigen Regel entledigt. Autos fahren vorbei, die Luft ist vom schweren Abgasgestank noch stickiger geworden. Die Straße ist wie eine Feuersbrunst, gespeist aus unsichtbaren Hinweisen, steckengeblieben in der Zeit zwischen Walpurgis und dem Tag der Arbeit. Sie wartet auf ihre Stunde und auf ihren Mann.
Ach, wie erwartungsfroh ist die Natur, seit einem Monat platzen die Knospen auf jedem Zweig eines jeden Baums der Stadt! Ach, wie erwartungsfroh ist die Natur, wie in jedem Jahr wird die negative Nacht den Monatsfluss aus den Herzen der Selbstmörder trinken! Ach, wie erwartungsfroh ist die Natur, morgen werden die Arbeiter durch Paris ziehen und die Fahnen ihrer Träume schwenken.
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Freitag, 5. April, 23.30 Uhr
Er ist allein in seinem Salon in der verlassenen Straße hinter der Porte de Clichy (auf dem Périphérique drehen die Autos ihre Runden im reißenden Rhythmus einer Muräne im Aquarium, auf die obskure Ausfahrt wartend). Er thront in seinem Büro und schaut sich zwei Dokumente von exakt gleicher Größe durch. Er sieht prima aus in seinem vom schwachen Licht der Deckenlampe gesprenkelten anthrazitgrauen Anzug. Er hat einiges Gewicht verloren, war niemals zuvor so gepflegt, so würdevoll, so in Form – wie für ein Sprintfinale.