Читать книгу Auf den Straßen von Paris - Frédéric Ciriez - Страница 8

Stapel 2

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Broschüre 3318 des offiziellen Journals zur allgemeinen nationalen Vereinbarung über erwachsene Mannequins und Mannequins im Alter von weniger als 16 Jahren, angestellt von professionellen Agenturen.

Bezahlter Urlaub … Mindesteinkommen … Spezifische Modalitäten zur Anstellung von Kindern … Gleichbehandlung französischer und ausländischer Gehaltsempfänger … Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Mannequins … Berücksichtigung behinderter Gehalts­empfänger … Recht auf gewerkschaftliche Tätigkeit … Der im Schnellverfahren überprüfte Index bestätigt ihm: Er hat einiges zu lesen heute Abend. Dann verweilt sein Blick auf dem rosafarbenen Dossier der Penelope R., neunzehn Jahre, der die Mannequin-Agentur per Vertrag untersagt hat, nach 23 Uhr die Wohnung zu verlassen und mehr als einmal alle zwei Tage zu essen … Das soll alles legal sein?

Im Kellergeschoss des Hauses, in den betongegossenen Marställen der Tiefgarage, erholt sich Xantia still in ihrer Box. Ihre Augen sind geöffnet und abgeschaltet, sie schläft weiß in kühler Finsternis.

Über ihr spielt ihr Meis­ter weiter den Aktenfresser, Hausarbeitszeit der Büroarbeitszeit hinzufügend. Als suhlte er sich aus Gefallsucht oder Überlebensinstinkt in einer trüben Freude darüber, zu viel zu arbeiten. Er hält sich aufrecht, lässt den Strahl seiner blauen Augen über ein Meer kalter Buchstaben gleiten, vage Verwaltungsvorgänge, unterschiedslos und düster. Sein Mund bläst nun Rauchkringel, die in Hula-Hoop-Bewegungen zur Decke aufsteigen.

Er steht auf und holt sich ein Glas Wasser aus der Küche. Morgen hat er Gäste. Das heißt, einkaufen, den Kühlschrank füllen, der seit Tagen klagt. An der Türklinke hängt ein Bund Messer.

Er geht zurück in sein Büro und widmet sich wieder seiner Berufsprosa. Der Schwall von schwarzen und weißen Einzelheiten auf dem A4-Papier rutscht immer mehr zusammen, wird unleserlich – bald nur noch ein Kontinuum aus Tinte, das er fixiert, aber nicht mehr entziffert, als befände er sich auf einer Brücke hoch über der Autobahn.

Wie sein alter Kollege Maturin sagt – es ist Mitternacht und die Verzweiflung führt kein Tagebuch.

RÜCKSPIEGEL

Sein Personalausweis beweist: er ist wirklich in Paris geboren, in einem Hospital im XVIII. Arrondissement. Obwohl von Jahrhunderte alter bretonischer Abstammung, begleitet von irischem, blauäugigem Äußeren, lässt ihn eine gewisse Eitelkeit immer noch sagen, er sei in Paris zur Welt gekommen. Bevor er aus dem Zentrum an die Peripherie gerückt wird und auf einem Abstellplatz landet.

Mitte der 90er Jahre ist er im dritten Semester Soziologie an der Universität Rennes-II eingeschrieben, ein fröhliches Studenten- und Protestmilieu, bekannt für seine rie­sige Cafeteria, das größte noch aktive Theater der Bretagne. Er wohnt zur Untermiete mitten im Stadtzentrum, die Wohnung ist neu, Eigentum eines Kleinunternehmers aus der Gegend, für den sie eine Investition ist, abgesichert durch die staatlich Wohnungshilfe APL, und natürlich den Hausmeisterlohn des Mieters. Die Familie vom Stockwerk darunter hat sich längst verabschiedet – Musik in voller Lautstärke, ohne Ende. Sein Vorgänger hat das Zimmer in bestem Zustand übergeben, er ist der neue Mann in einer Runde von drei studierenden Lebemännern. Eines Abends im Büro will er seinen Füllfederhalter testen, seine Hand rutscht aus. Die rosafarbene Tapete ist nun schwarz gesprenkelt.

Er macht den Hausmeister in Saint-Malo, um sein Studium zu bezahlen. Mitte der Woche kommt er zurück nach Rennes, um in der Uni vorbeizuschauen. Am Donnerstag besäuft er sich mit den Wohnungsnachbarn und den anderen Kumpeln. Er liebt den Cine-Club, macht sich schick für die Caféteria, mit Piratenohrring im linken Ohr, nicht um auf schwul zu machen sondern auf böser Junge vom Land.

Eines nachts pennt er mit einer gottverlassenen Tussi, die sich in der Morgendämmerung aus dem Staub macht. Er steht auf, in Unterhosen, will frühstücken, schaut auf seine Socken, die Jungs flachsen.

Seine geballte Faust, der Arm ist völlig entspannt, knallt in aller Natürlichkeit und mit viel Geschwindigkeit auf die Nase eines lästigen Nachtschwärmers, der Streit sucht in einer hippen Nachtbar namens La Contrescarpe. Alle sind sich einig: er hatte recht und er schlägt hart.

Er ist die Nummer 9 im sportlichen Oval, im Fußballclub von Quéven an der Peripherie von Lorient. Er haut sie rein, die Bälle, Tor um Tor, im Jünglingsalter, wird freigestellt vom Militärdienst wegen der ständigen Verletzungen. Was ihn allerdings nicht davon abhält, ein gewisses Talent auf der Mittelstrecke zu zeigen, mit weit ausgreifendem Schritt bei einer Körpergröße von nur 1,70 Meter – still zu lächeln, wenn er an diesen Dienst denkt, dessen von den Rekruten gefeiertes Ende, den »sapin« (Tannenbaum), er niemals kennenlernen wird, weil er es vorzieht, auf seine eigene Stunde zu warten und schließlich dem Ruf, aber nicht dem zu den Waffen, zuvorzukommen.

Seine schlimmste öffentliche Erniedrigung, 1995, hat mit seiner ständigen Abwesenheit zu tun. Weil er seit Wochen das Seminar zur Soziologie der Arbeit (für sein DEA, Diplôme d’études approfondies, Master 2) meidet, lässt der verantwortliche Turbo-Assistent – ein Mann mit Schnurrbart, sympathisch und betrübt zugleich in seinem weinstein-farbenen Anzug – den Spruch los, der zwanghaft Abwesende habe »psychologische Probleme« (im selben Zeitraum gelingt es einem Kommilitonen des »zwanghaft Abwesenden«, im Bereich Arbeitsrecht eine These über die »Neuordnung der Lohnabhängigkeit« so­wohl zu verwerfen als auch zu unterstützen. Die Jury reagiert mit Ovationen und unterstreicht, sie habe in seiner Arbeit »keinen einzigen orthographischen Fehler ent­deckt«).

Seine Startversuche ins Berufsleben sind grausam. Nicht unbedingt wegen seines Postens als Berater in einer Nebenstelle der Verwaltung von Rennes, wo er täglich Arbeit suchende junge Leute ohne nützliche »Verbindungen« empfängt, und bisweilen auch die Versager aus dem bourgeoisen Stadtzentrum. Sondern viel mehr, weil er einfach keine Bleibe findet. Trotz eines Gehalts von 9000 Francs im Monat (1.400 Euro nach heutiger Rechnung), will ihm niemand eine Wohnung vermieten, er kann keine solide Kaution vorlegen. Schließlich bezieht er übergangsweise eine Kleinstwohnung mit Blick auf den Fluss Vilaine. Nach einer persönlichen Krise, verbunden mit ständiger Angst vor dem »morgen« und einem daraus resultierendem Sparzwang, zieht er in eine finstere Kellerwohnung in der Nähe des Frauengefängnisses.

Eines Abends im Juni 1996, auf dem Rückweg von einem Fußballspiel im Stadion von Rennes, sieht er sich im Auto dem Spott der Sportsfreunde ausgesetzt. Im Fond des Wagens hockend fragt ihn einer, in dem er sogleich einen Feind des Arbeiterlebens und scharfen Linken erkennt, ob ihm die Beratungsstelle im Rahmen eines »Berufsprojekts« nicht den Führerschein bezahlen könne. Im Auto, das im Stau steht, schütten sich alle aus vor Lachen. Der Arbeitslosenberater lacht auch, allerdings vor Wut. Im Grunde hat er Angst vor dem Radikalen. Allerdings ohne es auszuschließen.

Agio-graphie = Rechnung + Zinsen

* * *

Dienstag, 30. April, 15.15 Uhr

Im Halbdunkel der Tiefgarage öffnet er die Tür der Xantia. Er setzt sich rein und bedient die Zündung, lässt die Augen der Göttin aufleuchten. Es ist noch früh. Er ist allein. Er ist nicht zur Arbeit gegangen. Er geht auf Reisen, ohne Koffer. Rückwärtsgang rein, Halbkreis fahren / Vorwärtsgang rein, im Dämmerlicht / eine Wendelauffahrt über drei Etagen bis zur Ebene Null / Tageslicht, sehr bald (der Nachmittag bricht an). Er biegt nach rechts ab, fährt in Clichy-sous-Bois ein, ins Pariser Vorfeld jenseits des Périphérique, in die lebensmüden Viertel des sozialen Verfalls, verschmilzt langsam mit dem Verkehrsgewebe, mit dem schleichenden Krebs des Ballungsraums, völlig erschöpft in dieser Bullenhitze. Dann gleitet er durch Saint-Ouen. Er fährt durch Straßen mit blöden Namen, ist im Kontinuum von unaufdringlichen Fassaden und verkehrstechnischen Anweisungen. An einer roten Ampel drückt er die Zentralverriegelung, er will allein sein / absolut allein sein / ganz allein sein. Als die Ampel auf grün springt, setzt er sich hinter einen Motorroller C1 BMW mit Dach, der Fahrer trägt keinen Helm, dafür einen Anzug für drittklassige Schauspieler, in Nullkommanichts überholt der die Autoschlange und verschwindet. Jetzt ist er hinter einem Opel Zafira voller Kinder – vielleicht ist das ja die nährende Göttin –, nimmt eine Avenue, die den Namen eines Schriftstellers trägt, treibt in einer luftigen Fata Morgana. Er überholt nicht, folgt dem allgemeinen Sog. Wieder eine rote Ampel. Auf einer Fassade verspricht ein Plakat den kommunalpolitischen Kampf zwischen einem strahlend braunen Mann und einer strahlend blonden Frau, denen Scherz­bolde jeweils einen Zwicker und einen Schnauzbart verpasst haben. Er startet, fährt an einem Müllwagen am Straßenrand vorbei, schaut, wie die Männer in der Sonne Tonnen leeren, späht hinauf zum Fahrer – der sieht ihm aus wie ..., aber nein, das ist nicht der Freund, mit dem er vergangenen Samstag Abend ins Kino gegangen ist. Die Luft ist schwer vom Gestank der Abgase / die Blätter an den Bäumen glänzen / die grüne Ampel löst den Stau auf / schwarze Kindermädchen schieben weiße Nachkommenschaft im Kinderwagen / Möbelgeschäfte wechseln sich ab mit aussätzigen Kaffeebars / die Stadt ist die Aus­wirkung der Wirklichkeit / eine Oberschülerin überquert die Straße neben den Zebrastreifen / die Wirklichkeit wirkt sich nicht aus.

* * *

Montag, 8. April, 11 Uhr morgens

Er steigt langsam die Treppe zur Gewerkschaft hoch. Er schwimmt im Dämmerlicht, die Lampe hat er nicht angeknipst, reiht Stufe an Stufe, geschwind wie ein Maulwurf. Eine junge Frau (grüner Body, aufgedruckte gelbe Dollarscheine / Westernjeans mit Fransen / Flip-Flops in schwarzem Leder) wartet allein auf dem Treppenabsatz vor der Agentur, im Kühlen. Sie hat sich auf die Brüstung vor dem Aufzugschacht gesetzt, konsultiert ihr i-Phone, das Gesicht geflutet vom weißlichen Schein ihres Apparats. Er beobachtet sie, setzt seinen Aufstieg fort.

(Zu seinem eigenen Vergnügen beschreibt er bisweilen diese ungeheure Koinzidenz: die Räumlichkeiten der Agentur Elite unter seinem zweiten Zuhause, den Gewerkschaftsbüros, und die Annahme, dass die Wege der Gewerkschaft gepflastert sind mit Sünde. Aber sein Untergrundhumor lässt nur die unruhige Spannung steigen zwischen Anmut und Langeweile, zwischen Image und Gesellschaft, zwischen der Oberfläche und den anderen.)

Auf halber Strecke zwischen den beiden Stockwerken dreht er sich um, streckt den Kopf über das Geländer. Sein Blick richtet sich nach unten, erspäht den weißen Fleck des Mobiltelefons, das eine Etage tiefer flimmert. Das Mädchen ist allein. Die Reste der phosphorisierenden Helle ziehen ihn an wie das Licht am Ende eines Tunnels. Was ihn allerdings heute erwartet ist kein Totenlicht sondern eine Konferenz zum Thema: »Die technische Organisation der Wahl der Gewerkschaftsvertreter in kleinen und mittleren Unternehmen im Raum Paris.« Würde das Mädchen mit dem Dollar-Körper an der Konferenz teilnehmen? Würde sie mit den Kollegen sympathisieren? Ein letzter schneller Blick über die Rampe … Es ist Zeit, die Manege zu verlassen, man könnte ihn entdecken, und er ist schließlich kein Voyeur.

(Er hat sein Lager gewählt. Er wird helfen. Darauf ist er programmiert. Das Leben gibt ihm mit seinen 39 Jahren weniger als anderen. Es ist zu spät, das noch zu ändern. Die Agentur Elite wird bald umziehen, in die Avenue Montaigne 21, ins VIII. Arrondissement, zwei Schritte bis zu den Champs-Elysées, die Gewerkschaft als Waise dieser sinnlichen Nachbarschaft zurücklassend.)

* * *

Dienstag, 30. April, 22.35 Uhr

Die Xantia und ihr Meister gedulden sich in der finsteren Straße, sie ist immer noch schwer von Hitze, gespeichert im Asphalt und in den hohen Ziegelmauern, die sich hinunter zur Seine ziehen. Als trüge die nun über das Indus­triegebiet hereingebrochene Nacht für die Nachkommenschaft Trauer unter der Schleppe eines langen, schwarzen Schleiers ohne Anfang und ohne Ende. Ab und zu brausen Autos durch die Straße des Selbstmörders, flüchtige Schatten, deren Scheinwerfer wie Pinsel über den hier abgestellten Sarg streichen und ihm seine weiße Orginalfarbe zurückgeben. In unregelmäßigen Abständen taucht die Xantia auf aus ihrer Finsternis, erstrahlt für eine lange, absolute Sekunde und lässt kurz den gebeugten Kopf des Fahrers erkennen. In wenigen Stunden wird man ihn finden. In einigen Stunden wird man ihn wegbringen. Das Fahrzeug wird seinem Besitzer folgen, es wird aus dem öffentlichen Leben verschwinden, sich zurückziehen auf die andere Seite der Mauer, auf deren Krone sich raue Stacheldrahtlocken ringeln (heute Abend sendet TF 1 FBI: Portés disparus (Without a trace) / France 2, Cold case / France 3, Péri-Gore, meurtres en région / Canal Plus, Un prophète II / La Cinq, L’Impasse / M6, Lady Di assassinée? / Arte, Themaabend Alfred Hitchcock / D8, un spécial O.J. Simpson / W9, Le Professionnel / TMC, Dracula chez les bonnes soers / NT1, Mangattack, la revanche des insectes bridés / NRJ, Elite model look 2012: le concours / France 4, Le Boucher / D 17, Vie du jet-setteur serial-killer Thierry Paulin / Gulli, Inspecteur Gadget/ TV Breizh, Columbo).

Die Xantia und ihr Meister werden, auf ewig vereint, in dieser Straße ohne Zuschauer ruhen. Das Handy vibriert wieder, es leuchtet in der Tasche des Toten auf – eine Buchstabenfolge auf grünem Grund in förmlicher, nutzloser Schönheit: WAS MACHST DU DEN ARBEITER KOMM MIT MIR BRILLIEREN IS DAS FEST DES JAHRES

* * *

13. April, 23.40 Uhr

Sein drittletzter Samstag Abend. Er hat den beigen Anzug ausgesucht, dazu ein blendendweißes Hemd, und ist zum Friseur gegangen. Nun lehnt er an der Tür zum Wohnzimmer des Appartements, unbeweglich und wie festgewachsen, eine Schrottwohnung – wenn auch mit »Zierrat«, wie die Franzosen die angeklebten Stuck-Deko­ra­tionen abschätzig nennen – oben im 4. Stock, rue de Paradis 44, X. Arrondissement. Die Fenster zur Straße sind offen. Brodelnde Nachtluft drängt in den von Menschen überquellenden faunesken Salon. Er schaut zu wie sie tanzt. Sie löst sich aus der Menge. Sie trägt den Namen einer Blume und ein Kleid ohne Träger mit aufgedruckten Sinnsprüchen in gelb und schwarz. Ihr Retro-Flair lässt sie aussehen wie eine Hausfrau in einem Stummfilm. Hübsches Lächeln, bestes blondes Haar, Kurven, regelmäßige weiße Zähne, berufstätig. Kein Mann, soweit ihm bekannt ist. Sie gefällt ihm. Das Parkett ist in schlechtem Zustand, es gibt nach unter den Füßen. Er beobachtet sie. Kleinmütig wartet er auf den richtigen Moment, wo doch die französischen Chansons, faszinierend und hohl zugleich, längst das Wesentliche des Abends ausposaunen. Und wenn du eines Tages an mir zweifeln würdest / ein Faustpfand der Liebe habe ich, dreifach geprüft / ich liebe dich so, ich liebe dich so / mit meinem Blut habe ich es auf den Arm geschrieben / auf Leben und Tod, das löscht mir keiner / und ich liebe dich so, ich liebe dich so.

... und im Regenbogenlicht der Spots, die dieses Haus ein wenig freundlicher machen, löst sich, feucht und gelb, der Gips in Placken von der Decke – Hausnummer 14, von der kaum einer weiß, dass sie für die kommunistischen Juden der Hauptstadt seit der Befreiung eine Zauberformel ist, dass der Laden demnächst zugemacht wird, ausgeräumt und seiner Bewohner entleert – vielleicht als gesundheitsschädlich deklariert / demnächst im Sonderangebot der Baugesellschaft für Leute mit bescheidenem Einkommen zu finden / womöglich eine Erinnerungsstätte für Immigranten und jüdischen Widerstand in der kommunistischen Gastarbeiterorganisation Main-d’oevre ouvrière immigrée MOI …

Sie tanzt mit ihren Freunden über das schiefe Parkett. Ein paar Latten sind weggeknallt wie Knöpfe von der Hose und haben den dance-floor zum schwierigen Parcours gemacht. Die Wohnung ist vom Untermieter untervermietet und der offizielle Untermieter, der diese Wände auf Monate vermietet hat, weil er in Afrika arbeitet, dieser Untermieter fragt sich, wie lange er noch mit einer solchen Adresse in einem angenehmen Viertel im Zentrum von Paris prahlen kann. Das Mädchen mit dem Blumennamen hat mitgekriegt, dass der junge Mann in der Tür zum Salon sie mit den Augen verschlingt und dass irgendwas nicht rund läuft bei ihm – er hat sich seit einer halben Stunde nicht bewegt, steht da allein mit einem Glas Punsch in der Hand, wie ein Komparse, der nicht so recht an seine Rolle glaubt und seine Anwesenheit bis hin zur Illusion verleugnet – er macht ihr ein wenig Angst. Manu Manureve / wo bist du / Manu Manureva / Phantomschiff, das du dir erträumst / die Inseln / und es wird niemals ankommen / dort unten.

… gesagt werden muss, dass die »14« kein Symbol ist wie die vielen anderen der jüdischen Geschichte, keine in Metall gravierte Vignette auf einem dieser Touristenweg­weiser namens »Geschichte von Paris«, die auf dem Gehweg vor den zu kennzeichnenden Häusern stehen. Bis heute gilt die »14« für das »Von da komme ich her« mehrerer Generationen kommunistischer Juden, gilt für das Gebäude, in dem Büros und Vereine untergekommen sind wie die Union der Juden in der Resistance und in der Selbsthilfe UJRE, die Zentrale Kommission für Kinderhilfe CCE, dann gibt es noch den Stallgeruch von Vereinigungen wie der Ver­einigung der Freunde der CCE (AACCE), von zahlreichen kulturellen und sportlichen Vereinen, es gibt Schirmherrschaften, eine Krankensta­tion, eine erstklassige Bibliothek mit Büchern in jiddischer und französischer Sprache, die Büros der wichtigsten Druckerei für Umgangsjiddisch in Europa, die Naïe Presse (Neue Presse), den Jüdischen Volkschor von Paris, und sogar ein Theater, das Yiddisher Kunst Teater. Kurz und gut: Das soziale, politische, intellektuelle und künstlerische Herz mehrerer Generationen kommunistischer Pariser Juden – Folge und Ergebnis der Immigra­tion aus Zentraleuropa und des antifaschistischen Widerstands – hat hier angefangen zu schlagen, in der rue du Paradis Nummer 14, in diesem Stadtviertel der Glaswerker, der Kristallkünstler, der Lampenhersteller und der aschkenasischen Kürschner, ohne dass das heute noch jemand weiß, oder jedenfalls fast niemand, nicht mal die Einwohner des Viertels …

Er bewegt sich nur, wenn er sich ein neues Glas nachschenkt, nimmt danach mechanisch wieder seinen Platz in der Tür ein, an dieser Kreuzung, wo Gäste aus dem Raum verschwinden, wo neue hereinströmen, die mitgebrachte Flasche in der Hand. Sein Gesicht ist in einem falschen Grinsen erstarrt. Er sieht, wie sie mit Freunden diskutiert, mit Leuten, die im Dienst humanitärer Organisationen in Paris vorbeischauen und ihren Aufenthalt nutzen, um ein paar nette Stunden mit Bekannten zu verbringen. Die heutige Soirée haben sie spendiert, eine Ansammlung aus Alleinstehenden ohne festen Beruf und einigen Ehepaaren. Die Wohnung ist groß und kostet nichts, insofern eine prima Sache. Nur – was feiert man hier eigentlich? Den Frühling vielleicht, oder einfach das kurze Glück eines gemeinsamen Tanzes in diesem ziemlich lahmen Milieu, sichere Abwechslung und einziger schnellbindender kultureller Zement. Verirrt im Höllental / der Held heißt Bob Morane / auf der Suche nach dem Gelben Schatten.

Von Zeit zu Zeit bleibt jemand stehen, flüstert dem einsamen Gast kurz etwas ins Ohr und macht sich wieder davon, ohne bei ihm etwas bewegt zu haben. Sie allein ist es, die ihn interessiert. Gleich wird er zu ihr hingehen. Genau – er wird zu ihr hingehen, zu ihr allein und keiner anderen, auf das überladene Tanzparkett, das durchaus einstürzen könnte – und er wird ihre Hand nehmen. Mit der geht etwas. Sie stammt aus seinem Milieu. Die ist kein Kind reicher Eltern. Keine Komplizierte, keine künftige Unzufriedene, die sich zweimal scheiden lässt, bevor sie sich bei Attractive World einschreibt, dem Web-Treffpunkt für anspruchsvolle Singles. Die weiß, wie man mit Kindern umgeht, wie man das tägliche Leben verkraftet, wie gespart wird, wie man Pläne macht. Die wird ihn nicht wie einen Hund behandeln. Er wird hingehen, ihre Hand nehmen, sie werden über die Wellen dieses kaputten Parketts tanzen. Genau wie in dem Film Carrie au bal du diable, aber ohne den letzten schlechten Scherz, wo ihnen die Leute von der Kulisse aus einen Eimer Schweineblut über die Köpfe kippen, aus reiner Boshaftigkeit. Gleich wird er zu ihr hingehen. Er wird seine Karten aufdecken und das Schicksal wird seinen Lauf nehmen. Sucht den Jungen / findet seinen Namen.

… weil nämlich Freundschaft, Brüderlichkeit und Einigkeit das Leben sind. Die Ehemaligen der »14« wissen das genau, sie wurden alle im Geist des laizistischen und internationalistischen Judaismus erzogen, in dem Kameradschaft und Solidarität zählen. Patenschaften sorgten dafür, dass sie im Sommer in Ferienkolonien verschickt wurden, dass ihre Betreuung intellektuelle Qualität hatte, und dass sie mit einer kollegialen und fortschrittlichen Sicht der menschlichen Existenz aufwuchsen. Leicht kann sich einer vorstellen, mit welcher Sorgfalt man sich nach dem verheerenden Krieg der Jüngsten annahm, nicht nur um eine traumatisierte Gemeinschaft wieder aufzurichten, sondern auch, um den völlig mittellosen Familien beizustehen und die Waisen zu beschützen. Die in der ganzen langen Geschichte der »14« herrschende Sorge um die Kinder zeigte sich nicht nur darin, welch großes Gewicht der Erziehung allgemein zugemessen wurde, sondern auch im Respekt gegenüber den von den Ehemaligen nicht nur einfach Lehrer sondern »Pädagogen« genannten Erziehern – Frauen und Männer, die bei der Ausbildung ihrer jungen Schüler auf avantgardistische Lehrmethoden bauten …

Er steht wie festgenagelt, das Grinsen geliftet vom Mund bis an die Ohren. Hat sich noch einen Punsch eingeschenkt, schwenkt ihn hin und wieder im Glas, betrachtet die wirbelnden Bananenscheibchen und Mandarinenstückchen. Der Punsch ist gepfeffert, mit Zimt gewürzt, intensiv. Das ist es aber nicht, was ihm Angst macht, eher wird er durstig davon. Obwohl er nie ein regelmäßiger Trinker war, seine Lehre hat er bei großen Meistern absolviert – bei einem Kumpel von der Kriegsmarine, den er ganz nüchtern »Seemann« nennt, und dessen wichtigs­tes Gesellschaftsspiel das Niedermachen einer Flasche Ricard ohne Wasser verlangt, was man sich erst mal vorstellen muss … Kurz, mit Kameraden solchen Stehvermögens wird er sich wahrlich nicht vor diesen dünnblütigen Schätzchen hier fürchten.

Eine elektrische Lichterkette hängt in Wellen an der Wand zu seiner Rechten. Eine lange, schmückende Plas­tikgirlande, die alle zwei Sekunden aufblinkt. Wie hypnotisiert glotzt er auf diese lebendige Abwechslung, die mit ihrem Licht die Gäste bespritzt, diese eine, die mit dem Blumennamen, die er gleich zum Tanz auffordern wird, er weiß es, er muss es, er fühlt es: Licht an, Licht aus / Licht an, Licht aus – sowieso wird alles aus sein, eines Tages … Normalerweise sind die Girlanden für Weihnachten gedacht, und für die Belichterung der Läden in den Straßen. Diese hier lockert die Wand in der 14, rue du Paradis, etwas auf, an einem Abend, der wärmer ist als normal. Ein, aus / ein, aus … Vorher noch eine stimmungsvolle Brise Blinklichterei. Wochenende in Rom / wir zwei ohne sonst jemanden / Florenz, Mailand / falls die Zeit reicht / Spaghettifresser-week-end / im Angeberschlitten / Melodramen aller Art / Spaghettifresser-week-end.

Plötzlich zieht er los, geht auf das Mädchen zu. Der Raum schwitzt. Die Mauern reden irre. Er schubst die Leute. Sein Herz schlägt bis zum Hals, heult auf – wie etwas, das man gerne zum Schweigen bringen würde. Er durchbricht eine Hecke aus Tänzern, kommt ganz in ihrer Nähe an. Und hier ist sie, die Blume, anwesend, sowas von anwesend, mit zwei Freunden, die spontan einen Meter zur Seite treten, um die Verheißene herum die Spitzen eines Dreizacks bildend (instinktiv wohl, um eine der ihren vor einer konfusen und stummen Bedrohung zu schützen). Er wagt sich etwas weiter vor, beige unter all den Schatten. Den Blick auf die Füße der jungen Frau gerichtet sieht er die weißen Pumps, zittert. Er hebt den Kopf. Sie erkennt ihn (seit einer Stunde sieht sie doch nur ihn). Und du, sag mir, dass du mich liebst / auch wenn das eine Lüge ist / und wir keine Chance haben. Seine Fingerchen suchen ihre Hand, zum Tanzen. Das Leben ist so traurig / sag mir, dass du mich liebst / alle Tage gleichen sich / ich brauche ein bisschen Romantik. Aber das Mädchen mit dem Blumennamen fährt zusammen beim Hautkontakt, bedeutet ihm vorsichtig ein Nein mit dem Kopf, taktvoll / trost­los / ängstlich, dreht ihm den Rücken zu und nimmt ihr Gespräch wieder auf.

… als wäre er in einer sentimentalen Schachpartie mit dem ersten Zug matt gesetzt worden, ein Stück, das vielleicht im Keller des »14« hätte gespielt werden können, auf der winzigen Bühne des Theaters Symposium, bevor es aus Sicherheitsgründen geschlossen wurde. Die Meinungen gehen übrigens auseinander, wann das Theater gegründet wurde, vermutlich Mitte der 90er Jahre. Wie auch immer, möglich gemacht hatte es die ehemalige Sekretärin der Union der Juden für Widerstand und Zusammenarbeit – eine Polin, wie es scheint – die immer bereit war, den Genossen aus dem Osten auf die Sprünge zu helfen, wenn sie in Schwierigkeiten waren. Tatsächlich und traurigerweise ist der Ort heute eine Art Squat und Bar für Illegale, ein Resultat übermäßigen Vertrauens den Russen gegenüber …

Er schaut zu, wie sie den Saal durchquert und sich an der Tür zum Salon in Sicherheit bringt, genau dort, wo er selbst sich zu Beginn aufgestellt hatte. Sie haben nur die Positionen gewechselt. Er himmelt sie wieder an, aber nur ihren Rücken, weil sie ihn aus ihrem Sichtfeld verbannt hat, sie schwingt jetzt das Tanzbein. Er hat versagt. Dreht den Kopf weg. Lehnt sich aus dem Fenster, Luft schnappen, schaut hinunter in die rue de Paradis, feucht / schweigend / vollgestellt mit schlafenden Autos.

… völlig verloren in Paris, die jungen Slawen; bieten ihren Besuchern torkelnd Wodka an, gehen mal eben zum Spätkauf um die Ecke, den Biervorrat auffüllen. Manchmal geht das in Ordnung, manchmal nicht. Der Schuppen ist in grausigem Zustand, die Küche ein Drecksstall, das totale Spektakel. Begegnung mit dem Künstler wahrscheinlich, dem Poeten, selbstverständlich Dissident, der das Pseudo-Theater hier lenkt. Er singt / komponiert / bildhauert / malt / schreibt, ist in Moskau bestens bekannt. Alexeï Khvostenko heißt er, genannt Khvost – russisch für »Schwanz«. Im Moskauer Untergrund ist er ein Star: einige halten ihn für einen russischen Rock-Pionier, für so einen wie die großen, rebellischen Schriftsteller seiner Generation. Die Frauen umschwirren ihn wie Motten, er hat die Psychiatrische Anstalt von innen kennengelernt, wegen »Schmarotzertums«, musste nach Paris emigrieren und gibt seither den Künstler im Land des Poeten-Frühlings. Khvost ist ein Riese, vollständig in schwarzes Leder gehüllt und muss so um die 60 Kilo wiegen – Wodka und Dope. Er starb 2004, nicht an einer Überdosis im Keller des »14« sondern in einem Moskauer Krankenhaus an Lungenentzündung, nachdem das Pu­tin-Regime seine Rückkehr genehmigt hatte. Die jungen Russen kennen seine Gedichte und seine Lieder auswendig, ein paar galten zu Breschnews Zeiten als ziemlich subversiv: Der Arbeiter hat nur zu arbeiten / genau wie derjenige, der kein Arbeiter ist / Soll doch der, der arbeiten will, arbeiten / Ich jedenfalls will nicht arbeiten.

Der Mann steht immer noch abwesend am Fenster, lehnt sich an die Brüstung, Grabfigur einer heidnischen Messe mit Elektroorgeln und Gläubigen, die ihre Arme zum Himmel strecken. Er schließt die Augen, sieht nichts mehr, macht sie wieder auf, wird sich dessen bewusst, schenkt den bad boys, die jetzt in die Wohnung drängen, keine Beachtung, sieht nicht diese Nachtschwärmer, die Gesellschaft suchen für das Palais, die afrikanische Nacht­bar in der rue des Petits-Écuries, wo doch …

… Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends hat den sich beschleunigenden Verfall des »14« erlebt. Das Haus wird schlecht verwaltet, geht den Bach runter, von den kom­munistischen Juden, allesamt schlechte Geschäftsleute, kaum beachtet. Einige Wohnungen sind in gesundheitsgefährdendem Zustand, andere schlicht unbewohnbar. Die Besitzer sind einfach nicht mehr in der Lage, sich zu kümmern, sie begreifen nicht, dass der Immobi­lienmarkt dabei ist, Paris auf das gleiche Preisniveau zu heben, wie die Weltstädte London, New York oder Tokio. Kurz – die Spekulanten macht sich langsam aber stetig über eines der letzten einfachen Viertel im Zentrum der Haupstadt her und vervierfachen den Quadratmeterpreis innerhalb von zehn Jahren. Ein ganzes Jahrzehnt, um nicht zu begreifen, dass man reich werden könnte. Jude zu sein und dazu Kommunist scheint keine gute Idee zu sein …

Licht ein / Licht aus / die Augen öffnen sich / die Augen schließen sich / eingeschaltet / ausgeschaltet / sie ist da / sie ist nicht mehr da / eingeschaltet / ausgeschaltet / sie ist da / sie ist nicht mehr da / eingeschaltet / ausgeschaltet...

Im Laufe der Zeit gehen die Räumlichkeiten verloren, werden in Untermieten umgepolt, in Unter-Untermieten für Freunde von Freunden: das »14« verliert seine Bedeutung hinsichtlich politischer Emanzipation und Organisation, es verliert seine Kraft zur Selbstverantwortung, weil inzwischen Arbeiter und Gedemütigte aus dem ganzen Land dort einquartiert werden; es wird zu einem Ort des Überlebens, ein Haus der Armen in einem Viertel des rasanten wirtschaftlichen Aufstiegs, wo Büros für graphische Datenverarbeitung und audiovisuelle Produktion immer schneller die traditionellen Lederhandwerker in den Hinterhöfen ersetzen, das »14« ist ein Geisterhaus, das bei lebendigem Leib verrottet, eine letzte Zuflucht für Leute mit allen möglichen Schwierigkeiten, die es durch Zufallsbegegnungen und die allen gemeine soziale Schief­lage hierher verschlagen hat. Du mein alles, mein kleiner Rabauke / Du wirst mein schlauer Superstar / Und ich hab’ furchtbar Angst im Dunkeln.

Er sieht sie tanzen im »14«, rue de Paradis.

* * *

Auf den Straßen von Paris

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