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Zwischen Physiologie, Psychologie und Biologie – Friedrich Nietzsche und die ‚Nervenkunst‘
ОглавлениеNietzsche verstand sich als herausragender Diagnostiker der bürgerlichen Gesellschaft. Insbesondere in seiner Schrift Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem (1888)22 nahm er sich das „Labyrinth der modernen Seele“ vor und entlarvte die moderne Kunst am Beispiel von Wagners Musik als „Wille zum Ende“ und „grosse Müdigkeit“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 12):
[…] Wagner’s Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärfern Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Principien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lässt. Wagner est une névrose. (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 22)
Nietzsche zeigt das Bild einer „sinistre[n] Wirklichkeit“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 26): Wagner „macht Alles krank, woran er rührt, – er hat die Musik krank gemacht.“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 21) Nietzsches höchst imposante Verfallsszenarien, seine Typisierungen und Generalisierungen haben eine enorme Suggestivkraft, welche die Verdammung der dekadenten Kunst der „müden Nerven“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 23) effektvoll forciert. Das ganze ingeniös aufgebaute Netz rhetorischer Gesten in dieser Schrift – z.B. die Anreden an den Leser, die polternde, gewalttätige Sprache – versperrt jedem Versuch einer kritischen Überprüfung der Thesen des Autors den Weg. In der Pose eines allmächtigen Richters und Anklägers donnert Nietzsche gegen die moderne Nervosität. Seine sich in Form medizinischer Diagnosen äußernden Urteile sind Invektiven und Stigmata – so sei die moderne Kunst der Nerven auf „Charakterverfall“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 26) zurückzuführen. Nietzsche pocht stets auf seine psychologische Kompetenz, zieht jedoch nur die alte ätiologische Erklärung der Nervosität als „Ausdruck physiologischer Degenerescenz“ und das Verdikt „Hysterismus“ heran (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 27). Dabei begnügt sich der Autor nicht mit der Analyse von Richard Wagners Dekadenz, einer ohnehin dürftigen Analyse, die mit Sätzen wie „Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt“ auftrumpft (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 27), sondern überträgt seine Diagnosen auch auf Wagners Anhänger, die er mit dem Blick des Physiologen taxiert: „Sehen Sie doch diese Jünglinge [die Wagnerianer] – erstarrt, blass, athemlos!“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 29)
Dagegen setzt Nietzsche die „Halkyonier“ und ihr Kunstideal: „la gaya scienza; die leichten Füsse; Witz, Feuer, Anmuth; die grosse Logik; den Tanz der Sterne; die übermüthige Geistigkeit; die Lichtschauder des Südens; das glatte Meer – Vollkommenheit …“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 37) Nietzsche drängt zu einer energischen Abrechnung mit Wagner, den er aufgrund einer dunklen und diffusen Physiologie der Instinkte verurteilt (so sei Wagner „nicht Musiker von Instinkt“ gewesen – Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 30), und mit der dekadenten Kunst: „Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt – und die Musik dazu!“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 21) Als therapeutischen Ausweg fordert der Autor „die Rückkehr zur Natur, Gesundheit, Heiterkeit, Jugend, Tugend!“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 16)
Nietzsche hat zwar die Widersprüchlichkeit des modernen Menschen erkannt, seine überschwängliche „Diagnostik der modernen Seele“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 53) trägt aber nicht weit. So zeigt Horst Thomé, dass Nietzsche für die „zeitgenössische Diskussion“ charakteristische Begriffe wie Nervosität, Neurasthenie und Hysterie unterschiedslos verwendete.23 Die Forschung tendiert trotzdem dazu, Nietzsche eine erstaunliche und allumfassende Kompetenz zuzuschreiben wie in folgender Aussage von Renate Müller-Buck: „N. wird als Psychologe auch zum Biologen und Physiologen.“24 Was Nietzsches wissenschaftliche Kompetenz bei all seinem Kokettieren mit der Wissenschaft anbelangt, erinnert Thomé an die leicht zu übersehende Tatsache, dass ziemlich fragwürdig ist, „daß ihn die ‚Bahnhofsbuchhandlung von Sils Maria‘ fortwährend mit der neuesten medizinischen Fachliteratur versorgt hat.“25 Nietzsches Verurteilung der modernen Kunst erwies sich aber als äußerst fruchtbar bei der Diskreditierung der „Überreiztheit der nervösen Maschinerie“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 23) der „modernen Seele“ und ihrer ‚Nervenkunst‘ als Kunst der „Entartung“.