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Lou Andreas-Salomé (1861–1937)

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Fatum – im griechischen Sinne des Wortes – ließ sie Schicksal werden für große Menschen. Fatum bestimmte ihr eigenes Schicksal durch große Menschen. […] [S]tärkere, unmittelbarere Wirkung hat keine Frau der letzten 150 Jahre im deutschen Bereich ausgestrahlt als diese Lou von Salomé aus Petersburg.

Kurt Wolff16

Die in St. Petersburg geborene Lou Andreas-Salomé hat als Dichterin, Essayistin und freudianische Psychoanalytikerin ein umfangreiches Schrifttum in deutscher Sprache hinterlassen. Neben fiktionalen Texten, Korrespondenzen und kritischen Studien umfasst es etwa 130 publizierte Aufsätze und Rezensionen, in denen sie sich die Diskurse der Moderne und psychoanalytische Ideen aus ihrer persönlichen Sicht und Erfahrung anverwandelt. Der postum veröffentlichte Lebensrückblick (1951), der jede der wichtigsten Etappen ihrer Entwicklung als „Erlebnis“ oder „Erleben“ nachzeichnet, kann als erste Lektüre empfohlen werden.17 Das einleitende Kapitel, das unter dem Titel „Das Erlebnis Gott“ ihren frühen Glaubensverlust schildert, ist richtungsweisend für die wichtigsten Entscheidungen, die sie in ihrem außergewöhnlichen Leben traf, wie auch für die spätere „Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist“18, die sie in den Einflussbereich von Menschen ähnlicher Prägung führte. Beginnend mit dem holländischen Pastor Hendrik Gillot in St. Petersburg, der die Siebzehnjährige philosophisch schulte und ihr – an Stelle des schwer aussprechbaren russischen Vornamens Lolja – den Namen Lou gab, fand sie diese Menschen stets in einem avantgardistischen Kontext. Am bekanntesten sind ihre Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud, die aus ihren philosophischen, literarischen und psychoanalytischen Texten nicht wegzudenken sind. Dass es bei ihren Freundschaften mit innovativen Persönlichkeiten, die zum Zeitpunkt der ersten Begegnung noch nicht auf dem Gipfel ihres Ruhmes standen, um eine wechselseitige Beeinflussung ging, wird heute vermehrt wahrgenommen. Lou – der Gebrauch dieses Kürzels, das der Dichterin auch als Pseudonym diente19, ist politisch korrekt – brachte ihr eigenes Wissen und Verstehen in ihre Beziehungen ein, transzendierte neu erworbene Kenntnisse im Sinne ihrer persönlichen Weltanschauung und inspirierte ihre Partner nachhaltig.

Der Rückblick auf ihre russische Kindheit steht bei Lou Andreas-Salomé im Zeichen eines persönlichen Gottes, dem sie alles erzählte, was sie tagsüber erlebte, bis ihr Vertrauen in seine Allmacht schwand, als er ihr eine Antwort schuldig blieb. Lieh sie diesem Gott Züge ihres geliebten Vaters, der als geadelter Zarendiener Autorität und Charisma besaß, so fand sie nach dessen Tod einen jüngeren Gottersatz in Pastor Gillot, dessen unorthodoxe Predigten sie begeistert hatten. Ihm konnte sich die eigenwillige Ljola unterwerfen, da sein Unterricht, den sie als Privatschülerin genoss, einem Wissensdrang entgegenkam, der sie als Mädchen isolierte. Ihre bisherige Traumwelt ersetzte der Mentor durch Lektionen in Religionswissenschaft und Philosophie, die sie mit Texten von Kant, Leibniz, Schopenhauer und vor allem Spinoza bekannt machten, der lebenslänglich ihr geistiger Rückhalt blieb. Im Spiegel ihres autobiografischen Romans Ruth (1895)20 schildert Lou diesen Unterricht als Dressur eines begabten Wildfangs durch eine Art Pygmalion, der als Pädagoge zuletzt versagt, da er sich in sein ‚Werk‘ verliebt und es zur Frau begehrt. Der Lebensrückblick präsentiert die reale Erfahrung des projektiven Übergriffs durch Gillot als schockartiges Erlebnis, das der jungen Ljola noch einmal einen ‚Gott‘ raubte:

Mit einem Schlage fiel das von mir Angebetete mir aus Herz und Sinnen ins Fremde. Etwas das eigene Forderungen stellte, etwas, das nicht mehr nur den meinigen Erfüllung brachte, sondern diese im Gegenteil bedrohte, […] hob blitzähnlich den Anderen selber für mich auf.21

Als sich Lou nach dem verstörenden Heiratsantrag ihres Lehrers von ihm löste, fühlte sie sich reif genug, um Russland zu verlassen und im Ausland zu studieren. In Begleitung ihrer Mutter reiste sie 1880 nach Zürich, wo sie die bei Gillot erworbenen Kenntnisse für ein Hochschulstudium nutzen wollte. Die Zürcher Universität war damals eine der ersten Europas, die Frauen zum Studium zuließen. Als Hörerin der Fächer Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte erntete Lou durch ihren Eifer und ihre gute Gesinnung das Lob ihrer Professoren. So beschrieb sie der seinerzeit bekannte Theologe Alois Biedermann als „ein Wesen ganz ungewöhnlicher Art: von kindlicher Reinheit und Lauterkeit des Sinns und zugleich wieder von unkindlicher, fast unweiblicher Richtung des Geistes und Selbständigkeit des Willens und in beidem ein Demant“.22 Aus gesundheitlichen Gründen musste Lou ihr Studium im darauffolgenden Sommer jedoch schon wieder aufgeben und in wärmere Gefilde ziehen, nachdem eine Kur in Scheveningen keine Besserung gebracht hatte. Im Frühjahr 1882 lernte sie in Rom bei der Alt-Achtundvierzigerin Malwida von Meysenbug die Philosophen Paul Rée und Friedrich Nietzsche kennen. Die beiden Freunde erblickten in der jungen Frau sofort eine Geistesverwandte, die ihnen als philosophisch versierte Denkerin ebenbürtig, wenn nicht überlegen war. Während Lou bis zu ihrer Eheschließung mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas im Jahr 1887 eng mit Paul Rée befreundet blieb, scheiterte die Beziehung zu Nietzsche an dessen Eifersucht, die seine Auserwählte, die er heiraten wollte, in ein kaltblütiges Monster verwandelte, was er später immerhin bereute. Nicht die Schülerin, die Nietzsche zu seiner geistigen Erbin bestimmte, sondern die unabhängige Denkerin, die ihre eigenen Wege ging und unter teilweise schwierigen Umständen eine platonische Ehe führte, schrieb später das Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894), mit dem sie dem Freund nachträglich ein würdiges Denkmal setzte. Ihre phasenmäßige Einteilung seines Schaffens und ihre Erklärung des Philosophen durch den Menschen haben in der Forschung Schule gemacht.

Hatte sich Lou von Nietzsche nicht vereinnahmen lassen, so mochte sein ambivalentes Verhältnis zur Emanzipation der Frau sie dennoch beeinflusst haben. Die biologistische Lobpreisung einer selbstgenügsamen weiblichen ‚Natur‘ in ihrem Essay Der Mensch als Weib (1899)23 zog die Kritik der streitbaren Hedwig Dohm auf sich, die sich veranlasst sah, der sonst sehr geschätzten Kollegin antifeministische Tendenzen anzulasten. Dabei wies sie jedoch auf eine Diskrepanz zwischen verschiedenen Kommentaren hin, die ihr ein eindeutiges Urteil erschwerten.24 Einige von Lous Stellungnahmen zur Frauenfrage erstaunen tatsächlich noch heute als Äußerungen einer Kosmopolitin, die sich selbst schreibend behauptete. Dass sie ihren Kolleginnen in den 1898 publizierten Ketzereien gegen die moderne Frau nahelegte, ihr Interesse auf den kreativen Prozess und nicht auf das Ergebnis zu richten – „Ungefähr so, wie man jauchzt und weint, ohne den eigenen Namen darunter zu schreiben“25 –, war für diese sicher keine Hilfe im Kampf um berufliche Anerkennung. Andererseits war Lou durchaus motiviert, den Kontakt mit engagierten Zeitgenossinnen wie Helene Stöcker, Helene Lange oder Rosa Mayreder zu pflegen, deren Hochachtung sie ihrerseits genoss. Der oft geäußerte Vorwurf, Lou sei nur ihre persönliche Emanzipation wichtig gewesen, während sie sich um die Probleme ihrer ‚Schwestern‘ nicht gekümmert habe, widerlegen auch ihre fiktionalen Werke, wo unterschiedliche Frauen-Typen oft ein selbstbestimmtes Leben suchen. Dort wo sie an inneren oder äußeren Widerständen scheitern, erscheinen sie dennoch erfolgreich, wenn sie, durch ihre Erfahrung gereift, ihr Schicksal annehmen. Die Entwicklung, die Lou ihren Heldinnen zugesteht, hat Theodor Heuß als intrapsychisches Wachstum mehr denn als Ausbruch treffend charakterisiert: „[E]s ist weniger das Losreissen von den Fesseln einer alt gewordenen Gesellschaft und Moral, auf das die Dichterin ihre Blicke lenkt, sondern die Emanzipation der Frauenseele aus ihrer eigenen inneren Gebundenheit.“26 Lous frühe Studie über Ibsens Frauengestalten (1892)27 ist in diesem Sinn emanzipatorisch, und auch die in einem Band veröffentlichten Erzählungen Fenitschka und Eine Ausschweifung (1898)28 illustrieren ein weibliches Ringen um Autonomie, da sie einer Akademikerin und einer Künstlerin erlauben, über kulturelle Zuschreibungen nachzudenken, die ihnen den Weg erschweren. Leicht macht es die Autorin auch ihren LeserInnen nicht, und die Feststellung ihrer intimsten Freundin Frieda von Bülow, dass man ihre Bücher „wieder und wieder lesen“ müsse, um deren „ganze Fülle […] zu erfassen“29, gilt besonders für die Literarisierung der Frauenfrage in ihren Erzählungen. Die ungleiche Geschlechterbeziehung, die Lou in ihrem Roman Ruth scheitern lässt, präformiert die Figurenkonstellation, aus der sich in Fenitschka und Eine Ausschweifung ein Befreiungsprozess entwickelt. Auf Grund der autobiografischen Elemente in der Gestaltung eines weiblichen Bildungswegs kann die Erzählung Fenitschka geradezu als Fortsetzung von Ruth gelesen werden. Unter Bezug auf Lous Erfahrungen und Ansichten wird die fiktionale Russin in der Forschung oft erwähnt, um auf sexuelle Vorurteile zu verweisen, deren Hinterfragung die Gender-Diskussion auslöste. Im diskursiven Geschlechterkampf des Fin de Siècle wurden kulturelle Stereotypen besonders stark strapaziert, und es kam „zu einer überwältigenden Produktion von Weiblichkeitsbildern, als sässe auf der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert eine bedrohliche Sphinx, die nur demjenigen Eintritt in das Zeitalter der Moderne gewährt, der das Rätsel der Frau zu lösen vermag“.30 Ihre Einsicht in die beschränkende Wirkung geschlechtsspezifischer Zuschreibungen, mit denen schon die knabenhafte Ruth spielerisch umgeht, legt Lou in Fenitschka nicht der Titelheldin, sondern einem Mann in den Mund, der sie zwischen Typ (Madonna) und Gegen-Typ (Femme fatale) zu klassifizieren sucht, wobei er die Reduktion auf Klischees, die sich ihm unvermittelt aufdrängen, selbst zurückweist.31

Das Leib-Geist-Problem, das auch Fenitschka nicht löst, da sie sich als arrivierte Akademikerin am Schluss in eine ‚Revirginisierung‘ flüchtet, schlägt einen Bogen zum zweiten Text des Bandes, dessen Titel Eine Ausschweifung eine schuldbesetzte Emanzipation bereits impliziert. Die Ich-Erzählerin, die sich in Paris als Künstlerin erfolgreich durchsetzt, scheint hier zur Überzeugung zu gelangen, dass es dem „Weib“ auf Grund seiner psychosexuellen Beschaffenheit versagt bleibt, sich außerhalb seiner Liebe zum Mann auf befriedigende Weise zu verwirklichen. Die atavistischen Wünsche, die als dumpfe Sehnsucht nach „Sklavenseligkeiten“ mit ihrem Kunsttrieb konkurrieren, erklärt sie einem Freund, der selbst kein „ausübender Künstler“ ist:

[W]ollte ich dir mein Leben erzählen, [würde] von der Kunst kaum mehr die Rede sein, und kaum würde sie ärmlichsten Raum finden, riesengroß aber müsste in den Vordergrund treten, was doch in meinem individuellen Bewusstsein kaum existiert und was mir selbst immer schattenhaft undeutlich geblieben ist.32

Die Unvereinbarkeit ihrer beruflichen Ziele mit der unterwürfigen Selbstaufgabe, zu der ihre Mutter noch bereit war, stößt Adine in ein Niemandsland zwischen neuen und althergebrachten Verhaltensweisen. Dabei bedrücken sie vor allem die moralischen Folgen ihrer „Ausschweifung“, die sie ihrem einstigen Verlobten definitiv entfremden werden. Während die Ich-Erzählerin für den libertären Umgang mit dem anderen Geschlecht bei jüngeren Mädchen Verständnis aufbringt, behaftet sie ihre eigene ‚Entfesselung‘ mit dem Stigma der Tragik.

Gegenüber umstürzlerischen Ideen bewähren sich in Lous fiktionalen Werken oft bürgerliche Qualitäten, und die Befreiung, die sie ihren weiblichen Figuren gestattet, wird häufig durch einen Kompromiss erzielt. Lous nie vollzogene, aber lebenslängliche Ehe, in der sie selbst „eigenständig wie tragisch gebunden“ war, gibt dafür das autobiografische Muster ab.33 Anspruchsvoller zeigt sich Lou bei der literarischen Gestaltung von Heranwachsenden, die diese Problematik erst erahnen. Besonders anrührend sind in dieser Hinsicht die fünf Erzählungen, die sie unter dem Titel Im Zwischenland 1902 veröffentlichte.34 Die Adoleszenz russischer Mädchen wird darin aus einer einfühlenden Perspektive beleuchtet, die im Fin de Siècle ein Novum war. Durch ihre differenzierte Wahrnehmung seelischer Konflikte, die schon die zeitgenössische Kritik lobte, gibt sich Lou in diesem Zyklus als prädestinierte Analytikerin vor Freud zu erkennen.35 Die Heldinnen, die zwischen kindlichen Träumen und kühnen Zukunftsvisionen ihr kreatives Potenzial beweisen und die Gesellschaft von Künstlern bevorzugen, illustrieren Lous theoretische Kommentare zur Verwandtschaft von Kind und Kunst.36 Reifen die Mädchen auch hier ihrer traditionellen Rolle entgegen, sind Erwachsene für sie doch nur nachahmenswert, wenn sie durch Kunst oder Dichtung „alle[n] Dinge[n] dieser Welt“ eine „Zuflucht“ bieten.37

Der Wunsch, Herkunft und Zukunft zu harmonisieren, den der Zwischenland-Zyklus poetisch anklingen lässt, steht auch hinter Lous späterem Interesse für die Freud’sche Psychoanalyse, das sie im Lebensrückblick vor allem durch zwei Einflüsse motiviert: „das Miterleben der Außerordentlichkeit und Seltenheit des Seelenschicksals eines Einzelnen – und das Aufwachsen unter einer Volksart von ohne weiteres sich gebender Innerlichkeit“.38 Mit der erwähnten „Volksart“ verwies sie auf ihre eigene Kindheit in Russland, mit dem „Einzelnen“ auf den vierzehn Jahre jüngeren Rainer Maria Rilke, dessen Probleme sie auf die Verdrängung frühkindlicher Traumata zurückführte. Hatte Lou diese 1901 vielleicht reaktiviert, als sie den Freund nach der zweiten gemeinsamen Russland-Reise in einem trostlosen Zwischenland zurückließ39, so war dieser Bruch nicht definitiv, sondern erlaubte zwei Jahre später die Verwandlung ihrer anfänglichen Liebesbeziehung in lebenslängliche Freundschaft. Von der Muse, die den Dichter zwischen 1897 und 1901 entscheidend prägte, wurde Lou 1912 wieder zur Schülerin, die Freuds Lehre begeistert assimilierte, ohne ihre kreative Eigenart aufzugeben, durch die sie für Rilke eine wichtige Ansprechpartnerin blieb.40 Ihr dichterisches Schaffen hat die Begegnung mit Freud indes nicht gefördert, und es sind vor allem psychoanalytische Essays wie Narzißmus als Doppelrichtung (1921) oder Mein Dank an Freud (1931) sowie das Gedächtnisbuch für Rilke (1928), die danach besondere Beachtung verdienen.41 Interessant ist indes die Tatsache, dass ein fiktionaler Text wie Das Haus, den Lou 1904 schrieb, aber erst 1921 veröffentlichte42, bereits jene Probleme anklingen lässt, für die sie sich als Psychoanalytikerin besonders interessierte, wobei der Roman einen Lösungsansatz entwickelt, der erst nach Freud Geltung erlangte.43

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