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Frauen und Frauenliteratur

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In der Übergangszeit, als die sich das Fin de Siècle verstand, begannen Frauen verschiedenster Herkunft ähnlich der Arbeiterschaft nach Mitteln und Wegen zu suchen, um sich aus einer Situation der Macht- und Rechtlosigkeit zur Selbstbestimmung durchzuringen. Hatte der Kampf einzelner Frauen gegen ihre Unterdrückung im deutschen Vormärz bereits emanzipatorische Prozesse eingeleitet1, so lernten die Frauen in Deutschland um 1900 mit etwas Verspätung gegenüber Frankreich, den USA und England im Kollektiv zu denken und zu handeln, was zur Entstehung der ersten deutschen Frauenbewegung führte. Hatte die im Zuge der Industrialisierung verfestigte Rollenteilung der Geschlechter dem Mann die Außenwelt zugewiesen, während sich der weibliche Wirkungskreis auf den häuslichen Bereich beschränkte, so steckten sich die Frauen nun neue Ziele und erhoben Anspruch auf Öffentlichkeit, um die Gesellschaft in ihrem Sinne zu verändern. Zwischen der Idee einer weiblichen Kulturmission und dem Wunsch nach sexueller Selbstbestimmung ermutigten sie sich gegenseitig zur Artikulierung von Forderungen, die im Diskurszusammenhang des Fin de Siècle ihren Platz fanden.2 So unterschiedlich ihre Positionen gegenüber der sogenannten Frauenfrage auch sein mochten, teilten die meisten den Wunsch nach höherer Bildung und Berufstätigkeit als Voraussetzung für die Gleichberechtigung der Geschlechter.

Die Herausbildung einer spezifischen Frauenliteratur um 1900 kann als Parallele zum Aktivismus gewertet werden, der sich in der Frauenbewegung entfaltete und der weibliche Fantasien mit dem Schritt über die Schwelle spielen ließ. Die wichtigsten Bürgerrechte wurden den Frauen noch verweigert und die Bildung junger Mädchen war so rudimentär, dass sie in ihren Entscheidungen von der Wertskala ihrer Eltern abhängig blieben. Riskierten sie daher viel, wenn sie im realen Leben konventionelle Fesseln sprengten, so bot ihnen die Schrift die Möglichkeit, ihre Ansprüche in weiblichen Figuren zu spiegeln und ihre bisherigen Rollen zwischen Autobiografie und Fiktion kritisch zu beleuchten. Die politischen Forderungen der Frauenbewegung, die einen bürgerlich-gemäßigten, einen bürgerlich-radikalen und einen sozialistischen Flügel umfasste, wurden in fiktionalen Werken selten direkt thematisiert, doch kann die ‚radikale‘ Helene Stöcker als politische Vertreterin ihrer dichtenden Zeitgenossinnen betrachtet werden. Was sie ihnen anbot, war eine Neue Ethik unter nietzscheanischen Vorzeichen. Ihrem Sammel-Band Die Liebe und die Frauen (1906) liegt folgende Forderung zu Grunde:

Aller Fortschritt der Menschheit vom Urmenschen bis zu Nietzsche soll allen zugute kommen. […] Ich finde, der Mann muß unser Leben so gestalten wollen, daß er den Fluch, ein Weib zu sein, ohne allzu großes Entsetzen auch über sich selbst verhängt sehen könnte!3

Wagten mutige Frauen wie Stöcker den Schritt in die politische Arena, so griffen jene, die öffentliche Kundgebungen eher scheuten, lieber zur Feder, um ihre unbefriedigende Wirklichkeit literarisch zu brandmarken oder imaginär zu korrigieren. Der defensive Umgang mit dominanten Vorstellungen von Weiblichkeit treibt in zeitgenössischen Werken von Frauen hybride Blüten, die zwischen tradierten Werten und der Utopie einer Neuen Frau jene Ambivalenz sichtbar machen, die das Fin de Siècle generell kennzeichnet. Die literarisierte Kritik reicht von zaghafter Hinterfragung der bürgerlichen Lebenswelt zu offener Rebellion und kann – wie in Helene Böhlaus Roman Halbtier! (1899)4 – sogar zum Männermord führen, was eine versöhnlichere Haltung in späteren Werken nicht ausschließt. Dort wo Schriftstellerinnen wie Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé oder Franziska zu Reventlow die weibliche Problematik auf familiale Strukturen zurückführen, verschmilzt die Gattung des Bildungsromans, der die Reifung einer Figur in den Mittelpunkt stellt, mit dem Modell des Freud’-schen Familienromans, der dem Bedürfnis entspringt, die Bande mit den Eltern zu modifizieren oder neue Konstellationen zu erfinden. Die Suche nach neuen Vorbildern weist Vätern oft eine wegweisende Rolle zu, während sich bürgerliche Mütter nur selten zur Identifikation anbieten.5 Bringen die dargestellten Töchter selbst ein Kind zur Welt, so verzichten sie indes vermehrt auf den Beistand des Erzeugers, was in autobiografischen Romanen zu einer Heroisierung der Mutterrolle führt.6 Die stark engagierte Dohm, die sich mit spitzer Feder als Pamphletistin einen Namen machte, bringt ihre Forderungen als Roman-Autorin in gemilderter Form zum Ausdruck. Ihrer erfolgreichen Familien-Triologie Schicksale einer Seele (1899), Sibilla Dalmar (1896) und Christa Ruland (1902) schickt sie indes das nietzscheanische Motto Werde, die du bist! voraus, das sie auch als Titel für eine Erzählung wählte und das weibliche Emanzipation jenseits der jeweiligen Handlung postuliert.7 Der pindarische Imperativ „Werde, der du bist“, den Nietzsche für die junge Louise Salomé bereits feminisierte8, kann tatsächlich als utopische Zielsetzung der meisten Texte verstanden werden, die Frauen in der Umbruchszeit der Jahrhundertwende verfasst haben. Zahlreich sind jene, die in implizitem oder explizitem Bezug auf Nietzsches „Umwertung aller Werte“ nach einer neuen weiblichen Stimme suchten, wobei sie über die allgemein als frauenfeindlich eingestuften Äußerungen des Philosophen meist hinwegsahen oder sie als Gesellschaftskritik interpretierten. Neben den bisher genannten Schriftstellerinnen geben sich auch die Historikerin Ricarda Huch und die Sozialdemokratin Lily Braun als Rezipientinnen des Philosophen zu erkennen9, und die Dichterin und Übersetzerin Isolde Kurz zollt dem „stille[n] Prophet[en] und Umwerter der Werte“ in ihren Florentinischen Erinnerungen einen bewundernden Tribut.10 So sehr sich Frauen durch ihre Nietzsche-Lektüren auch zum Widerstand ermutigt fühlten, bleibt das tragische Scheitern der Heldin Agathe in Reuters Roman Aus guter Familie (1895)11 doch symptomatisch für die kulturellen Hindernisse, die Frauen als ‚Umwerterinnen‘ zu überwinden hatten. Ihrem problembewussten Schreiben entsprechend gestaltete sich die Rezeption ihrer Werke, da sie die zeittypischen Ängste vor der décadence als Vermännlichung der Frau und Verweiblichung des Mannes schürten.12 Wohl erschlossen sich die schreibenden Frauen einen breiten LeserInnen-Kreis, doch zogen sie durch ihre öffentliche Präsenz als ‚Mannweib‘ oft jene Gift-Pfeile auf sich, die auch die Juden zu spüren bekamen. „Die Frauen sind eine Macht in unserer Literatur geworden; gleich den Juden begegnet man ihnen auf Schritt und Tritt“, bemerkte ein bedeutender Publizist bereits 1859.13 Der Versuch, sich jenseits ihres geistigen Gettos einen Ort zu erkämpfen, war tatsächlich ein wichtiger Faktor in der Emanzipations-Geschichte beider Gruppen, die durch die Begegnung von Juden und Frauen im Umfeld der Psychoanalyse noch einmal ein gemeinsames Terrain fanden.14

Um die Brüche, Ambivalenzen und Differenzen bei schreibenden Frauen des Fin de Siècle sichtbar zu machen, sollen mit Lou Andreas-Salomé und Franziska zu Reventlow zwei ihrer Vertreterinnen näher vorgestellt werden, die auch heute noch faszinieren, und deren Werke uns in Neuauflagen zugänglich sind.15 Die beiden Frauen sind sich wohl nie persönlich begegnet, da Lou Andreas-Salomé während ihrer Münchner Zeit nicht in die Quartiere der Schwabinger Bohème vordrang, wo die entfesselte Gräfin ihr Wirkungsfeld gefunden hatte. Dennoch verband sie neben der gleichzeitigen Freundschaft mit Rainer Maria Rilke und Affinitäten zu Friedrich Nietzsche, Henrik Ibsen und Ludwig Klages eine individuelle Emanzipierung von ihrer Herkunftsfamilie, die viel Mut und einen unbändigen Wunsch nach Selbstverwirklichung voraussetzte. Charakteristisch für beide ist auch ihre Distanzierung zur Frauenbewegung, deren Forderungen sie aus einer ‚männlichen‘ Perspektive unterlaufen. In ihren Augen braucht die Frau für ihr Glück keine Gleichberechtigung, sondern die Anerkennung ihrer spezifischen Weiblichkeit, durch die sie dem Mann bereits mehr als ebenbürtig sei. Dass sie die Frauenbewegung als unangemessen ablehnten und sie nur ex negativo reflektierten, hinderte sie indes nicht daran, sich das öffentliche Interesse zu sichern. Ihre Befreiungs-Strategien, ihre Nähe zu den Großen der damaligen Geisteswelt und ihre Literarisierung weiblicher Wünsche zwischen zielstrebigem Aufbruch und erotischer Lebensfeier machten sie zu Ausnahme-Erscheinungen, zu denen Frauen wie Männer bewundernd aufschauten, wenn moralische Bedenken es ihnen nicht verboten. Heute haftet beiden der Ruf an, sich als Femme fatale durch zahlreiche Beziehungen zu bedeutenden Männern einen öffentlichen Status erworben zu haben. Ihre geistigen Leistungen geraten bei dieser Gewichtung leider meist aus dem Blick. Dabei hat Andreas-Salomé, die zu Lebzeiten immerhin ernst genommen wurde, als Dichterin und Essayistin vor allem in psychologischer Hinsicht Erstaunliches geleistet, während Reventlow, die als Ikone der sexuellen Befreiung in die Geschichte einging, durch die ironische Färbung ihres späteren Erzählstils eine Neuentdeckung verdient.

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