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Schlussbemerkungen

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Die Untersuchung der Texte Sigmund Freuds und Arthur Schnitzlers hat gezeigt, dass ‚Nervenkunst‘ nicht nur ein Schwelgen in „Sensationen“, nicht nur Ästhetizismus und „Mystik der Nerven“, sondern auch Traumatologie sein kann – die Darstellung und Analyse traumatischer Erlebnisse, die zur Zerreißprobe für die körperlichen und geistigen Kräfte der Protagonisten werden. Die untersuchten Texte präsentieren Situationen multipler Traumatisierung und Retraumatisierung durch die Außenwelt und durch innere Reize und profilieren Bewältigungsmechanismen, in denen neben der ‚morbiden‘ Schwäche auch die Widerstandskraft des Subjekts zutage tritt. Sowohl Freud als auch Schnitzler setzen sich über den fatalistischen Konnex zwischen den ‚Nerven‘ und der Entartung hinweg und erforschen aus dieser neuen Perspektive die Bedrohung des Individuums und die Möglichkeiten seiner Emanzipation und der „Rückgewinnung der lebenskräftigen Gesundheit“69.

Während sich beide Autoren hauptsächlich auf die Symptome und die Reparaturprozesse konzentrieren, werden in den untersuchten Texten die Ursachen der Traumata sowie die Gründe für die unterschiedliche Widerstandsfähigkeit der Protagonisten nur unzureichend erschlossen. Die von Freud eingeführte Größe Q und das von Schnitzler immer wieder evozierte ‚Es‘, hinter denen das Trauma steckt – letzteres unterscheidet sich erheblich von dem im Kontext des Lebenspathos von Georg Groddeck entworfenen und von Freud später modifizierten Es70 – zeichnen sich durch Unbestimmtheit, Offenheit und Diffusion aus. Freud beschränkt sich im Entwurf einer Psychologie weitgehend auf die „Ökonomik der Nervenkraft“71 und wird erst in späteren Schriften den topischen und dynamischen Aspekt entwickeln, mit denen wichtige Ursachen nervöser Beschwerden expliziert werden können. Gegen die Gefahr der Desintegration des Subjekts schlägt Freud als Lösung die Stärkung des Ich vor, während Schnitzler seine Skepsis am integrativen Potenzial des Ich bekundet und dem ‚kathartischen‘ Abreagieren des Affekts wie in Maries Fall den Vorzug zu geben scheint. Worauf genau aber Maries Resilienz beruht und woher sie ihre Fähigkeit zur Abfuhr des traumatischen Affekts und ihre Ressourcen zur Überwindung des Traumas schöpft, bleibt ungeklärt und durch das Symbol des offenen Fensters nur angedeutet. Schnitzler beschränkt sich allerdings nicht auf die naheliegende Annahme, dass Marie die Situation nur kraft ihrer weiblichen Zähigkeit bewältigt, zeigt er doch, dass die Umstände der Traumatogenese auch eine Rolle spielen: So wird Marie noch vor der Übermittlung der traumatischen Nachricht allmählich in Angstbereitschaft versetzt, was ihren Reizschutz verstärkt und die spätere Bewältigung des Traumas erleichtert. Felix hingegen bringt durch frühere neurotische „Launen“ (Schnitzler, ES I, S. 100) eine Disposition mit, die für die Traumabewältigung ungünstig ist. Ob aber die Disposition zur Neurose als männliche Eigenschaft zu verstehen ist, bleibt unklar. Anders als bei Nietzsche und Bahr lassen sich bei Schnitzler und Freud Entgrenzungseuphorie und Einheitsvisionen vermissen. Erinnert sei hier besonders an die Pathologizität der Entgrenzung im traumatischen Schmerz bei Marie sowie der Entgrenzung während der traumatischen Desintegration bei Felix. Als moralisch bedenklich problematisiert wird von Schnitzler auch die lebenspathetische Allverbundenheit, die Marie aus der Krise führt.

Infolge der Überwindung der Degenerationshypothese loten die Texte verstärkt die „soziale Dimension“ der Krankheit72 aus. Freuds Modell weist schon im Entwurf einer Psychologie eine intersubjektive und zugleich moralisch konnotierte Komponente auf, wenn er die „fremde Hilfe“ durch ein „erfahrenes Individuum“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 410) bei der Überwindung der „anfänglichen Hilflosigkeit“ des Menschen betont (Freud, GW, Nachtragsband, S. 411). Diese Aussage nimmt die Rolle des Psychoanalytikers vorweg, eines „Sachverständigen der Nervosität“, der den Patienten bei der Verarbeitung der ihn bedrängenden Bilder, Assoziationen und „Sensationen“, bei der Stärkung seines Ichs und bei der Ziehung von Trennlinien zwischen Innen- und Außenwelt unterstützt. Schnitzler führt in Sterben zwar ebenfalls ein Zweipersonen-Drama auf, doch sein skeptischer Blick richtet sich viel stärker auf den Egoismus, die Aggressivität und die Machtstrukturen, die durch das Trauma entfesselt werden. Wie die ‚Heilung durch das Ich‘ ist für Schnitzler auch die Heilung durch Liebe und gegenseitiges Vertrauen nicht möglich.

Anmerkungen

1 Hermann Bahr, Wahrheit! Wahrheit! in: Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, hg. v. Claus Pias, Weimar 2004, S. 120–127, hier S. 126f.

2 Bahr, Wahrheit! Wahrheit! S. 127.

3 Ebd.

4 Philip Ajouri, Literatur um 1900, Berlin 2009, S. 20.

5 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998, S. 13.

6 Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 102.

7 Zit. nach Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004 [= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX, 2], S. 34.

8 Wolfdietrich Rasch, Fin de siècle als Ende und Neubeginn, in: Roger Bauer et al. (Hg.), Fin de siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende,Frankfurt/M. 1977, S. 30–49, hier S. 31.

9 Rasch, Fin de siècle, S. 34.

10 Rasch, Fin de siècle, S. 35.

11 Horst Thomé, Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle, in: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus: 1890–1918, München 2000 [= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7], S. 15–27, hier S. 20.

12 Dorothee Kimmich u. Tobias Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, Darmstadt 2006, S. 19.

13 Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918, S. 34.

14 Wolfdietrich Rasch, Die literarische Décadence um 1900, München 1986, S. 122.

15 Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 122–123.

16 Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 22.

17 Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 66.

18 Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 31.

19 Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 38.

20 Vgl. Wolfdietrich Raschs Titel Fin de Siècle als Ende und Neubeginn.

21 Vgl. dazu Thomé, Modernität und Bewußtseinswandel.

22 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, hg. v Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlinork 1980 (Im Folgenden zit. als KSA).

23 Horst Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993,S. 201.

24 Renate Müller-Buck, Psychologie, in: Nietzsche Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, hg. v. Henning Ottmann, Stuttgart 2011, S. 509–514, hier S. 510.

25 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 200.

26 Emil Du Bois-Reymond, Der physiologische Unterricht sonst und jetzt, Berlin 1878, zit. nach Philip Sarrasin u. Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998, S. 24.

27 Sigmund Freud, Entwurf einer Psychologie, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud et al., Frankfurt/M. 1999, Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885–1938, S. 373–486.

28 Frank J. Sulloway, Freud – Biologe der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende, Köln-Löwenich 1982, S. 181.

29 Vgl. Mark Solms u. Michael Saling, On Psychoanalysis and Neuroscience: Freud’s Attitude to the Localizationist Tradition, in: International Journal of Psychoanalysis (1986), H. 67, S. 397–416, hier S. 400.

30 Vgl. Mai Wegener, Neuronen und Neurosen. Der psychische Apparat bei Freud und Lacan. Ein historisch-theoretischer Versuch zu Freuds Entwurf von 1995, München 2004, S. 21.

31 Siegfried Bernfeld, Freuds früheste Theorien und die Helmholtz-Schule, in: Siegfried Bernfeld u. Susanne Cassirer Bernfeld, Bausteine der Freud-Biographik, hg. v. Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt/M. 1981, S. 54–77, hier S. 60.

32 Vgl. etwa Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band XIII, S. 3–69, hier S. 47.

33 Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fliess 1887–1904, hg. v. Jeffrey Mousaieff Masson, Frankfurt/M. 1986, S. 147.

34 Sulloway, Freud – Biologe der Seele, S. 184.

35 Zvi Lothane, Freud’s 1895 Project: From Mind to Brain and Back Again, in: Annals of New York Academy of Sciences (1998), H. 843, S. 43–65, hier S. 63.

36 Siegfried Bernfeld, Freuds früheste Theorien und die Helmholtz-Schule, S. 76.

37 Solms u. Saling, On Psychoanalysis and Neuroscience, S. 401.

38 Solms u. Saling, On Psychoanalysis, S. 400.

39 Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 79.

40 Solms u. Saling, On Psychoanalysis and Neuroscience, S. 402.

41 Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, in: Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 128–133, hier S. 130.

42 Vgl. Solms u. Saling, On Psychoanalysis and Neuroscience, S. 400: Qή ist „undefined and unmeasurable“, also keine neurophysiologische Kategorie.

43 Vgl. Horst Thomé, Kernlosigkeit und Pose. Zur Rekonstruktion von Schnitzlers Psychologie, in: Klaus Bohnen et al. (Hg.), Fin de siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. Text & Kontext. Sonderreihe, Bd. 20, München 1984, S. 62–87, hier S. 63.

44 Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 133.

45 Bahr, Die neue Psychologie, in: Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 89–101, hier S. 99.

46 Ebd.

47 Ebd.

48 Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 132.

49 Hermann Bahr, Die Krisis des Naturalismus, in: Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 61–66, hier S. 62.

50 Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 28.

51 Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 131.

52 Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 132.

53 Bahr, Wahrheit! Wahrheit! S. 126.

54 Vgl. etwa Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 30.

55 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 400; Michael Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1983, S. 80–85.

56 Vgl. Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 94.

57 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 409.

58 Vgl. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 421: „Die Sprache Bahrs stößt so gar nicht zu den ‚Gefühlen in den Nerven‘ vor.“

59 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 431.

60 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 610.

61 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 646, Anm. 148.

62 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 645.

63 Arthur Schnitzler, Die Erzählenden Schriften. Erster Band, Frankfurt/M. 1961 (fortan als ES I zitiert).

64 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 639.

65 Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 649.

66 Helmut Koopmann, Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900, in: Fin de Siècle, hg. v. Bauer et al., S. 73–92, hier S. 75.

67 Vgl. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 203 über die „Entwirklichung“ bei Schnitzler.

68 Vgl. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, Kap. 10, S. 95–98.

69 Rasch, Fin de siècle, S. 45.

70 Vgl. Georg Groddeck, Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin, Frankfurt/M. 1989 sowie Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band XIII, S. 237–289.

71 Freud, Briefe an Wilhelm Fliess, S. 130.

72 Michaela Perlmann, Arthur Schnitzler, Stuttgart 1987, S. 141.

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