Читать книгу Das GEHEIMNIS der TRINAKRIA - Freda Kurto - Страница 5

Kapitel 2

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Fünf Minuten vor Zwölf! Im übertragenen Sinn versteht sich. Heute war es soweit. Aufgeregt schnürte ich mein Bündel. Der Flieger ging zwar erst am späten Nachmittag, aber keine zehn Pferde würden mich davon abhalten, mal wieder viel zu früh loszufahren. Zwar sollte die Strecke Regensburg-München, günstige Umstände vorausgesetzt, selbst in meiner von den Jahren arg gebeutelten Ente in einer großzügig bemessenen Stunde problemlos zu bewältigen sein. Aber, man konnte ja nie wissen.

Ausgerechnet heute erinnerte sich die Großwetterlage an ihre guten Seiten. Ausnahmsweise lichtete sich der Nebel in den frühen Morgenstunden und ließ stellenweise Reste eines strahlend blauen Himmels erkennen. Gegen Mittag bahnten sich sogar trügerische Sonnenstrahlen den Weg, um das nasskalte Novemberklima kurzfristig zu verdrängen. Sollte es sich hierbei etwa um einen Wink mit dem Zaunpfahl handeln? Getreu dem Motto: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute ist so nah? Quatsch! Froh, auf dieser Fahrt nicht die fehlende Ausstattung meines Vehikels mit einem Nebelscheinwerfer bedauern zu müssen, tuckerte ich in Richtung Autobahn.

Unmittelbar vor der Auffahrt fiel er mir das erste Mal auf. Schätzungsweise in meinem Alter, um die Zwanzig, ungefähr 1.80 Meter lang, schmal, kurze braune verstrubbelte Haare, salopp, aber keineswegs schlampig gekleidet. Alles in allem kein Anhaltertyp. Dennoch wies das hochgehaltene Pappschild unmissverständlich auf entsprechende Aktivitäten hin.

Allein wegen seines sympathischen, regelrecht vertrauenerweckenden Gesichts wäre ich nicht im Traum auf die Idee gekommen, anzuhalten. Seit ich meinen Führerschein habe, beherzige ich konsequent und unnachgiebig den Grundsatz, keine fremden Leute mitzunehmen. Um so erstaunlicher, dass in diesem Fall mein Verhaltenskodex ansatzweise ins Schwanken geriet.

Vermutlich lag der Grund hierfür in der Richtung, die der Unbekannte anvisierte. Die stimmte nicht nur mit meiner überein, sondern zeugte auch von einer gewissen exzentrischen Veranlagung des Unbekannten. Denn auf dem Schild des Trampers stand keineswegs München, sondern: Sizilien. War es ein verfrühter Aprilscherz? Oder nur Ausdruck eines über alle Maßen optimistischen, wenn nicht gar naiven Gemütes? Jedenfalls schien selbst mir die These unhaltbar, dass seine Ambitionen in Richtung „potentieller Gewaltverbrecher“ gingen. Wie auch immer, seinetwegen würde ich sicherlich nicht das Risiko eingehen, eines Besseren belehrt zu werden. Eigentlich schade, dachte ich, als ich im Rückspiegel sah, dass auch er mir hinterher schaute.

Der arme Kerl! Irgendwie wurde ich den Gedanken an ihn nicht los. Während ich gemütlich im Warmen saß, das idyllische Hopfenanbaugebiet Holledau an mir vorbeiziehen ließ, und meine Ente ausnahmsweise ohne aufzumucken einen Kilometer nach dem anderen verschlang, konnte er sich kalten Fußes dieselben in den Bauch stehen. Während ich in der sicheren Gewissheit schwelgte, mich mit jeder Minute, die verstrich, unweigerlich meinem Ziel zu nähern, musste er sich früher oder später mit dem eindeutig vorprogrammierten Scheitern seines Vorhabens auseinandersetzen. So etwas Verrücktes aber auch. Denn wer würde angesichts des nahenden Winters auf die idiotische Idee kommen, eine Fahrtstrecke von rund 2.000 Kilometern auf sich zu nehmen, wenn er genauso gut und vor allem bequem nach läppischen zwei Stunden Flugzeit am Ort seiner Träume ankommen konnte? Nun, wie ich das sah, konnte er von Glück reden, wenn er überhaupt irgendwohin käme. Aber was kümmerte mich die Zukunft eines Möchtegernvagabunden?

Die raue Wirklichkeit hielt mich davon ab, nach einer Antwort zu suchen. Ein kleines rotes Licht flackerte am Armaturenbrett auf und lenkte meinen Blick auf die Tanknadel, die sich jenseits der Reservemarkierung aufhielt. Mist. Mir würde es wohl nie gelingen, rechtzeitig an den unverhältnismäßigen Spritbedarf meines vierrädrigen Vielfraßes zu denken. Mit Hängen und Würgen, unter Inanspruchnahme des allerletzten Reservetropfens, fuhr ich die nächste Tankstelle an. Vielmehr rollte ich die letzten Meter.

Da sich die Zapfsäulen äußerster Beliebtheit erfreuten, konnte ich mich entspannt zurücklehnen und dankbar durchatmen. Das wäre ein echter Hammer gewesen. Wegen eines leeren Tanks: Sizilien ade! Mein Blick streifte zufällig den Rückspiegel und fiel auf das Prachtexemplar eines Zweisitzers, der hinter mit wartete. Ein knallig orangefarbener Fiat Barcetta mit geöffneten Verdeck beherbergte zwei den Elementen Wind und Wetter trotzende, dick vermummte Gestalten.

„Auch eine Möglichkeit zu reisen“, murmelte ich mit einem kleinen Anflug von Neid. Ich war so in die Betrachtung des seltenen Flitzers versunken, dass ich weder Fahrer noch Beifahrer eines Blickes würdigte. Entsprechend überrascht vernahm ich ein Klopfen an meinem Seitenfenster. Ich drehte mich um, und mein Erstaunen nahm kein Ende. Wer deutete mir an, die Fensterscheibe herunterzukurbeln? Der zum Scheitern verurteilte Sizilienreisende höchstpersönlich! Es war nicht zu fassen. Und ich hatte mir auch noch Sorgen um sein Fortkommen gemacht. Dabei war seine Fahrt in diesem Luxusschlitten doch erst durch mich und meine mangelnde Hilfsbereitschaft möglich geworden.

Leicht verärgert öffnete ich mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen das Fenster. Was wollte er von mir? Eine Dankeschön hatte ich ja wohl kaum zu erwarten. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, aber ...“ Schroff unterbrach ich ihn: „In der Tat. Und? Was wollen Sie?“ „Nun, ja also, eigentlich – , aber ich glaube, ich sollte mir einen zweiten Versuch lieber ersparen.“

Wunderbar. Er hatte mich verstanden. Doch anstatt das Gespräch zu beenden, hakte ich nach. „Jetzt stellen Sie sich mal nicht so an. Wenn Sie sich derart anschleichen, besteht ja wohl kein Anlass zu glauben, dass ich Sie mit offenen Armen empfange. Außerdem, was meinen Sie mit zweitem Versuch? Können Sie sich nicht klarer ausdrücken?“ Er unterbrach meinen Redeschwall: „Wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt, gerne. Gut, wie fange ich am Besten an? Erinnern Sie sich denn nicht an mich?“

Natürlich tat ich das. Aber das ging in ihn schließlich nichts an. Außerdem, wenn ich zu etwas keine Lust hatte, dann einen potentiellen Anhalter abzuwimmeln. „Wissen Sie, wenn Sie meinen, eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten zu müssen, kann ich auf die Fortführung unseres Gespräches gut verzichten.“ Gott sei Dank wurde in diesem Augenblick mein Vordermann fertig. Mit einem betont freundlichen „Ich muss jetzt tanken. Auf Wiedersehen“ knallte ich ihm die Autotür um ein Haar direkt vor die Nase, stieg aus, machte mich an die Arbeit und ging zahlen.

Als ich zu meinem Auto zurückkehrte, ließ ich dezent meine Blicke schweifen. Schon wieder Glück gehabt. Mein gewinnendes Wesen hatte ihn offensichtlich davon überzeugt, dass er von mir keine Chauffeursdienste zu erwarten hatte. Ein weiterer Blick auf die Uhr ergab, dass ich genug Zeit hatte, um mir eine kleine Kaffeepause zu gönnen. Ich deponierte meine Ente und peilte zielstrebig die Cafeteria an. Trotz des eigentümlichen Charmes, den solche Raststätteneinrichtungen verbreiten, war der Andrang gewaltig. Ich wollte schon umdrehen, als in der hintersten Ecke ein kleiner Tisch frei wurde.

Während ich behutsam ein Gebräu, laut Karte handelte es sich um Kaffee, schluckte und mechanisch eine Zeitschrift durchblätterte, hing ich meinen Gedanken nach. Es ist schon tragisch, dass die Menschheit so verkommen ist. Wer war heutzutage noch hilfsbereit? Insbesondere gegenüber Fremden – vor lauter Angst, im günstigsten Fall ausgenutzt und über den Tisch gezogen zu werden. Obwohl, Argumente wie diese waren vermutlich nur allzu oft eine willkommene Ausrede, um nicht behilflich zu sein. Wenn aber die grundsätzliche Bereitschaft vorhanden war, sollte man sich vielleicht einfach auf seine Menschenkenntnis verlassen. Zum Beispiel Mr. Sizilien. Er machte nun wirklich einen ganz harmlosen, regelrecht seriösen Eindruck. Stellte sich allerdings die Frage, warum er sich ausgerechnet auf diese Art und Weise fortbewegen musste. Immerhin sah er keineswegs so aus, als müsse er am Hungertuch nagen. Aber das konnte mir nun wirklich egal sein. Zumal ich ihn ja endgültig und erfolgreich abgewimmelt hatte.

Welch grobe Fehleinschätzung. An nichts Böses denkend, vernahm ich ein zurückhaltendes: „Ist hier noch ein Platz frei?“ Die Stimme kannte ich doch. Sichtbar genervt schaute ich hoch. Himmel sakra, blieb mir denn auch nichts erspart! Unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung stand das Subjekt meiner Gedanken samt Gepäck vor meinem Tisch. Mit gespielter Verzweiflung zuckte er die Schultern und erklärte mit kummervoller Stimme: „Eine wirklich unangenehme Situation. Sie müssen ja glauben, dass ich Sie verfolge. Hätte ich eine Alternative, aber Sie sehen ja selbst, nirgends ein freies Plätzchen.“

Sarkastisch antwortete ich: „Tja, das Leben ist eines der härtesten.“ Mit einem leicht belustigten Grinsen entgegnete er: „Sie haben völlig Recht. Mein Pech.“ Er bückte sich, um seinen Seesack zu schnappen. „Los, setzten Sie sich schon!“, brummte ich widerwillig. Immerhin befanden wir uns in einem der Öffentlichkeit zugänglichen Lokal. Wenn ich ihm den Zutritt zu meiner Ente verwehrte, war das mein gutes Recht. Aber hier den Tisch zu verteidigen? Ich wollte mich ja schließlich nicht lächerlich machen. Mit dieser Geste sollte mein Entgegenkommen jedoch endgültig ausgeschöpft sein. Mit einem betont dynamischen Blättern in besagter Illustrierten signalisierte ich meine mangelnde Bereitschaft zu einem Small Talk.

Doch Undank ist der Welt Lohn. Entweder war er unfähig, meine Körpersprache richtig zu interpretieren, oder es entsprach seinem selbstbewussten Naturell, sich von kleinen Hindernissen nicht entmutigen zu lassen. Jedenfalls machte er keinen Hehl aus seinem Kommunikationsbedürfnis. „Ihre Ente hat es mir auf den ersten Blick angetan. Leider sieht man dieses Modell nur noch selten. Ist sie noch voll einsatzfähig? Haben Sie heute noch eine lange Strecke vor sich?“

Bei diesem Redefluss konnte ich mich beim besten Willen nicht konzentrieren. Gezwungenermaßen schaltete ich mich ein. „Erste Frage: Ja. Zweite Frage: Wie man’s nimmt. Immerhin heißt mein Ziel Sizilien.“ Teufel, wieso konnte ich nie meine Klappe halten? Ein falsches Wort und schon hatte ich ihm die nächste Frage auf einem goldenen Tablett serviert.

„Das gibt’s ja gar nicht. Das muss reine Vorsehung sein. Da kann ja von Zufall wohl kaum mehr die Rede sein. Sie wissen, was ich meine?“ Natürlich wusste ich, was er meinte. Schließlich war sein Pappschild nicht zu übersehen gewesen. Allerdings wusste ich auch, dass ich „unser“ Wissen nicht in seinem Sinne umzusetzen gedachte. „Da muss ich Sie leider enttäuschen. Wenn Sie wissen, was ich meine? Erstens, werde ich Sizilien nicht anfahren, sondern anfliegen. Zweitens, nehme ich grundsätzlich, das heißt ohne Ausnahme, keine Anhalter mit. Drittens ...“Er winkte ab. „Ist schon gut. Ich habe die Botschaft verstanden. Wenn ich zu penetrant gewesen sein sollte – “

Im Geiste wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Schon wieder Glück gehabt. Schweigsam widmeten wir uns, beide mit angewidertem Blick, der Flüssigkeit, die in unseren Tassen überzuschwappen drohte. Die wohlige Gewissheit, soeben eine gefährliche Klippe umschifft zu haben, wirkte sich positiv auf meine Geselligkeit aus. Ich fragte ihn nach den Gründen, warum er sich unbedingt eine Zweitagesreise per Auto auf sich nehmen wolle.

So erfuhr ich, dass mein Gegenüber, wenn irgendwie möglich, lieber mit dem Auto fuhr, um mehr zu sehen und zu erleben. Sein ursprüngliches Vorhaben, mit dem eigenen Auto zu fahren, sei in dem Augenblick geplatzt, als vor wenigen Tagen ein Betrunkener in seinen Wagen gedonnert sei. Totalschaden. Dann habe er kurzerhand beschlossen, sich auf die mir bekannte Weise seinem Ziel zu nähern. Er sehe aber nach diversen Fehlschlägen ein, dass er vermutlich auf die Alternative Flugzeug zurückgreifen müsse.

Automatisch schrillten in meinem Kopf die Alarmglocken. Doch die befürchtete Frage, ob ich ihn nicht ausnahmsweise vielleicht zum Flughafen ..., blieb aus. Angenehm berührt von seiner unerwartet vornehmen Zurückhaltung wünschte ich ihm eine gute Reise und wollte mich auf nimmer Wiedersehen verabschieden. Doch beim Aufstehen fiel plötzlich mein Blick auf die Vorderseite seines Seesackes. Das Reiseutensil, an sich von unscheinbarem Äußeren – schlichter schwarzer Leinenstoff – , fiel durch eine eingearbeitete sonnengelbe, etwa tellergroße Abbildung auf.


Unwillkürlich griff ich zum Hals. Ein typischer Reflex, eine Handbewegung, die ich immer wieder unbewusst ausführe, um zu kontrollieren, ob sich meine Kette mit dem Talisman noch an Ort und Stelle befindet. Erleichtert fühlte ich die beruhigende Kühle des unter dem Pullover verborgenen, 2-Euro-Stück großen goldenen Anhängers. Dennoch hatte ich das Gefühl, zu glühen und zu schwanken. Eine Hand drückte mich auf den Stuhl zurück und eine besorgte Stimme bahnte sich den Weg zu meinem Ohr. „Ist Ihnen schlecht? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Sie sehen ja aus, als wären Sie gerade einem Gespenst begegnet.“ In gewisser Weise traf die Floskel direkt ins Schwarze. Genau genommen hatte mich soeben das Gespenst meiner Vergangenheit gestreift. Aber auch das ging ihn nichts an. Zudem hatte es mir die Sprache so gründlich verschlagen, dass ich nur mit Mühe ächzen konnte: „Alles in Ordnung!“

Wie ich später erfuhr, war ich die nächsten Minuten nicht ansprechbar. Den Anhänger nach wie vor krampfhaft festhaltend, zogen in Windeseile Bruchstücke meines Lebens an mir vorbei. Sinnlose, quälende Gedanken, die ich schon vor langer Zeit und nach etlichen Rückschlägen unter der Kategorie „vorbei und vergessen“ abgehakt hatte. Endgültig, wie ich damals meinte.

Dreh- und Angelpunkt des momentanen Desasters war mein Anhänger. Das dargestellte Motiv hatte ich bislang noch nie woanders gesehen. Auch war es mir nicht gelungen herauszufinden, was es mit dem Schmuckstück auf sich hatte. Ich wusste nicht, wem es einst gehört hatte und unter welchen Umständen der Anhänger in meinen Besitz gekommen war. Sollte er ein bestimmtes Symbol abbilden? Oder handelte es sich lediglich um eine der Phantasie entsprungene Darstellung? Kurzum, ich hatte niemanden gefunden, der das Motiv kannte und mir etwas über die Bedeutung des geheimnisvoll anmutenden Gebildes hätte sage können.

Bis heute! Denn gerade eben hatte ich ein identisches Exemplar gesehen. Nicht in Form eines Schmuckstückes, sondern als Emblem auf seinem Seesack. Dort prangte es und ließ meinen Blick nicht mehr los: Ein Frauenkopf, umrahmt von drei abgewinkelten Beinen sowie je zwei Schlangen und Flügeln.

Vielleicht würde er mir ein paar Informationen über das Motiv geben können. Was hieß hier vielleicht? Er musste einfach etwas wissen. Schließlich ging es hier nicht um ein in jedem x-beliebigen Laden zu kaufendes Standardmodell. Mit Sicherheit war der Frauenkopf erst nachträglich angebracht worden. Vielleicht von ihm selbst, zumindest aber von einer ihm bekannten Person. Ich war sicher, er wusste, was er da mit sich herumschleppte.

Doch selbst wenn ich richtig lag, war mir letztlich nicht geholfen. Denn seine Informationen konnten zwangsläufig nur allgemeiner Natur sein. Die Fragen, die mir besonders am Herzen lagen, würde auch er nicht beantworten können: Wem hatte die Kette ursprünglich gehört? Ich bin immer davon ausgegangen, dass sie von meiner Mutter stammte. Aber Beweise für diese Theorie gibt es nicht. Ebenso wenig für die Annahme, dass es sich um eine Art Erbstück handelt. Das einzige, was die Frau, die mich auf die Welt gebracht hat, mir auf meine einsame Reise ins Leben mitgeben wollte, konnte ... Aber wissen? Von Wissen konnte keine Rede sein.

Ich wusste nicht, wer meine Eltern waren oder sind. Ob sie verheiratet waren. Warum meine Mutter weder sich noch mir die Chance gegeben hat, einander kennenzulernen. Genau genommen kannte ich weder meinen richtigen Namen noch den exakten Geburtstag. Und das wenige, was ich wusste, weckte lediglich die Erinnerungen an eine vergeblich verdrängte unglückliche Kindheit und Jugend. Ich wusste, dass ich ein Findelkind bin. Der Anfang meiner dokumentierten Geschichte fiel auf einen kalten, dunklen Novemberabend vor fast zwanzig Jahren. Die Glocken der neben dem Pfarrhaus stehenden Kirche schlugen zehn Mal, als die Haushälterin des Pastors ein Klopfen an der Haustür hörte. Ganz kurz und so leise, dass sie es beinahe überhört hätte.

Von Rheuma geplagt, dauerte es eine Weile, bis sie die Tür erreichte. Draußen herrschte tiefe Dunkelheit. Das einzig Helle waren die aufkommenden Nebelschwaden, unter denen der angrenzende Friedhof kaum noch zu erkennen war. Die gute Seele schaute sich erstaunt um und kam zu dem Ergebnis, sich doch getäuscht zu haben. Sie war gerade im Begriff, sich umzudrehen und die Türe wieder zu schließen, als sie eher zufällig auf den Boden schaute. Und damit auf mich: einen winzigen, in eine weiße Decke gewickelten Säugling mitsamt seiner komfortablen Behausung in Gestalt einer Strohtasche.

Um es kurz zu machen: Der herbeigerufene Arzt behauptete, ich sei allenfalls vierzehn Tage alt und attestierte mir, von einer leichten Unterkühlung abgesehen, einen robusten gesundheitlichen Zustand. Des Weiteren ergab der Inhalt besagter Notunterkunft keine Hinweise auf meine Identität. Abgesehen von einem Zettel, auf dem der Name Anna stand. Ansonsten fand man lediglich eine goldene Kette mit einem goldenen, im Design recht ausgefallenen Anhänger. Eben jenes Schmuckstück, dass ich seitdem immer trage.

Die nächsten Tage wurde ich im Pfarrhaus aufgepäppelt. Als feststand, dass alle Versuche, meine Mutter ausfindig zu machen, gescheitert waren, lief ich die nächste Station an. Das Waisenhaus. Dort blieb ich vier Jahre, bis mich eine Pflegefamilie aufnahm. Ein absoluter Glückstreffer, denn die Begeisterung meiner „neuen Eltern“ führte zu dem Wunsch, mich zu adoptieren. Doch dann kam es zu einem schrecklichen Verkehrsunfall, dem meine Familie in spe zum Opfer fiel. Also landete ich erneut im Heim. Mit sechzehn begann ich eine Fotolehre, mit achtzehn ließ ich den Ort meiner Kindheit hinter mir, und seitdem ist nichts Weltbewegendes passiert.

Solange meine Erinnerung zurückreicht, waren Kette und Anhänger für mich von größter Bedeutung. In den ersten Jahren im negativen Sinne. Damals hatten mir die Schwestern erzählt, es sei ein Geschenk meiner leiblichen Mutter. Zu der Zeit fing ich an, mir Gedanken zu machen. Was hatte ich Schlimmes getan oder an mir gehabt, dass diese Frau mich nicht haben wollte? Ich war unendlich wütend. Auf mich, weil ich mir die Schuld für diese Entwicklung gab. Auf diese herzlose Frau, die mir das angetan hatte. Auf die Kette, die mich immer wieder an meine fehlende Vergangenheit erinnerte. Zudem ängstigte mich die bizarre Gestalt des Anhängers. Am liebsten hätte ich das Schmuckstück weggeworfen. So wie sie mich entsorgt hatte. Andererseits stellte die Kette die einzige Verbindung zu meiner Vergangenheit dar. Also beschränkte ich mich in meinem kindlichen Zorn darauf, Kette und Anhänger für geraume Zeit in einer kleinen, aus der Küche stibitzten Holzspanschachtel, einst Aufbewahrungsort eines Camembert, zu deponieren, und den Gedanken daran einfach zu verdrängen.

Natürlich gelang mir weder das eine noch das andere. Was durchaus sein Gutes hatte. Denn je mehr ich darüber nachdachte, um so größer schien die Wahrscheinlichkeit, dass ich die leidige Angelegenheit zu einseitig betrachtet hatte. Immerhin konnte niemand definitiv Auskunft über die wirklichen Motive meiner Mutter geben. Was wäre denn, wenn sie nicht anders hatte handeln können? Wenn sie sich in einer Zwangslage befand, aus der sie nur auf diese Weise entkommen konnte? Was, wenn sie mir doch positive Gefühle entgegengebracht hatte ...?

Zu diesem Zeitpunkt begann ich die Kette, insbesondere natürlich den Anhänger, in einem anderen Licht zu sehen. Ich war mit einem Mal davon überzeugt, dass dieser seltsame Frauenkopf eine ganz bestimmte Rolle im Leben meiner Mutter gespielt hatte. Wie auch immer diese ausgesehen haben mag, das Schmuckstück muss ihr sehr am Herzen gelegen haben. Dessen war ich mir nun sicher. Und vielleicht war genau das der Grund, warum sie wollte, dass ich es bekomme. Womöglich war sie von dem Gedanken geleitet, sie könne mit Hilfe dieses bedeutsamen Gegenstandes eine Art Brücke zwischen uns, zwischen mir und meiner Herkunft schlagen.

Stellte sich nur die Frage nach der konkreten Bewandtnis dieses Anhängers. Entsprechende Nachforschungen verliefen erfolglos. Damals ging ich dazu über, die Kette Tag und Nacht zu tragen. Der Anhänger jagte mir nicht länger Angst und Schrecken ein, sondern gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Fortan übernahm er die Funktion eines Maskottchens. Solange ich es am Körper trug, würde mir nichts passieren.

Bis zum heutigen Tag glaube ich fest daran, dass der Frauenkopf eine Art Orakel darstellt. Dass er ein Geheimnis verbirgt, das mir meine Mutter auf diese Weise mitzuteilen versuchte. Die Hoffnung, jemals auf des Rätsels Lösung zu stoßen, hatte ich allerdings längstens begraben und beschlossen, die Vergangenheit endgültig ruhen zu lassen. Und jetzt das!

Langsam drang der um mich herum tobende Geräuschpegel – quengelnde Kinder, entnervte Eltern und nicht zuletzt die besorgte Stimme des Verursachers meines Dilemmas – in mein Bewusstsein. „Was ist denn los? Geht es Ihnen besser? Soll ich einen Arzt rufen?“ Das hätte mir gerade noch zu meinem Glück gefehlt: „Um Gottes willen! Es ist alles in Ordnung.“ Die skeptische Reaktion: „Wirklich? Sie haben mir in den letzten Minuten einen gewaltigen Schrecken eingejagt.“

Wie ärgerlich! Sein ganz und gar nicht überzeugt wirkender Gesichtsausdruck signalisierte, dass ein paar erläuternde Anmerkungen angebracht waren. Immerhin hätte er mich samt Blackout auch sitzen lassen können. Insbesondere nach meinem zuvor an den Tag gelegten Umgangston. Von meiner entgegenkommenden Art ganz zu schweigen. Bloß, was sollte ich ihm sagen? Klar, nicht zu viel und nicht zu wenig. Was ich brauchte, war eine Strategie, um mit möglichst wenig Aufwand ans Ziel zu kommen. Am besten... Doch weiter kam ich nicht dank seiner Unterbrechung.

„Also, ich muss schon sagen, es ist mir zwar aufgefallen, dass Sie nicht gerade zu den geschwätzigen Vertretern des weiblichen Geschlechts gehören, aber nun scheinen sie wohl endgültig die Sprache verloren zu haben!?“ Ich räusperte mich: „Ach, ganz so tragisch ist es sicherlich nicht. Aber von einer solchen Kreislaufattacke erhole ich mich halt immer am schnellsten, wenn ich ein paar Minuten völlig entspannt und intensiv durchatme. Wenn Sie also noch ein wenig Geduld mit mir haben könnten?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, stürzte ich mich erneut in meinen apathisch anmutenden Zustand und entwickelte in Windeseile eine Strategie: Ich würde ihn so unauffällig und effektiv wie möglich aushorchen; im Gegenzug aber nur so viel von meiner Lebensgeschichte preisgeben wie unbedingt nötig. Wenn das kein fairer Handel war.

Kampfgestählt kehrte ich in den Zustand normaler Ansprechbarkeit zurück. Schließlich wollte ich seine Geduld keinesfalls überstrapazieren. Außerdem wurde die Zeit allmählich knapp. Ein verstohlener Blick auf die Uhr erinnerte mich daran, dass auch der großzügigste Zeitrahmen irgendwann ausgeschöpft ist. Gott sei Dank waren es höchstens noch zwanzig Minuten bis zum Flughafen. Nichtsdestotrotz, wenn ich meinen Flieger nicht hinterher schauen wollte, musste ich langsam los. Und das bedeutete, dass ich die Fahrt mit meinem neuen Bekannten fortsetzen musste, um überhaupt eine Chance zu haben, an die ersehnten Informationen zu kommen. Doch was würde er von meinem plötzlichen Sinneswandel halten? Würde er misstrauisch werden? Um das zu verhindern, galt es diplomatisch vorzugehen, anstatt ihm die gemeinsame Weiterfahrt einfach so vorzuschlagen.

„Ich muss mich wirklich bei Ihnen entschuldigen und für Ihre Ausdauer bedanken. Das Ganze ist mir richtig peinlich. Wie kann ich das wieder gut machen?“ Mensch Junge, wenn das nicht die Gelegenheit ist, deine Reisepläne wieder ins Gespräch zu bringen! Dummerweise dachte er keineswegs daran, den Köder zu schlucken. Stattdessen kehrte er den Kavalier alter Schule hervor und erwiderte: „Aber ich bitte Sie! Das war doch selbstverständlich. Hauptsache, Sie sind wieder fit. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann? Ansonsten würde ich mich jetzt verabschieden, denn es ist schon recht spät.“ Mist, offensichtlich war ich im Vorfeld zu unnachgiebig aufgetreten. Zweiter Versuch: „Himmel, die Zeit! Sie haben Recht. Ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten. Über meinen Anfall habe ich völlig die Zeit vergessen. Auch ich muss zusehen, dass ich weiter komme. Also, nochmals vielen Dank und eine schöne Reise.“

Ein letztes „Auf Wiedersehen“ und ich machte Anstalten, mich vom Stuhl zu erheben. Ungefähr nach der Hälfte der Strecke verharrte ich kurz, stöhnte leicht und ließ mich seufzend wieder zurückfallen. Offensichtlich waren meine schauspielerischen Fähigkeiten recht überzeugend. Zeitgleich mit den ersten Erschöpfungsanzeichen meinerseits sprang er auf, um mich notfalls auffangen zu können. Als ich unfallfrei wieder Platz genommen hatte, ließ auch er sich mit einem Seufzen nieder. „Sie können sagen, was Sie wollen“, verkündete er mit besorgter Stimme, „aber ganz auf dem Damm sind Sie noch nicht! Sie sollten vielleicht doch besser auf Nummer sicher gehen und einen Arzt hinzuziehen.“

Genau das richtige Stichwort! „Nun, schaden könnte es vermutlich nicht. Andererseits, es ist nicht das erste Mal, dass sich mein schwacher Kreislauf bemerkbar macht. Und aus Erfahrung weiß ich, dass ich mich in einem solchen Fall nur ein wenig auszuruhen brauche. Aber ausgerechnet jetzt ...!" Um ihm keine Gelegenheit zu geben, mich zu unterbrechen, setzte ich meinen Monolog schnell fort. „Ach, was soll’s! Ich muss mich nur ein bisschen zusammenreißen, dann wird es schon gehen. Gut, ich fühle mich etwas unsicher auf den Beinen. Aber schließlich will ich ja nicht gehen, sondern Auto fahren.“

So, jetzt war aber er an der Reihe: „Wahrlich keine einfache Situation. Dennoch würde ich mir das noch einmal gut überlegen. Oder sind Sie immer so risikofreudig? Normalerweise würde ich jetzt vorschlagen, aber – ...“ Das Verstummen nach „aber“ signalisierte endgültig seine mangelnde Bereitschaft, nach meinen Regeln zu spielen. War es eine Mischung aus vornehmer Zurückhaltung und verletzter Eitelkeit, oder hatte er mich durchschaut? Ich gab mich geschlagen: "Nun, vielleicht sollte ich die Sache tatsächlich noch einmal überdenken. Wenn die Zeit nur nicht so drängen würde. Es gäbe allerdings noch eine andere Möglichkeit. Natürlich ist mir klar, dass mein Vorschlag in ihren Ohren vermessen klingen muss. Ich gebe es nur ungerne zu, aber es könnte sein, dass ich mich zu Beginn unseres Treffens ein wenig kindisch verhalten habe. Aber man lernt ja nie aus. Kurzum, was halten Sie davon, wenn wir die Fahrt zum Flughafen gemeinsam fortsetzen? Sollte sich mein Kreislauf erneut bemerkbar machen, könnten Sie sogar das Steuer übernehmen.“

Falls ihn mein Angebot überrascht haben sollte, ließ er es sich nicht anmerken: „Meinetwegen, wenn Sie dieses unwägbare Risiko allen Ernstes eingehen wollen. Aber ich warne Sie: Ich übernehme keine Haftung für eventuelle Ausbrüche krimineller Natur.“ „Ja, ja, machen Sie sich nur lustig über mich. Vermutlich habe ich es verdient.“

Gut gemacht! Die erste Etappe hatte ich erfolgreich absolviert. Wir zahlten und eilten Richtung Ente. Am Wagen angekommen, überreichte ich ihm mit einer großzügigen Geste den Autoschlüssel. Netterweise nahm er ihn kommentarlos und stieg ein. Nach den ersten Kilometern, die wir schweigend zurücklegten, beschloss ich, den zweiten Schritt in Angriff zu nehmen: Wie brachte ich ihn dazu, rein zufällig unsere Gemeinsamkeit zu entdecken? Unauffällig zog ich die Kette unter dem Pullover hervor. Dann drehte ich mich in seine Richtung, um meine Sprechbereitschaft zu signalisieren und seinen Blick auf meine Vorderseite zu lenken. „Da wir nun schon die letzten Kilometer gemeinsam zurücklegen, sollte ich mich wohl vorstellen. Ich heiße Anna Freitag.“ „Freut mich. Tim Sommermeier.“

Sehr groß schien seine Freude allerdings nicht zu sein. Jedenfalls brachte sie ihn nicht davon ab, wie hypnotisiert geradeaus auf die Straße zu schauen. Vor lauter Nervosität begann ich an dem Anhänger herumzuspielen. „Mein Gott, warum sind Sie denn so nervös? Immer noch Angst, ich könnte jeden Augenblick ...“ Während er zu mir hinüberschaute, blieb ihm das Ende des Satzes im Halse stecken. „Das gibt’s ja gar nicht! Wo haben Sie denn die Trinakria aufgetrieben? Haben Sie nicht erwähnt, Sie führen das erste Mal nach Sizilien?“

Endlich! Es begann spannend zu werden. „Trinakria? Meinen sie den Anhänger? Was hat er mit Sizilien zu tun? Und überhaupt, warum sind Sie so überrascht?“ Ungläubig stellte Tim fest: „Sie scheinen tatsächlich nichts über die Darstellung des Anhängers zu wissen.“ „Nein, das heißt ja, also, das einzige, was ich weiß ist, dass es offensichtlich ein recht seltenes Exemplar ist, über das mir niemand nähere Informationen geben konnte. Um so erstaunter bin ich, das Sie anscheinend mit dem Teil mehr anfangen können als ich.“ "Wieso erstaunt? Ist Ihnen das nahezu identische Motiv auf meinem Seesack nicht aufgefallen. Na ja, ist ja auch egal. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen die Geschichte des Frauenkopfes.“

Meine ungezügelte Neugier mäßigend, erwiderte ich lapidar: „Warum nicht. Es kann ja nicht schaden, zu wissen, was man da um den Hals trägt. Schießen Sie ruhig los.“ "Gerne. Zuvor muss ich Sie aber einfach noch einmal fragen, woher Sie den Anhänger haben?“ „Von meiner Mutter“, antwortete ich bestimmt. „Und sie hat Ihnen nie etwas über seine Bedeutung erzählt?“ Mit einem leicht grollenden Unterton antwortete ich: „Nein!“ „Und Sie haben sie nie gefragt?“ Noch eine Spur schärfer: „Nein! Wollen Sie nun erzählen oder nicht?“

„Schon verstanden. Also: Der Ursprung des Frauenkopfes liegt in Sizilien. Antiken Quellen zufolge hieß die Insel zunächst Trinakria, wörtlich mit „drei Vorgebirge“ zu übersetzen. Das dazugehörende Symbol besteht aus besagtem Frauenkopf. Ein Zeichen für Siziliens Dreiecksgestalt, seine drei alten Provinzen, aber auch Zeichen für das Sonnenrad und die Fruchtbarkeit.“ Später, so erfuhr ich weiter, sei Trinakria nach dem Volk der Sikaner in Sikania umbenannt worden. Schließlich gaben die Sikuler dem Land den endgültigen Namen Sikelia/Sicilia. Heute finde sich der Frauenkopf, ebenso wie das Sonnensymbol, in überlieferten und zeitgenössischen Darstellungen überall auf der Insel wieder.

Diese Informationen musste ich erst einmal verdauen! Sizilien! Was hatte meine Mutter mit der Insel zu tun gehabt? Ob sie dort einst ihren Urlaub verbracht und bei der Gelegenheit das Schmuckstück erworben hatte? Aber irgendwie, ich konnte mir nicht helfen, mutete das Ganze sehr seltsam an. Das war mir alles in allem etwas zu viel Sizilien auf einen Schlag. Erst das Buch, dann der überstürzte Reiseentschluss, Mr. Sizilien nicht zu vergessen, und zur Krönung meine jahrelang unerkannte sizilianische Trinakria!

Leider entging mein leises gemurmeltes „Ich kann es nicht glauben. Das kann doch kein Zufall sein!“ nicht der Aufmerksamkeit meines Chauffeurs. „Also wirklich, sollten Sie jemals eine gute Seite an mir zu entdecken glauben, scheuen Sie sich nur nicht, es zu sagen. Mit meiner bedrohlichen Ausstrahlung habe ich mich abgefunden, aber dass ich jetzt auch noch unglaubwürdig bin – . Und was heißt hier Zufall?“ „Müssen Sie denn immer gleich beleidigt sein? So war das doch gar nicht gemeint. Keine Frage, dass ich Ihnen glaube." Was den Zufall betraf, servierte ich ihm eine kurze Zusammenfassung jener Ereignisse, die mich seinen Weg hatten kreuzen lassen. Natürlich ohne auf die familiären Probleme einzugehen. Ich schien sein Interesse geweckt zu haben. Denn er begann sofort die spärlichen Fakten zu interpretieren, als habe er ein Puzzle vor sich.

„Das ist in der Tat eine seltsame Geschichte! Allein die Tatsache, dass Sie sich jahrelang unwissentlich mit dem Wahrzeichen Siziliens geschmückt haben. Dann das Buch! Ohne den Krimi hätten Sie vermutlich zeitlebens keinen Gedanken an Sizilien verschwendet. Wobei es schon ziemlich erstaunlich ist, dass der Roman diese gefühlsmäßige Auswirkung auf Sie hatte. Es ist ja beinahe so, als habe die Beschreibung der Insel etwas aufgeweckt, das in ihrem Unterbewusstsein verborgen ist.“Letzteres schien mir jedoch arg an den Haaren herbeigezogen zu sein. Immerhin, unter mangelnder Phantasie litt er nicht. Besser, ich stoppte ihn beizeiten in seinem Eifer.

„Jetzt übertreiben Sie aber! Fehlt nur noch, dass Sie mir weismachen wollen, es könne sich hier um eine Art Reinkarnation handeln!“ „Na, na, jetzt übertreiben aber Sie! Mag ja sein, dass meine These etwas weit hergeholt ist. Aber, wie Sie selbst gesagt haben, der Zufall hat auffällig oft seine Finger im Spiel. Für mich hat die Sache eher einen leichten Beigeschmack von Schicksal. Wie auch immer, Sie sollten schleunigst Ihre Mutter zu diesem Thema interviewen. Wenn genug Zeit ist, rufen Sie sie doch einfach vom Flughafen aus an." „Nein, das geht nicht. Absolut unmöglich“, kam meine hastige Antwort. „Oh, tut mir leid. Ist Ihre Mutter tot?“ „Äh, nicht direkt. Zumindest kann man das, ähm, nicht unbedingt sagen.“ Toll! Noch mehr von diesem idiotischen Gestammel, und das Gespräch würde in eine völlig falsche Richtung abdriften.

„Was ich sagen wollte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich von meiner Mutter jemals eine entsprechende Information erhalten habe. Und es besteht kein Anlass anzunehmen, dass sich daran etwas ändern könnte. Sie, verstehen was ich meine?“ Wie sollte er? Ich wusste es ja selber nicht. Seine zögerliche Antwort: „Nun, ich glaube schon. Wie soll ich sagen, Ihr Kontakt zur Familie ist nicht gerade gut!?“ Dankbar stimmte ich zu. „Sie haben ins Schwarze getroffen. Man könnte sagen, zwischen den Parteien besteht eine unüberwindbare Kluft. Um ehrlich zu sein, ich rede nicht besonders gerne über dieses Thema.“ „Aber natürlich. Das verstehe ich sehr gut. Ich habe meinen Vater das letzte Mal mit vier Jahren gesehen. Dafür habe ich allerdings ein sehr inniges Verhältnis zu meiner Mutter.“

Erleichtert griff ich den Themenwechsel auf. „Nicht dass ich neugierig sein will, aber verdanken Sie ihr Wissen über Siziliens Vergangenheit ihrer Mutter?“ „Ja. Ich muss zugeben, dass es nur Wissen aus zweiter Hand ist. Nur deshalb, weil ich zur Hälfte sizilianisches Blut in mir habe. Aber, das ist eine lange Geschichte. Zu lang, denn unser Treffen nähert sich dem Ende. Sehen Sie, dort hinten ist schon der 'Franz Joseph Strauß'-Flughafen.“

Zu meiner großen Überraschung behagte mir dieser Abschluss keineswegs. Zwar hatte ich vermutlich alle wichtigen Informationen erhalten. Insoweit war nichts mehr zu erfahren. Und trotzdem, irgendwie fand ich die Vorstellung schade, dass sich binnen weniger Minuten unsere Wege trennen würden. Immerhin hatte sich mein erster sympathischer Eindruck von ihm bestätigt. Außerdem, nachdem ich nun zumindest ansatzweise Informationen von mir herausgerückt hatte, wäre es nur recht und billig, seine Geschichte zu hören. Und seine zum Teil sizilianische Abstammung gab berechtigten Anlass zu hoffen, sie habe sich auch auf sein Fremdsprachenrepertoire ausgewirkt. Die Vorstellung, bei meiner Ankunft in Catania nicht mutterseelenallein auf dem Flughafen stehen zu müssen, war sehr verführerisch. Ich hatte mir schon wiederholt mit Schrecken ausgemalt, wie ich bei dem Versuch, an meinen Mietwagen zu kommen, kläglich scheitern würde. Zwar konnte ich ein paar Brocken Italienisch, doch der freundliche Herr im Reisebüro hatte meinen Illusionen ein schnelles Ende bereitet. Von ihm erfuhr ich, dass selbst die aus den anderen Regionen des Landes stammenden Italiener auf Sizilien durchaus mit Verständigungsschwierigkeiten zu kämpfen hätten.

Doch nur um mir einen möglichst angenehmen und problemlosen Auftakt meines Urlaubes zu sichern, konnte ich schlecht meinen anvisierten Retter aus sprachlichen Nöten mit der lapidaren Frage schockieren: „Wollen Sie mit mir fliegen?“ Obwohl, die Gefahr mich auf diese Weise bis auf die Knochen zu blamieren, hatte auch eine positive Seite. Ich sah ihn im Geiste schon vor mir – meinen letzten Gedanken vor dem Einschlafen: Wenn mir heute morgen jemand gesagt hätte, dass ich einem wildfremden Menschen Zutritt zu meiner Ente gewähre und ihn anschließend überrede, mit mir nach Sizilien zu fliegen, dann ...

Hatte ich nicht stets davon geträumt, die Hauptrolle in „Geschichten, die das Leben schreibt“ zu übernehmen? Hier war die wahrscheinlich einmalige Gelegenheit! Ein bisschen Einsatz war da wohl kaum zu viel verlangt. Das Flughafengelände rückte in bedrohliche Nähe, als ich eine Entscheidung traf. „Ich weiß gar nicht, wie ich mich für ihren Fahrbereitschaftsdienst bedanken soll. Nicht nur, dass Sie meinen Chauffeur gespielt haben, zum Dank dafür sitzen Sie jetzt erst einmal auf dem Flughafen fest. Gibt es hier eigentlich einen S-Bahn-Anschluss oder wenigstens eine gute Busverbindung? Und wie schaut es überhaupt mit Ihren Plänen aus? Wollen Sie noch einmal Ihr Glück als Anhalter strapazieren?“

„Als erstes muss ich mich voll darauf konzentrieren, die Antworten auf diese Flut von Fragen nicht durcheinanderzubringen. Erstens: Weiß ich nicht. Zweitens: Weiß ich noch nicht genau. Drittens: Wenn ich das wüsste." „Ach“, sagte ich aufgeschlossen, „das ist ja interessant. Und das heißt?“ „Nun, ich schwanke hin und her. Letztlich bleiben zwei Alternativen. Entweder ich gebe meine Urlaubspläne vollständig auf. Oder ich freunde mich langsam mit dem Gedanken an eine Flugreise an.“

Als habe mich seine Ankündigung wie aus heiterem Himmel und völlig unerwartet erreicht, erwiderte ich gelassen: „Irgendein Flug, oder wollen Sie etwa nach Sizilien fliegen?“ „Hätten Sie was dagegen? Ich glaube, es besteht kein Anlass zur Sorge. Es ist kaum damit zu rechnen, dass sich in Ihrer Maschine noch einen Plätzchen findet.“ „Ach, seien Sie nicht so pessimistisch. Beeilen wir uns, man kann nie wissen“, zeigte ich mich von einer gänzlich unbekannten Seite, die auch ihn zu irritieren schien. Jedenfalls war die Reihe nun an ihm, mich mit einem skeptischen Blick zu beehren. Vielleicht lag es ja an den extrem dunklen und unverschämt langen Wimpern, aber an diesen Blick konnte ich mich gewöhnen.

Das GEHEIMNIS der TRINAKRIA

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