Читать книгу Kritik der Ungleichheit - Frederick Neuhouser - Страница 5

Einleitung

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In diesem Buch möchte ich eine kurze, aber gehaltvolle philosophische Einleitung in eine der einflussreichsten Schriften in der Geschichte der europäischen Philosophie liefern, in Jean-Jacques Rousseaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) oder, wie er gemeinhin genannt wird, den Zweiten Diskurs. (Der ›Zweite‹, weil er auf einen früheren folgt, den Diskurs über die Wissenschaften und Künste [1751]. Beide Diskurse wurden in Beantwortung einer Preisfrage eingereicht, die unter der Schirmherrschaft der Akademie von Dijon stand.) Eine Einleitung ist dieses Buch insofern, als es keine nähere Vertrautheit mit der Schrift voraussetzt – gelesen haben sollte man sie freilich! –, und philosophisch ist es, weil es keinen Kommentar im üblichen Sinn des Wortes bereitstellt. Es möchte vielmehr das zentrale Argument des Zweiten Diskurses destillieren und rekonstruieren, eine Aufgabe, die sich als erstaunlich schwierig erweist. Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, fiel an einem Tag, an dem ich zum vielleicht hundertsten Mal die Schrift in einem Proseminar besprach und erkannte, dass weder ich noch meine Studenten Rousseaus Antworten auf die beiden scheinbar klaren Fragen formulieren konnten, die er sich vornimmt: Was ist die Quelle der Ungleichheit unter den Menschen und lässt sie sich rechtfertigen? Die Schrift, so wurde mir deutlich, ist voller glänzender Einsichten und meisterlicher rhetorischer Kunstgriffe. Sie ist allerdings auch ein quälendes Labyrinth, dessen argumentativer Faden nur sehr schwer zu verfolgen ist. Infolge dessen ist der Zweite Diskurs eine der meistgelesenen Schriften im Kanon abendländischer Philosophie, und zugleich ist er der philosophisch am wenigsten verstandene. Das ist beklagenswert und das nicht nur, weil der Zweite Diskurs eine unterschiedliche Gruppe von Philosophen in den späteren Jahrhunderten beeinflusst hat (so Hegel, Marx, Nietzsche, Freud), sondern auch, weil er mit einer stimmigen Argumentation aufwartet, die auf eine Reihe von Fragen, die im Mittelpunkt der heutigen politischen Philosophie und Sozialtheorie stehen sollten, noch stets einflussreiche und gewichtige Antworten anbietet. Wie ich behaupten werde, enthält Rousseaus Schrift ein durchgängiges, umfassendes Argument, das nicht nur darlegen will, wodurch soziale Ungleichheiten verwerflich werden (sofern es der Fall ist), sondern auch, warum Ungleichheit ein so herausragendes und hartnäckiges Merkmal menschlicher Gesellschaften ist.

Ein Grund, warum der Zweite Diskurs sich als so schwierig entpuppt, ist vielleicht der, dass die darin geäußerte Position weitaus verwickelter ist, als seine von Fachbegriffen freie Prosa und die scheinbare Einfachheit seiner Fragen den Leser erwarten lässt. Am Ende gibt Rousseau nämlich erstaunlich vielschichtige Antworten auf seine beiden Leitfragen. Hinsichtlich der ersten erklärt er, Ungleichheit sei weder eine unmittelbare noch eine notwendige Folge der Natur des Menschen (oder der Natur im allgemeineren Sinn), und die grundlegenden Bedingungen des Lebens in einer Gesellschaft mache das Auftreten verderblicher Formen der Ungleichheit – wie auch anderer sozialer Übel – nahezu unvermeidlich. Hinsichtlich der zweiten behauptet er, dass zwar die meisten, wenn auch nicht alle bekannten Formen sozialer Ungleichheit moralisch verwerflich sind, nicht aber an sich von Übel. Dies sind sie lediglich bezogen auf gewisse, von ihnen erzeugte Folgen. Es mag schwerfallen, dies schon bei einer oberflächlichen Lektüre zu erkennen, aber dennoch bietet Rousseau eine Reihe von Kriterien an, um annehmbare von unannehmbaren Formen der Ungleichheit zu unterscheiden, und umgeht so die grob vereinfachende utopische Ansicht, soziale Ungleichheit sei in all ihren Formen zu kritisieren.

Die Bedeutung, die das für uns heute hat, ist kaum zu überschätzen. In den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa hat die soziale Ungleichheit in nahezu allen Teilen der Welt dramatisch zugenommen. (Und was immer die Nutznießer des Kapitalismus uns glauben machen wollen, das Ende des europäischen Kommunismus hat, auch wenn er dadurch nicht vollständig erklärt wird, etwas mit diesem Trend zu tun.) Die am leichtesten auszumachende Form sozialer Ungleichheit ist die ökonomische, und wir verfügen über zahlreiche empirische Belege für die Behauptung, dass nicht nur in den sich entwickelnden Ländern, sondern auch in den reichsten und technisch fortgeschrittensten – ein besonders schockierendes Beispiel dafür sind die USA – die Ungleichheit größer ist, als sie zu jedem anderen Zeitpunkt in der jüngeren Vergangenheit war, und dass die Kluft zwischen Arm und Reich stetig zunimmt, sofern die von ihr Benachteiligten sich politisch nicht massiv dagegen zur Wehr setzen. Statistiken, die dies belegen, sind ohne weiteres zu finden: 2007 besaß ein Prozent der Bevölkerung über ein Drittel des Gesamtvermögens in den USA. Zwischen 2002 und 2007 lagen 65 Prozent des gesamten nationalen Einkommens in den Händen derer, die bereits zu dem einen Prozent der Reichsten gehörten, und 2010 verdiente der durchschnittliche Vorstandsvorsitzende 243 Mal so viel wie der normale Arbeitnehmer.1

Man könnte noch viele Statistiken anführen, um zu zeigen, dass die ökonomische Ungleichheit fast überall auf der Welt katastrophale Ausmaße angenommen hat, doch solche Tatsachen stumpfen schnell unsere Empfänglichkeit für ein Phänomen ab, das so offensichtlich geworden ist, dass praktisch jeder, der Augen hat und über eine minimale Fähigkeit verfügt, die soziale Wirklichkeit wahrzunehmen, darin einen Grund sehen muss, alarmiert zu sein. Im Allgemeinen fällt es nicht in die Domäne der Philosophie, empirische Daten zu erzeugen oder bestimmte ökonomische Trends von der gerade genannten Art zu erklären. Wohl aber kann die Philosophie zu verstehen suchen, warum die Ungleichheit, ganz allgemein, ein so allgegenwärtiges Merkmal der Gesellschaften ist, in denen wir leben, und dann untersuchen, wann – und warum – soziale Ungleichheiten moralisch verwerflich sind und zu einem berechtigten Gegenstand der Gesellschaftskritik werden. Genau das unternimmt Rousseau im Zweiten Diskurs, und dieses Buch will zeigen, dass seine Antworten auf die beiden Fragenkomplexe noch heute überzeugend sind. Keine zeitgenössische Behandlung der Ungleichheit kann es sich meiner Meinung nach leisten, die Erklärung und Kritik eben dieses Phänomens zu übergehen, wie Rousseau sie vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten geleistet hat. Obgleich das soziale Leben im Westen sich seitdem in vielerlei Hinsicht verändert hat, trifft das nicht auf alles zu, und wir würden uns törichterweise der Vorzüge unseres reichen philosophischen Erbes berauben, wenn wir uns auf den für uns schmeichelhaften Standpunkt stellten, unsere Vorfahren könnten uns nichts über die Probleme lehren, mit denen sich heutige Gesellschaften herumschlagen müssen.

Rousseaus Zweiter Diskurs handelt, wie schon sein Titel sagt, vom Ursprung und von den Grundlagen der menschlichen Ungleichheit – wobei, wie unten deutlich werden wird, sich der letzte Ausdruck auf den normativen Rang der Ungleichheit bezieht. Die doppelte Stoßrichtung der Rousseau’schen Schrift kommt in den beiden von der Akademie zu Dijon aufgeworfenen Fragen zum Ausdruck. Das Thema des ausgeschriebenen Wettbewerbs, für den der Zweite Diskurs verfasst wurde, lautete nämlich: Was ist der Ursprung der menschlichen Ungleichheit und ist sie vom natürlichen Gesetz autorisiert bzw. hat sie ihre Grundlagen in diesem? (DU, 65 / OC III, 129).2

Die Annahme, unser erster Zugriff auf die Bedeutung dieser Fragen ziele bereits ins Schwarze von Rousseaus Auffassung, ist das größte Hindernis, um das Argument des Zweiten Diskurses zu verstehen. Tatsächlich stellen sich seine beiden Hauptideen – jene über den »Ursprung« und darüber, was »vom natürlichen Gesetz autorisiert ist« – als sehr viel vertrackter und eigenwilliger heraus, als es auf den ersten Blick scheinen mag, und daher wird ein Großteil der auf den folgenden Seiten unternommenen Interpretationsarbeit aufzuspüren suchen, wie diese Ideen im Zweiten Diskurs aufzufassen sind.

Freilich sind viele Leser, auch ohne in die Interpretationsarbeit eingestiegen zu sein, in der Lage, einen Eindruck von einem der philosophisch höchst erstaunlichen Aspekte des Zweiten Diskurses zu gewinnen: seiner nicht weiter erklärten Voraussetzung, dass diese beiden Untersuchungen eng miteinander verbunden sind – das heißt, die anscheinend deskriptiven oder erklärenden Behauptungen über den Ursprung der Ungleichheit hängen mit den eindeutig normativen Behauptungen über die Legitimität und Rechtfertigung von Gleichheit zusammen (damit, ob sie vom natürlichen Gesetz »autorisiert« ist oder ihre »Grundlagen« darin hat). Für den zeitgenössischen Leser kann die Verbindung dieser zwei Fragen nur auf einer fatalen Vermischung von normativen und nichtnormativen Sachverhalten zu beruhen scheinen: Warum sollte eine Aussage über die Herkunft von etwas darüber befinden, ob es in irgendeiner Weise gut, moralisch erlaubt oder wertvoll ist? Sowohl die Philosophie als auch der gesunde Menschenverstand bestehen normalerweise auf der logischen Unabhängigkeit dieser Fragen, so dass zum Beispiel die (faktische) Frage, unter welchen historischen Umständen das Wahlmännerkollegium in den USA eingesetzt worden ist, weitgehend irrelevant für die (normative) Frage ist, ob wir es heute für ein gutes Verfahren zur Wahl des US-Präsidenten halten und darin eine Institution sehen, an der sich festzuhalten lohnt. Aus diesem Grund muss eine Rekonstruktion des Zweiten Diskurses es zu einer Hauptsache machen, kohärent zu erklären, warum diese Fragen so miteinander verbunden sind, wie Rousseau es anscheinend glaubt. Ein Kriterium für den Erfolg einer solchen Rekonstruktion muss dann sein, ob der Sinn, den sie den beiden Hauptfragen des Zweiten Diskurses verleiht, deren angebliches Miteinanderverbundensein verständlich werden lässt.

Oder, um es etwas anders zu formulieren: Nach Rousseaus Auffassung liefert der Zweite Diskurs eine Art Genealogie der menschlichen Ungleichheit, die unauflöslich mit dem Projekt der Bewertung – oder genauer der Kritik – eben jenes Phänomens verbunden ist, dessen Ursprünge seine Genealogie sich zu erhellen unterfängt.3 In dieser Hinsicht lässt sich der Zweite Diskurs als Gründungsschrift einer langen Tradition in der neuzeitlichen europäischen Philosophie betrachten, die eine Spielart des Projekts Genealogie für wesentlich hält, um den Gegenstand der genealogischen Untersuchung normativ zu bewerten. Um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen: Auf den Einleitungsseiten der Genealogie der Moral umreißt Nietzsche die Aufgabe, die er sich gesetzt hat, mit zwei Fragen, deren Ähnlichkeit zu den Rousseau’schen unverkennbar ist: »[U]nter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturtheile gut und böse? und welchen Werth haben sie selbst4 Rousseau hat, wie sich zeigen wird, seine eigene spezifische Auffassung davon, was es heißt, eine Genealogie für etwas so zu liefern, dass die Aufdeckung von dessen Ursprüngen für die Beurteilung seines Werts wesentlich ist. Auch wenn Rousseaus Vorstellung davon, was es bedeutet, nach den Ursprüngen eines sozialen Phänomens, etwa der Ungleichheit unter den Menschen, zu suchen – als etwas, was von rein natürlichen Dingen oder Vorgängen verschieden ist –, sich substantiell von solchen der auf ihn folgenden philosophischen Genealogen unterscheidet, ist es von größter Wichtigkeit herauszufinden, wie Rousseau die beiden zentralen Fragen des Zweiten Diskurses verknüpft, und das nicht nur, um seine eigenen, in sich wertvollen Ansichten über die Rechtmäßigkeit von Ungleichheit zu begreifen, sondern auch um zu verstehen, wie spätere Philosophen ähnlich konzipierte Genealogien in Angriff genommen haben. Diese beiden Fragen zu beantworten und zu formulieren, was sie verbindet, ist daher die oberste Aufgabe, die ich auf den folgenden Seiten angehen möchte.

Sobald man feststellt, dass die Suche nach dem Ursprung von Gleichheit für Rousseau auf die Frage hinausläuft, ob die Ungleichheit der Natur entspringt, haben wir einen Schritt hin zu dem Verständnis gemacht, wie diese beiden Fragen verknüpft sind. Diese Erkenntnis hilft uns, dem Doppelcharakter des Projekts im Zweiten Diskurs einen ersten Sinn zu verleihen, denn Natur hat, sogar für uns, häufig eine normative Konnotation. Wenn wir etwa sagen: »Es ist natürlich, dass Menschen sich mehr um ihr eigenes Wohlergehen als um das ihnen Fernstehender kümmern«, wollen wir typischerweise nicht nur eine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Menschen (wie sie aufgrund ihrer Natur sind) treffen, sondern ein solches Verhalten, und sei es nur implizit, auch als gerechtfertigt oder annehmbar billigen, eben weil es »natürlich« ist und weil wir übermäßig anspruchsvolle Forderungen an die Menschen richteten, würden wir, wo sie doch von Natur aus diese Art von Geschöpfen sind, ein anderes Verhalten von ihnen erwarten. Zu sagen: »Es ist für Menschen natürlich, sich am meisten um ihr eigenes Wohlergehen zu kümmern«, schließt normalerweise die Aussage ein: »Dass sie es tun, ist (größtenteils) okay, gerechtfertigt, vollkommen in Ordnung«. Wir sollten zudem daran denken, dass diese Neigung, ›Natur‹ und ›natürlich‹ mit normativer Bedeutung aufzuladen, für Rousseau und seine Zeitgenossen noch stärker war, als sie es für uns ist. Als beispielsweise Locke die Naturgesetze formulierte, legte er ihnen genau die oben erwähnte Doppelbedeutung bei: Sie beschreiben, wie Menschen zu handeln geneigt sind (und im Allgemeinen handeln), und gleichzeitig billigen sie dieses ›natürliche‹ Verhalten als gut.5 Ähnlich ist Adam Smiths These, die »kommerzielle Gesellschaft« (der Kapitalismus) sei natürlich, logisch untrennbar von seinem Urteil, sie sei, angesichts ihrer Natur, ein geeignetes Wirtschaftssystem für die Menschen.6 Selbstverständlich erklärt oder rechtfertigt die bloße Nennung dieser Beispiele noch nicht die in ihnen enthaltene Mischung von deskriptiven (oder erklärenden) und normativen Elementen – zu Rousseaus Verwendung von ›Natur‹ bleibt auf den folgenden Seiten noch sehr viel zu sagen –, doch könnte es helfen, die anfängliche Irritation zu verringern, die sich aus der angenommenen Verbindung der beiden Hauptfragen des Zweiten Diskurses unweigerlich ergibt.

Wie ich oben angedeutet habe, ist ›Natur‹ nicht der einzige zentrale Begriff im Zweiten Diskurses, welcher der Klärung bedarf. ›Ursprung‹ ist ebenfalls ein potentiell irreführender Ausdruck, und zu verstehen, was Rousseau bezweckt, wenn er den Ursprung von Ungleichheit untersucht, ist wesentlich für die Einschätzung der Kraft und Relevanz seines Arguments. Das landläufigste Missverständnis wird durch Rousseaus eigene Beschreibung seiner Schrift als Genealogie befeuert, so wie auch durch das von mir oben angeführte Beispiel – das Wahlmännerkollegium in den USA. Ich wollte damit den Blick auf den irritierenden Charakter der angenommenen Verbindung zwischen den erklärenden und normativen Anstrengungen des Zweiten Diskurses lenken. Wenn wir normalerweise eine Genealogie erstellen, um den Ursprung von etwas zu erklären, glauben wir damit, eine kausale, historische Erklärung für eine Abfolge realer Ereignisse zu liefern, die zur ›Geburt‹ – zur Entstehung – des fraglichen Phänomens geführt haben. Das ist jedoch nicht das, worauf Rousseau abzielt, wenn er den Ursprung menschlicher Ungleichheit untersucht – auch wenn er manchmal so redet, als würde er es tun (DU, 81, 236 ff., OC III, 133, 191 f.). Was manch einen Leser verständlicherweise verwirrt. Vor allem aber fragt er nicht danach, wie ein einzelnes Phänomen (zum Beispiel das Wahlmännerkollegium in den USA) an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit (in Philadelphia 1787) entstanden ist. Stattdessen geht seine Untersuchung von einer allgemeinen Beobachtung über die Allgegenwärtigkeit von Ungleichheit in verschiedenen menschlichen Gesellschaften aus – von denen er entweder aufgrund eigener Erfahrung wusste oder aus den Berichten von Reisenden, den Darstellungen der Historiker usw. – und fragt dann weiter nicht danach, wie es tatsächlich zur Ungleichheit gekommen ist, sondern, warum sie, sobald sie einmal existiert, so beharrlich und so verbreitet ist. Mit anderen Worten lässt sich die Frage, die Rousseaus Untersuchung über den Ursprung der Ungleichheit zugrunde liegt, wie folgt formulieren: Was erklärt die erstaunliche Tatsache, dass nahezu alle uns bekannten menschlichen Gesellschaften sich durch erhebliche Ungleichheiten hinsichtlich des Reichtums, der Macht und des Ansehens ihrer Mitglieder auszeichnen? Welche Kräfte müssen – nicht nur zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, sondern allgemeiner – am Werk sein, wenn Ungleichheit so verbreitet ist, dass sie ein dauerhaftes Merkmal der conditio humana zu sein scheint?7 In den folgenden Kapiteln wird noch viel über die Art von genealogischer Erklärung zu reden sein, die der Zweite Diskurs zu konstruieren sich anschickt. Im Augenblick genügt es festzuhalten, dass er nicht bezweckt, den Ursprung der Ungleichheit in einem streng historischen Sinn des Wortes zu erklären. Wie wir unten sehen werden, muss die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit nicht als die Suche danach interpretiert werden, wie dieser oder jener besondere Fall von Ungleichheit faktisch zustande gekommen ist.

Das Doppelprojekt des Zweiten Diskurses mutet uns vielleicht weniger merkwürdig an, wenn wir darin eine Reaktion auf die klassische griechische Behandlung des Ursprungs und der Grundlagen sozialer Ungleichheiten sehen. Sowohl Platon als auch Aristoteles zum Beispiel werfen Varianten derselben zwei Fragen auf und beantworten sie mit der Behauptung, es gebe ein Fundament der menschlichen Ungleichheit in der Natur. Da die Natur Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten ausstatte – Unterschiede, die eine natürliche Rangfolge unter den Menschen bewirken–, komme sie als Quelle oder Ursprung der Ungleichheit in Frage. Diese natürliche Ungleichheit sei zudem die Grundlage der sozialen Ungleichheit. Sie erkläre, warum Ungleichheiten in der Welt herrschen, und ganz allgemein, wer welche Position besetzen solle. In dem Maße, wie sie natürliche Ungleichheiten spiegeln, sind faktische soziale Ungleichheiten gerechtfertigt – von der Natur autorisiert. Für Aristoteles gibt es ebenso Herren und Sklaven von Natur aus, wie es natürliche, Ungleichheit rechtfertigende Unterschiede zwischen Griechen und Barbaren gibt. Platon unterscheidet drei Arten von Seelen, die den drei Metallen Gold, Silber und Bronze entsprechen. Solch natürliche Unterschiede rechtfertigen nach Ansicht von Aristoteles viele bestehende Ungleichheiten; in Platons Augen belegen sie die Unnatürlichkeit bestehender politischer Ordnungen und begründen die Notwendigkeit radikaler politischer Reformen, wenn die Gesellschaft so sein soll, wie Vernunft – und Natur – es fordern. Die Unterschiede als ›natürlich‹ zu bezeichnen, beinhaltet für beide, dass sie nicht Menschenwerk und daher unabänderlich sind; nichts Menschliches könnte oder sollte daran etwas ändern wollen.

Von einem modernen Blickwinkel aus ist es interessant, dass die Unterschiede, die für Platon und Aristoteles Ungleichheit rechtfertigen, von ihren Nutznießern nicht verdient sind. Sie spiegeln die natürlichen Vorzüge von Individuen und sind von ihren Besitzern nicht erworben worden. Viele zeitgenössische Philosophen – die sogenannten ›luck egalitarians‹ – verbeißen sich in die Vorstellung, dass Ungleichheiten nur dann zu rechtfertigen sind, wenn die Bessergestellten verdient haben, was sie besitzen, wobei unter ›verdienten Vorzügen‹ normalerweise solche verstanden werden, die von den eigenen (metaphysisch) freien Handlungen abhängen, und nicht davon, was der glückliche Zufall ihnen in den Schoß gelegt hat: etwa reiche Eltern oder gute Gene.8 (Rousseau teilt, wie wir sehen werden, diese Auffassung nicht.) Nicht weniger interessant ist der Umstand, dass sich gerechtfertigte Ungleichheiten bezüglich Macht, Autorität oder Ansehen für diese antiken Denker nicht notwendigerweise in gerechtfertigte Ungleichheiten bezüglich materieller Güter überführen lassen. Ganz offensichtlich ist das bei Platon, denn er schränkt das Streben nach Reichtum auf die unterste Klasse in der natürlichen Rangordnung der Seelen ein. Heute ist es nahezu unmöglich, sich vorzustellen, die Vorteile, die mit mehr Macht oder höherem Ansehen einhergehen, ließen sich von großem Reichtum trennen, und Rousseau greift in einer Zeit zur Feder, wo sich dies auch für seine Welt zu bewahrheiten beginnt (DU, 183 f. / OC III, 189).

Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen der antiken und der neuzeitlichen Welt zählt, dass diese die Auffassung, man könne sich auf die Natur berufen, um soziale Ungleichheiten zu rechtfertigen, verwirft, eine Haltung, die normalerweise damit zusammenfällt, vom Standpunkt der Moral aus die fundamentale Gleichheit aller Menschen zu bekräftigen. Worin diese fundamentale Gleichheit freilich besteht und was sie für die Sozialphilosophie beinhaltet, das sind knifflige Fragen, auf die neuzeitliche Philosophen unterschiedliche Antworten bereithalten. Wie auch immer die Frage beantwortet wird, die fundamentale moralische Gleichheit aller Menschen zu behaupten wirft ein großes Problem auf, vor dem die Alten mit ihrer Antwort auf den Ursprung der Ungleichheit nicht gestanden haben: Wie ist soziale Ungleichheit, ein offenbar dauerhaftes Merkmal moderner Gesellschaften, zu rechtfertigen, wenn sie nicht darauf zurückzuführen ist, wie die Natur – oder Gott – die Welt eingerichtet hat, und es stattdessen die Prima-Facie-Annahme gibt, kein Individuum könne beanspruchen, von der Gesellschaft besser als ein anderes behandelt zu werden? Beinhaltet die Bejahung der moralischen Gleichheit aller Menschen, dass allein eine Gesellschaft ohne Ungleichheiten zu rechtfertigen ist? Und wenn dem so ist, folgt dann daraus, dass moderne Gesellschaften hoffnungslos verdorben sind?

Es lohnt sich zu betrachten, wie der ›gesunde Menschenverstand‹ von heute diese Fragen zu beantworten geneigt ist. Fragt man ihn danach, was die Allgegenwart von Ungleichheit in menschlichen Gesellschaften erklärt, wird ›der Mann [oder die Frau] auf der Straße‹ vermutlich die eine oder andere Version der Behauptung anführen, Ungleichheit sei eine mehr oder weniger notwendige Folge der grundlegenden Bedürfnisse und Triebe, die das menschliche Verhalten überall und seit jeher motivieren, was in Verbindung mit gewissen gleichbleibenden Eigenschaften der conditio humana ›von Natur aus‹ dahin tendiert, eine große Bandbreite von Ungleichheiten hervorzubringen. Einige, die diese Auffassung vertreten, werden Ungleichheiten einfach einem angeborenen Konkurrenzdrang zuschreiben – einem Trieb, sich gegenüber anderen einen Vorteil zu verschaffen, einfach nur um sich selbst als überlegen zu erfahren und sich damit auch anderen um uns herum als überlegen zu betrachten. Nach dieser Ansicht ist Ungleichheit deshalb ein herausstechendes Merkmal menschlicher Gesellschaften, weil sich anderen als überlegen zu erweisen einen allgemeinen und grundlegenden Trieb der menschlichen Natur befriedigt, und damit würde diese Antwort als eine Version der Auffassung gelten, dass Ungleichheit – um Rousseaus Worte zu verwenden – ihren Ursprung in der Natur hat. (Selbstredend unterscheidet sich diese Berufung auf die Natur – auf den Konkurrenztrieb der menschlichen Natur – immer noch grundlegend von der antiken Auffassung.) Vielleicht würde man häufiger zur Antwort bekommen: Der Wunsch, Überlegenheit um ihrer selbst willen zu erreichen, sei zwar keineswegs selten, aber er sei weder allgemein, noch wohne er der Natur des Menschen inne, und daher kann dies nicht die grundlegendste Erklärung der weitverbreiteten Ungleichheit sein, die wir um uns herum erleben. Tatsächlich – so diese zweite Antwort – ist die weitverbreitete Ungleichheit hauptsächlich die unbeabsichtigte, aber unvermeidliche Folge einer Verknüpfung mehrerer Faktoren, von denen alle mehr oder weniger dauerhafte Merkmale der conditio humana bilden: eine ungleiche Verteilung natürlicher Begabungen, der allgemeine Wunsch, so weit wie möglich das eigene Wohl zu fördern, und Güterknappheit. Individuen, die ausgestattet mit ungleichen Begabungen daran gehen, ihr Wohlergehen zu maximieren, werden unweigerlich in Positionen enden, in denen sie anderen entweder überlegen oder unterlegen sind, und das selbst dann, wenn ihr Bestreben im Grund nicht darauf abzielt, ihre Mitmenschen zu übertreffen, sondern bloß darauf, das Bestmögliche für sich selbst zu erreichen. Zudem liefert die Güterknappheit solchen Individuen einen Anreiz, tatsächlich ihre Mitmenschen in den Schatten zu stellen, nicht weil es sie an sich nach Überlegenheit verlangt, sondern weil Überlegenheit, unter der Bedingung von Knappheit, oft das einzige Mittel ist, überhaupt das zu bekommen, was man sich zuallererst wünscht (das eigene, nicht im Vergleich zu anderen betrachtete Niveau an Wohlbefinden zu erhöhen).

So gesehen würde die zweite Antwort den Ursprung der Ungleichheit ebenfalls in der Natur, so wie Rousseau diesen Begriff versteht, verorten. Die Mehrzahl derer, die diesen Weg einschlagen, werden jedoch vermutlich noch einen Schritt weiter gehen – nämlich in Richtung auf den ›luck egalitarianism‹ – und noch ein weiteres, nicht-natürliches Element einführen, um zu erklären, warum einige Individuen ihre natürlichen Gaben mehr als andere entwickeln und ausüben. Dieses zusätzliche Element ist die individuelle ›Anstrengung‹, die für gewöhnlich als eine Wirkung des freien Willens der Individuen begriffen wird, und aus diesem Grund geht das neue Element in der Erklärung von Ungleichheit über den Bereich des rein Natürlichen hinaus. (In den folgenden Kapiteln wird deutlich werden, dass Rousseau diese scharfe Trennung zwischen natürlichen Phänomenen und solchen, die vom freien Willen abhängen, anerkennt, ohne sich aber dabei auf das Verdienst als Quelle legitimer Ungleichheiten zu beziehen.) Nach dieser höchst differenzierten Ansicht des gesundes Menschenverstands ist die Allgegenwart sozialer Ungleichheit weitgehend natürlichen, der menschlichen Kontrolle sich entziehenden Faktoren geschuldet – ungleichen Begabungen, natürlichem Eigeninteresse und Güterknappheit –, wo aber genau einzelne Individuen sich am Ende im bestehenden System von Ungleichheit wiederfinden und wie groß die Disparitäten ausfallen, das hängt auch davon ab, was Individuen mit ihren natürlichen Gaben anfangen, wobei ihr Handeln das Ergebnis ihrer freien Wahl ist und damit nicht bloß eine natürliche Ursache der Ungleichheit.

Man sieht leicht, wie diese Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit, vor allem durch ihre Einführung der Freiheit, so ausgelegt werden kann, dass sie Folgen für das zweite Hauptanliegen des Zweiten Diskurses hat: ob und, wenn ja, bis zu welchem Grad ist Ungleichheit gerechtfertigt. Insofern von der Ungleichheit geglaubt wird, sie habe ihren Ursprung ganz und gar in natürlichen Faktoren – in einer Verbindung von angeborenem Konkurrenzverhalten, natürlichem Eigeninteresse, ungleichen Begabungen und Güterknappheit –, scheinen die meisten (obgleich nicht notwendig alle) der beträchtlichen, für moderne Gesellschaften charakteristischen Ungleichheiten nur dann vermeidbar oder auflösbar zu sein, wenn extreme Maßnahmen ergriffen werden, Maßnahmen, die der Natur unweigerlich Zwang antun. (So gesehen scheint beispielsweise das sozialistische Ziel der Aufhebung aller ökonomischen Klassenunterschiede utopisch zu sein, die Natur zu unterdrücken und ihr zuwiderzulaufen.) Individuelle Anstrengung ins Spiel zu bringen kann jedoch auch dazu dienen, bestehende Ungleichheiten zu rechtfertigen: Welchen Platz wir am Ende in der sozialen Hierarchie einnehmen, hängt auch von der Ausübung unserer Freiheit ab, und daher werden einige Vorteile als verdient oder rechtmäßig erworben erscheinen und folglich als legitim. (Im 4. Kapitel werde ich zeigen, dass Rousseaus Kritik der sozialen Ungleichheiten nichts mit der These zu tun hat, bessergestellte Mitglieder der Gesellschaft verdienten ihre vorteilhafte Stellung nicht.) Um festzustellen, welche Ungleichheiten gerechtfertigt sind, muss man sich nicht auf die hoffnungslose – und moralistische – Aufgabe einlassen herauszufinden, welches Individuum was verdient.

Es sieht so aus, als erwarte Rousseau von seinen Lesern, an den Zweiten Diskurs mit der stillschweigenden oder ausdrücklichen Befürwortung einer Variante dieser Commonsense-Auffassung heranzutreten, nach der die allgegenwärtige Ungleichheit grundlegend für die Beschaffenheit des Menschen ist – ein notwendiges Ergebnis sowohl der menschlichen als auch der allgemeineren Natur – und die die meisten bestehenden Ungleichheiten als legitim oder zumindest als moralisch nicht verwerflich betrachtet. Wenn dem so ist, bezweckt Rousseau, seine Leser von der weitgehenden Falschheit dieser Commonsense-Auffassung zu überzeugen. Stattdessen wird er behaupten, Ungleichheit entspringe nicht der Natur– oder, um es genauer zu sagen, der Beitrag der Natur zur Ungleichheit sei so gering, dass man ihn ruhig vernachlässigen dürfe. Das bedeutet für Rousseau, die weitverbreitete Ungleichheit ist keine notwendige, unabänderliche Eigenschaft menschlicher Gesellschaft und lässt sich daher nicht bloß durch die Berufung auf die Beschaffenheit der Menschen und der Welt rechtfertigen, womit auch die Implikation hinfällig ist, jeder Versuch, die Ungleichheit abzuschaffen oder zu verringern, stelle eine Vergewaltigung der Natur dar. Die Behauptung, Ungleichheit entspringe nicht der Natur, beinhaltet zudem, dass sie stattdessen – auf eine noch zu erklärende, verwickelte Weise – der menschlichen Freiheit entstammt, die sich von der Natur dadurch unterscheidet, dass sie eine unberechenbare Quelle des Neuen und Zufälligen ist. Wenn aber, so Rousseaus Überlegung, die Ungleichheit tatsächlich ein zufälliges Phänomen ist, das durch den Menschen in die Welt kommt – wenn ihr dauerhaftes Vorliegen auf uns zurückgeht (in unsere Verantwortung fällt) –, dann wächst der Frage, ob es sie geben sollte (ob sie gut oder zu rechtfertigen ist), eine neue Bedeutung oder Brisanz zu, die sie nicht hat, wenn sich am Ende sehr wenig machen lässt, um daran etwas zu ändern. Anders gesagt: Zu begründen, dass Ungleichheit nicht den Rang des Natürlichen hat, läuft für Rousseau darauf hinaus, sie aus dem Bereich dessen, was ist – was notwendig ist und was daher lediglich akzeptiert werden muss –, in den Bereich des Normativen zu rücken, wo sie ein möglicher Gegenstand der Bewertung und Kritik wird. Zugleich ist unbedingt festzuhalten, dass sich die normative Frage nach Rousseaus Ansicht nicht von selbst beantwortet, indem die Ungleichheit einfach als von Menschen gemacht betrachtet wird. Beispielsweise ist damit nicht gesagt, dass Menschen, als Urheber der sozialen Hierarchie, ihre Stellung darin verdienen, und ebenso wenig beinhaltet die bloße Künstlichkeit der Ungleichheit – der Umstand, dass sie Ergebnis menschlicher Tätigkeit ist – schon ihre Unrechtmäßigkeit. Wie wir unten ausführlicher sehen werden, fällt Rousseaus Antwort auf die normative Frage unerwartet subtil aus und verwirft nicht alle kontingenten und künstlichen Ungleichheiten in Bausch und Bogen als unrechtmäßig. Letztlich entspringt seine Antwort einer weitreichenden Vorstellung davon, was für die sozialen Einrichtungen gezeigt werden muss, um ihre Rechtmäßigkeit oder moralische Fundierung zu begründen, einer Vorstellung, die ihre normativen Kriterien nicht bei der reinen Natur sucht, sondern in der Freiheit – wenngleich nicht im Verdienst.

Meine Darlegung des Rousseau’schen Gedankengangs im Zweiten Diskurs wird folgendermaßen aufgebaut sein: Im 1. Kapitel rekonstruiere ich Rousseaus negative These, dass Ungleichheit – bzw. die ihn am meisten interessierende Art von Ungleichheit – ihre Quelle nicht in der Natur hat, weder in der Natur des Menschen noch in den natürlichen Bedingungen menschlicher Existenz. Im 2. Kapitel untersuche ich Rousseaus komplexe positive Antwort auf die Frage, woher die Ungleichheit stammt: Sie hat ihren Ursprung hauptsächlich in einer charakteristisch menschlichen, wenngleich ›künstlichen‹ Leidenschaft, wie auch in gewissen sehr üblichen, aber dennoch kontingenten sozialen Umständen, für deren Entstehen die Menschen verantwortlich sind. Das 3. Kapitel geht daran, Rousseaus Antwort auf die normative Frage bezüglich der menschlichen Ungleichheit zu formulieren. Es wird dort gezeigt, dass Rousseau zwar eine einfache Antwort auf die Frage hat, ob ein Großteil der uns wohlbekannten Ungleichheit vom Naturgesetz autorisiert ist – das ist nicht der Fall –, dass aber diese negative Antwort seine Haltung zur Legimitität der Ungleichheit nicht erschöpft. Stattdessen gibt er uns Mittel an die Hand, um einen anderen Typ von Legitimität zu konzipieren, der in der Zustimmung gründet – allerdings auch in einem sehr sorgfältig zu explizierenden Sinn von ›Natur‹. Im 4. Kapitel wird dargelegt, wie sich gestützt auf die in den ersten drei Kapiteln entwickelten Positionen eine alternative Auffassung von Recht – Recht innerhalb der Gesellschaft anstelle des Naturgesetzes – entwerfen lässt und wie diese Auffassung auf eine bestimmte, ganz besonders zeitgemäße Frage bezüglich der Grenzen einer legitimen ökonomischen Ungleichheit anwendbar ist. (Das Kapitel schließt mit einer methodischen, oben bereits aufgeworfenen Frage: Wie geht Rousseaus Genealogie im Einzelnen vor, um sowohl die normativen Fragen als auch jene des Erklärungsmodells zu beantworten, die den Anlass für die Abfassung des Zweiten Diskurses geboten haben.) Schließlich verfolgte Rousseau mit dem Zweiten Diskurs die klare Absicht, uns dabei zu helfen, »den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können« (DU, 67 / OC III, 123), und indem wir betrachten, welchen Gewinn die zeitgenössische politische Philosophie aus den Einsichten des Zweiten Diskurses ziehen könnte, soll im 5. Kapitel gezeigt werden, dass er auch heute noch relevant ist.

Bereits an dieser Stelle sei bemerkt, dass das vorliegende Buch mit diesem Konzept keine vollständige Interpretation des Zweiten Diskurses wird vorlegen können. Möglicherweise kann kein Buch das glaubhaft für sich beanspruchen, ganz sicherlich aber nicht dieses. Der Zweite Diskurs ist viel zu reichhaltig, als dass man alles darin Wertvolle mit einem Ansatz wie dem meinigen zu fassen bekommt, der sich darauf beschränkt, die beiden Fragen zu beantworten, die ausdrücklich als sein Gegenstand benannt werden. Dass ich mich ausschließlich auf das Thema der Ungleichheit konzentriere, obschon es zweifellos das zentrale Anliegen des Zweiten Diskurses ist, wird notwendig viele wichtige Gedanken außer Acht lassen, für welche die Schrift zu Recht berühmt ist. Meine Interpretation sollte daher von anderen ergänzt werden, die beispielsweise den Themen Entfremdung, Sozialpathologie, Übel des Privateigentums oder den Mängeln liberalen Denkens und liberaler Gesellschaften mehr Aufmerksamkeit schenken. Doch auch wenn man sich nur auf die vom Zweiten Diskurs »offiziell« aufgeworfenen Fragen konzentriert, lässt sich dies mit großem Gewinn tun – jedenfalls hoffe ich, den Beweis dafür hier anzutreten.

Obgleich ich versucht habe, mein Augenmerk nur auf eine der Hauptschriften Rousseaus, den Zweiten Diskurs, zu richten, hat es sich als notwendig erwiesen, auch die Gedanken anderer Schriften aufzunehmen, um das Hauptargument des Zweiten Diskurses zu rekonstruieren. Meiner Ansicht nach ist dies kein Manko meiner Interpretation, sondern ein Zeugnis für die wesentliche Einheit des philosophischen œuvres Rousseaus. Dass die beiden Schriften, die ich am ausgiebigsten mit herangezogen habe, der Gesellschaftsvertrag und der Emile sind, erstaunt wohl nicht: Der Gesellschaftsvertrag wegen seiner Vorstellung über die Grundlagen des Rechts innerhalb der politischen Gesellschaft und der Emile vor allem wegen seiner Behandlung der menschlichen Natur.

Mehr als einmal haben die Hörer oder die Leser von Teilen dieses Buches bemerkt und mitunter kritisch, dass meine Lesart von Rousseau zu hegelianisch oder kantianisch ist. Richtig daran ist, dass der von mir hier dargestellte Rousseau in hohem Maße zur deutschen Tradition der politischen und der Gesellschaftsphilosophie im 18. und 19. Jahrhundert gehört – ja er ist tatsächlich ihr Begründer! –, doch halte ich dies eher für eine Stärke als für eine Schwäche meiner Interpretation. Für eine Stärke halte ich es aus zwei Gründen: Erstens ist die Behauptung, Rousseau sei der Urheber dieser großen deutschen Tradition (Rousseaus Einfluss auf Kant, Fichte, Hegel, Marx und sogar Nietzsche ist überall spürbar und geht in die Tiefe), nicht allein historisch richtig, sie steckt uns auch manch ein Licht auf, und zweitens sind die überzeugendsten philosophischen Positionen, die sich Rousseau zuschreiben lassen, diejenigen, die zutage treten, wenn man seine Schriften mit Blick drauf liest, wie seine deutschen Nachfolger sich seine Ideen angeeignet und weiterentwickelt haben – ohne, hoffentlich, dass Rousseau dadurch von ihnen ununterscheidbar würde. Ich bin mir bewusst, dass zumindest die zweite These umstritten ist und dass viele Leser des Zweiten Diskurses und dieses Buches ihr nicht zustimmen werden. Einige werden sagen – und haben gesagt –, meine Interpretation Rousseaus sei historisch falsch, weil sie nicht nur die vielen nicht-deutschen Einflüsse auf sein Denken ignoriert oder unterschätzt – zum Beispiel die Platons, der Stoiker, Machiavellis und Montesquieus, sondern auch die historische Besonderheit der Probleme, auf die er in seinen gesellschaftlichen und politischen Gedanken eine Antwort sucht. Andere werden ohne Zweifel behaupten, Hegel und Kant hätten durch ihre Aneignung der Rousseau’schen Ideen diesen ihre Brillanz und Originalität geraubt und zudem ihren wahren Schatz verdunkelt, indem sie sie einer philosophischen Einstellung anbequemen, die großen Wert auf Systematik und logische Kohärenz legt. Diese Bedenken über das Fazit meines Buches verdienen eine nähere Betrachtung: Zweifelsohne enthalten sie ein Körnchen Wahrheit. Statt direkt auf diese Kritik einzugehen, werde ich jedoch in den folgenden Kapiteln meine Lesart von Rousseau, mehr oder weniger für sich genommen, anbieten und meinen Lesern die Entscheidung überlassen, ob meine Art, den Zweiten Diskurs zu lesen, erhellend, entstellend oder – vielleicht notwendigerweise – eine Mischung aus beidem ist.

Ein weiteres Merkmal meiner Rekonstruktion des Zweiten Diskurses ist unbedingt noch zu nennen. Die von Philosophen, Politikwissenschaftlern und Literaturkritikern verfasste Sekundärliteratur zu Rousseau ist hochgradig vielfältig, unübersehbar groß und meistenteils sehr gut. Obwohl ich von der Lektüre eines großen Teils dieser Literatur profitiert habe, ist es mir unmöglich gewesen, meine Schulden hier im Detail anzuerkennen. In meinem früheren Buch über Rousseau9 habe ich mich sehr viel ausführlicher mit der Sekundärliteratur auseinandergesetzt, doch diesmal habe ich mich entschlossen, das zu vermeiden, um eine schlankere, in erster Linie philosophische (argumentzentrierte) Einleitung in den Zweiten Diskurs zu verfassen, die sich vor allem auf das Interpretieren und Rekonstruieren von Rousseaus klassischer Schrift konzentriert. Dieses Versäumnis habe ich dadurch ein wenig zu korrigieren versucht, dass ich eine sehr knappe Liste der »Vorschläge zur weiteren Lektüre« bereitstelle, die den Leser anregen soll, sich mit einem Teil der Sekundärliteratur näher zu beschäftigen, die für meine Interpretation des Zweiten Diskurses einschlägig ist. Niemand kann beanspruchen, zu irgendeiner der Schriften Rousseaus das letzte Wort zu haben, und dass ich die Sekundärliteratur in diesem Buch vergleichsweise vernachlässigt habe, sollte nicht dahingehend verstanden werden, dass ich dies stillschweigend für mich beanspruche.

Kritik der Ungleichheit

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