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Die nicht-normative Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen

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Rousseaus beschreibende oder erklärende Auffassung der ursprünglichen Natur des Menschen legt dar, wie Menschen sind – oder da ich unten behaupten werde, dass der Naturzustand ein hypothetisches Konstrukt ist (DU, 65, 81 / OC III, 123, 133) – wie sie wären, lebten sie in einer vom Künstlichen völlig unberührten Welt, in einer Welt, in der die Natur, unsere eigene – tierische oder biologische – Natur eingeschlossen, von den Auswirkungen menschlicher Eingriffe völlig frei ist. Diese Auffassung werde ich mit Rousseau als ursprüngliche Natur des Menschen bezeichnen (DU, 63, 67 / OC, 122 f., 126), obgleich man nicht vergessen darf, dass diese ursprüngliche Natur, da sie ja von allen Auswirkungen menschlichen Handelns absieht, in wichtigen Hinsichten als menschliche überhaupt nicht erkennbar ist. (Dieser ursprünglichen Natur des Menschen werde ich im 2. Kapitel eine weitere nicht-normative Auffassung von der Natur des Menschen gegenüberstellen, die sich ebenfalls Rousseau zuschreiben lässt und die im wesentlich aus der ursprünglichen Natur des Menschen, ergänzt durch den amour propre, besteht. Ich werde von ihr als der Natur des Menschen im erweiterten Sinne sprechen.) Obwohl noch sehr viel mehr über diese Vorstellung zu sagen sein wird, ist bereits jetzt deutlich, dass Rousseau in seiner Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen die »ursprüngliche Beschaffenheit« des Menschen zu fassen beabsichtigt bzw. wie der Mensch ist, so »wie ihn die Natur geschaffen hat«, unter Absehung dessen, »was die Umstände und seine Fortschritte hinzugefügt oder an seinem ersten Zustand abgeändert haben« (DU, 63 / OC III, 122).

Bevor wir den Inhalt von Rousseaus Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen näher betrachten, müssen wir uns mit einer Interpretationsfrage auseinandersetzen, die unter den Lesern des Zweiten Diskurses zu erheblichen Kontroversen geführt hat und die für die Rekonstruktion und Bewertung der daraus folgenden Position von beträchtlicher Bedeutung ist. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es meiner Ansicht nach entscheidend ist, den im ersten Teil geschilderten Naturzustand als ein hypothetisches Konstrukt zu begreifen und nicht als Beschreibung eines tatsächlichen Zustands, den es irgendwann in unserer fernen Vergangenheit wirklich gegeben hat.24 Ein Grund für diese Interpretation ist der, dass sie dem Zweiten Diskurs philosophisch den meisten Sinn verleiht. Das will heißen, sie stattet das Argument Rousseaus mit mehr Kohärenz und Überzeugungskraft aus als jede andere Lesart. Ein weiterer Grund ist allerdings der, dass Rousseau selbst klar und deutlich sagt – so scheint es mir zumindest –, er wolle den ursprünglichen Naturzustand genau so verstanden wissen. Da viele Interpreten mir hinsichtlich dieser grundlegenden exegetischen These widersprechen,25 lohnt es im Detail zu betrachten, mit Hilfe welcher einschlägiger Textbelege sich die Streitfrage entscheiden lässt.

Den Abschnitt, der für die Beilegung der Kontroverse am wichtigsten ist, habe ich bereits zitiert, nämlich Rousseaus Bezugnahme auf den ursprünglichen Naturzustand als auf einen solchen, »den es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und wahrscheinlich nie geben wird, über den man aber dennoch rechte Begriffe nötig hat, um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können« (DU, 67 / OC III, 123). Aus dieser Erklärung geht verhältnismäßig deutlich hervor, dass Rousseau seiner Hypothese über den Naturzustand eine grundlegende Wichtigkeit für sein Unterfangen zuspricht und dass es für sein Argument nicht weiter von Belang ist, ob er sich auf einen tatsächlichen historischen Zustand bezieht oder nicht: Wenn es den Naturzustand möglicherweise nie gegeben hat, unsere Vorstellungen von ihm aber gleichwohl für die Beantwortung der Fragen des Zweiten Diskurses wesentlich sind, dann kann Rousseaus Interesse an dieser These überhaupt nichts damit zu tun haben, ob sie einen realen Sachverhalt darstellt. Abgesehen von allen anderen Komplikationen ist dies meiner Ansicht nach der grundlegende Punkt, der in dieser Sache im Auge zu behalten ist, und für meine Rekonstruktion des im Zweiten Diskurs vorgelegten Arguments spielt er eine große Rolle.

Diesen Punkt zugestanden, lässt sich dennoch behaupten, die Möglichkeit, dass Rousseau von der historischen Echtheit des ursprünglichen Naturzustands überzeugt ist oder sich hier zumindest nicht festlegt, sei damit nicht ausgeräumt, selbst wenn ihr, unabhängig von jenem Punkt, eine philosophische Bedeutung zukommt – schließlich sagt, er, dass es den Naturzustand vielleicht nie gegeben hat. Doch auch diese schwächeren Möglichkeiten scheinen, und das nicht weniger eindeutig, durch die folgende Aussage ausgeschlossen zu sein:

Zuerst wollen wir alle Tatsachen ausschalten, denn sie berühren nicht die Frage [ob es den Naturzustand je gegeben hat].26 Man darf die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen, die eher zur Erhellung der Natur der Sache als zum Aufweis des tatsächlichen Anfangs geeignet sind. Sie sind denen vergleichbar, die unsere Physiker täglich über die Entstehung der Welt anstellen. (DU, 81 / OC III, 132 f.)

Hier erklärt Rousseau in aller wünschenswerten Klarheit, dass der Naturzustand keine historische These ist, und sein anschließender Verweis auf die Physiker untergräbt nicht, was immer Gegenteiliges man denken mag, seine Leugnung des historischen Rangs des Naturzustands, vielmehr verstärkt sie diese. Bei den hypothetischen Überlegungen der Physiker, auf die Rousseau sich hier bezieht, handelt es sich um solche, wie sie Descartes in Die Welt und vielleicht noch andere Cartesianer des 18. Jahrhunderts angestellt haben, um kohärente Erzählungen zu konstruieren, die zwar nicht den Anspruch auf faktische Wahrheit erheben, wohl aber beschreiben wollen, wie eine geordnete Welt gleich der unsrigen im Prinzip aus den anfänglich chaotische Bedingungen entstehen könne, sofern sie nur mit einer vorgegebenen Reihe von mechanischen Bewegungsgesetzen übereinstimme. 27 Der Witz solcher Versuche bestand nicht darin, irgendeine These über den tatsächlichen zeitlichen Ursprung des Universums aufzustellen, sondern – ohne dabei eine Annahme über tatsächliche Anfangsbedingungen zu machen – darin, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Ordnungsebenen in der Welt zu untersuchen und zu zeigen, dass die Entstehung höherer Ebenen möglich war, selbst wenn es sich bei den einzigen die Natur beherrschenden Prinzipien um mechanische Bewegungsgesetze handelt. Mit anderen Worten: Der Witz solcher Hypothesen ist, wie Rousseau deutlich sagt, der, »die Natur der Dinge zu erhellen« – die Kontinuitätsbeziehungen zwischen mechanischen Phänomenen und denjenigen aufzudecken, die einer ganz anderen Ordnung anzugehören scheinen – statt dann »ihren wahren Ursprung aufzuzeigen«. Ähnlich unterfängt sich der Zweite Diskurs zu zeigen, dass die Bandbreite komplexer menschlicher Erscheinungen, die uns aus hochentwickelten Gesellschaften vertraut ist, sich durch die Annahme einer sehr kleinen Zahl »erster Prinzipien« erklären lässt, nämlich derjenigen, die in Rousseaus Darlegung der ursprünglichen Natur des Menschen enthalten sind, ergänzt, wie ich im folgenden Kapitel erklären werde, durch das im zweiten Teil vorgestellte grundlegende »Prinzip« des gesellschaftlichen Daseins, den amour propre. Diese Prinzipien sind – das werde ich weiter unten genauer ausführen – für Rousseau deshalb so wichtig, weil sie die fundamentalen »Bausteine« der menschlichen Wirklichkeit liefern und die sehr allgemeinen Grenzen angeben, welche die Natur der Veränderbarkeit des Menschen gesetzt hat. Formuliert man den entscheidenden Punkt so, dann liegt es nahe, die theoretische Aufgabe des Naturzustands noch auf eine andere Weise zu beschreiben, die in einem der oben zitierten Abschnitte anklingt: Hypothesen über unsere ursprüngliche Natur erfüllen eine analytische Aufgabe, nämlich die, »zu entwirren, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich [und der Gesellschaft geschuldet]28 ist« (DU, 67 / OC III, 123), oder – was auf dasselbe hinausläuft – »zu trennen, was der göttliche Wille geschaffen hat und was die menschliche Kunst geschaffen zu haben vorgibt« (DU, 75 / OC III, 127), selbst wenn in der Wirklichkeit weder das Natürliche noch das Künstliche je von seinem Gegenstück losgelöst auftritt.

Jedenfalls müssen wir unbedingt erkennen, dass es kein Widerspruch ist, die historische Wahrheit des ursprünglichen Naturzustands zu bestreiten und dennoch, wie ich es tue, mit diesem einen Wahrheitsanspruch zu verbinden, ja sogar den Anspruch, in einem gewissen Sinn empirisch wahr zu sein. Denn der erste Teil des Zweiten Diskurses bezweckt, die Wahrheit über die grundlegenden Elemente der Natur des Menschen aufzudecken, auch wenn diese Elemente nicht durch die Sinneswahrnehmung allein erfassbar sind – da das Objekt unserer Untersuchung, die »ursprüngliche« Natur des Menschen, in der Wirklichkeit nie in dieser Reinform anzutreffen ist. Das bedeutet nun nicht, die These sei in dem Sinn metaphysisch, dass man sie empirisch nicht widerlegen kann – prinzipiell ist es immer möglich, auf menschliche Phänomene zu stoßen, die auf der Grundlage der von Rousseau der Natur des Menschen zugeschriebenen Minimalelemente nicht erklärbar sind –, es bedeutet bloß, dass es sich nicht um eine unmittelbare Tatsache der Sorte handelt, für deren Kennzeichnung man ›Der Baum vor mir ist grün‹ halten könnte. (Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an Rousseaus Aufforderung, bei der Betrachtung des Naturzustands »alle Tatsachen auszuschalten« (DU, 81 / OC III, 132).) Ebenso wenig sind Behauptungen über die ursprüngliche Natur des Menschen in dem Sinn unwissenschaftlich, dass sie Hypothesen einer völlig anderen Art als die von der Naturwissenschaft aufgestellten sind. Darum ist der Vorschlag, »Versuche« im denkbar weitesten Sinn könnten mithelfen, die Frage nach unserer ursprünglichen Natur zu entscheiden, für Rousseau nicht völlig abwegig (DU, 67 / OC III, 123 f.). Tatsächlich ist es wahrscheinlich – um eine weitere Analogie zur Physik anzuführen –, dass Rousseau seinen Thesen über die Natur des Menschen einen ähnlichen theoretischen Rang zuweist, wie ihn Newtons erste Bewegungsprinzipien genießen: Obwohl es sich weder um empirische Verallgemeinerungen noch um unmittelbar beobachtbare Fakten handelt, beziehen Rousseaus Thesen ihre Unterstützung aus dem Erfolg, mit dem sie, unter Hinzuziehung der Annahme von ein paar weniger grundlegenden Prinzipien der »ersten und einfachsten Regungen der menschlichen Seele« (DU, 71 / OC III, 125), die vielfältigen Formen menschlichen Verhaltens begreifbar machen, die wir sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus anderen empirischen Quellen kennen, etwa aus der Biologie, der Geschichte und der, wie wir heute sagen würden, Anthropologie. (Und das erklärt, warum die im Zweiten Diskurs erbrachten empirischen Belege für die große Verschiedenheit menschlicher Lebensformen, seien sie ›primitiv‹ oder entwickelt, für Rousseaus Unterfangen relevant sind, auch wenn der ursprüngliche Naturzustand nicht als ein historischer postuliert wird. Auf diese Frage komme ich im Anhang zum 4. Kapitel zurück.)

Kehren wir nun wieder zur inhaltlichen Darlegung der Rousseau’schen Beschreibung der ursprünglichen Natur des Menschen zurück.29 Ihr Kernstück ist das, was Rousseau unsere »natürlichen Fähigkeiten« nennt, eben jene einfachsten Regungen der Seele, die »vor dem Verstand« in uns arbeiten (DU, 71 / OC III, 125 ff.) Anders gesagt besteht die ursprüngliche Natur des Menschen für Rousseau in der Naturausstattung der einzelnen Menschen, in den »ursprünglichen Anlagen« (E, 111 / OC IV, 248) und Vermögen, die sie allein, ungeachtet ihrer möglichen Ausformung durch zufällige soziale oder historische Umstände, von der Natur erhalten. In Anbetracht dessen, was oben über die Natur im Allgemeinen gesagt worden ist, ist es sinnvoll, von diesen Anlagen und Vermögen, sofern sie in ihrer natürlichen Form vorliegen, zu meinen, sie bestünden und wirkten unabhängig vom menschlichen Urteilsvermögen und Willen. Genau so beschreibt Rousseau dann auch die beiden ursprünglichen Anlagen, die er den Menschen beilegt: Selbstliebe (amour de soi-même) und Mitleid. Beide betrachtet er als Anlagen, die uns von Geburt an mitgegeben sind und uns veranlassen, auf die Welt zu reagieren, ohne dass Meinungen oder Wille eingreifen, und damit »vor dem Verstand«. Insofern als diese Anlagen unabhängig vom Urteilsvermögen und vom Willen wirksam werden, unterscheiden sie sich nicht der Art nach von den Anlagen der Tiere. Tatsächlich hält Rousseau sie für Anlagen, die den Menschen und (zumindest einigen) anderen Tieren gemeinsam sind.

Wie das Wort besagt, ist der amour de soi-même (oder das Äquivalent: der amour de soi) eine Form der Selbstliebe im allgemeinsten Sinne oder des Eigeninteresses, deren Wesensmerkmal darin besteht, dass sie »uns leidenschaftlich um unser [individuelles] Wohlergehen und unsere eigene Erhaltung besorgt macht« (DU, 73 / OC III, 126). (Im zweiten Teil des Zweiten Diskurses führt Rousseau eine weitere Form der Selbstliebe im allgemeinen Sinne30 ein, den amour propre, dessen Ziele sich wesentlich von denen des amour de soi-même unterscheiden. Da diese Unterscheidung in Rousseaus Denken eine große Rolle spielt, werde ich von nun an die französischen Ausdrücke verwenden.) In seiner ganz und gar natürlichen Form, also noch bevor irgendeine Meinung darüber, worin unser Wohlergehen besteht, unser Eigeninteresse leiten kann, wirkt der amour de soi-même auf rein tierische Weise, und das bedeutet, der Naturmensch ist dazu disponiert, auf die Welt mit einem Verhalten, das unsere individuelle Erhaltung und unser Wohlergehen fördert, mehr oder weniger »mechanisch« und ohne »jegliche Reflexion« zu reagieren (DU, 170 / OC III, 154).31 Rousseau denkt hier sicherlich daran, dass Menschen gleich anderen Tieren mit Anlagen geboren werden, die sie Lustempfindungen aufsuchen und Schmerzempfindungen meiden lassen. Diese Anlagen bewegen Geschöpfe, dazu, die Objekte in der Welt zu suchen – oder im Falle von Schmerzen zu meiden –, welche diese Empfindungen in ihnen hervorzurufen neigen (E, 111 / OC IV, 248). Zudem ist die Natur darauf angelegt – und in dieser bescheidenen Hinsicht teleologisch strukturiert –, dass die unreflektierten Reaktionen solche Geschöpfe meistens zu einem Verhalten führen, das letztlich ihr Wohl qua Naturwesen fördert, und das heißt: ihr Überleben und Wohlergehen.

Die zweite Anlage, die Rousseau unserer ursprünglichen Natur zuschreibt, eine, die Menschen ebenfalls mit anderen Tieren teilen, ist Mitleid (pitié). Sie »flößt uns einen natürlichen Widerwillen dagegen ein, irgendein fühlendes Wesen, vor allem unseresgleichen, umkommen oder leiden zu sehen« (DU, 73 / OC III, 126). Dieser natürliche Widerwille gegen das Leiden anderer hat Folgen für das Verhalten von Naturwesen, da der Widerwille als eine Art von Schmerz ihnen einen Beweggrund liefert, das Leiden anderer zu verhindern. Eine Reaktion, die das Mitleid in uns auszulösen vermag, ist die, den Anblick des Leidens anderer zu fliehen, doch das Leiden zu lindern ist, vor allem wenn es nicht mit Mühe verbunden ist, zweifellos eine andere. Rousseaus These, Mitleid gehöre zu unserer ursprünglichen Natur, läuft auf die Behauptung hinaus, dass der Mensch von Natur aus kein ausschließlich selbstsüchtiges Geschöpf ist. Stattdessen ist er fähig, Schmerz allein aufgrund der Wahrnehmung des Schmerzes anderer zu empfinden, und damit ist das Fundament für eine Art natürlicher Sorge um das Wohlergehen anderer gelegt. Auf einer höheren Stufe ist damit die Antriebskraft für solche moralischen Tugenden wie Barmherzigkeit, Güte und Großzügigkeit gegeben (DU, 173 f. / OC III, 155). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Anlage zum Mitleid ein wichtiges Element in der Erklärung des hauptsächlich wohlwollenden Charakters des ursprünglichen Naturzustands ist: »Wenn er [der Mensch im Naturzustand] nicht dem inneren Impuls des Mitleids widersteht, tut er niemals einem anderen Menschen Böses an, nicht einmal irgend einem fühlenden Wesen. Nur in dem berechtigten Falle, in dem seine eigene Erhaltung ihn parteiisch macht, ist er verpflichtet, sich selbst den Vorzug zu geben« (DU, 73 / OC III, 126).

Die beiden Anlagen sind hinsichtlich ihrer Antriebskraft nicht gleichwertig, auch wenn Mitleid, wie aus diesem Zitat deutlich hervorgeht, oft ein Gegengewicht zum natürlichen Eigeninteresse des Menschen bildet und es mildert. In schweren Konflikten – etwa wenn die Selberhaltung auf dem Spiel steht – gewinnen die Ziele des amour de soi-même die Oberhand gegenüber dem Mitleid, denn, wie Rousseau unzweideutig erklärt, macht sich dieses nur »unter gewissen Umständen« und auch dann nur, verglichen damit, wie sich der amour de soi-même bei der Bedrohung seiner Grundinteressen Gehör verschafft, »mit leiser Stimme« vernehmbar (DU, 173 – 77 / OC III, 154 ff). Rousseau ist daher der Ansicht, dass sich die ursprüngliche Natur des Menschen durch zwei Motivationsquellen auszeichnet – den amour de soi-même und das Mitleid –, dass wir aber, obwohl wir fähig sind, uns zur Linderung des Leidens anderer unabhängig von den Vorteilen bewegen zu lassen, die wir selbst daraus ziehen, im Grunde eigennützige Wesen bleiben, zumindest in dem vergleichsweise schwachen Sinn, dass unser eigener Schmerz letztlich für uns mehr ins Gewicht gefällt als der Schmerz anderer und dass unsere Neigung, das Leiden anderer zu lindern, von der Selbstliebe in den Schatten gestellt wird, sobald die Hilfe für unsere Mitmenschen zu einem erheblichen Schaden für uns selbst führt. Rousseau spürt in den Zwecken dieser beiden ursprünglichen Anlagen wie auch in ihrer relativen Stärke die Grundlage der »Maxime der natürlichen Güte« auf, die uns mit der allgemeinen Regel für das »natürliche« menschliche Verhalten »aller Menschen« ausstattet: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« (DU, 177 / OC III, 156). Der Sinn, in dem diese Maxime eine Regel für das Verhalten des Menschen bildet, kann natürlich sehr verschieden sein, je nachdem, ob wir an das Verhalten im Naturzustand denken oder an das Handeln des Menschen innerhalb entwickelter sozialer Bedingungen. In jenem – wo es an gegenläufigen Tendenzen, ausgelöst durch künstliche Bedingungen, fehlt, »ist niemand versucht, ihr nicht Folge zu leisten« – beschreibt die Maxime, wie Menschen sich tatsächlich verhalten, während sie in diesen die Form eines echten Gebots annimmt und die Menschen, die sie in der Tat befolgen oder auch nicht befolgen können, anweist, wie sie handeln sollten. (Wie Rousseau festhält, beinhaltet die »Natürlichkeit« der Maxime zudem, dass zivilisierte Geschöpfe einen »Widerwillen gegen üble Taten« empfinden, wenn sie ihnen in der Welt begegnen, sogar dann, wenn sie die Urheber sind.)

Für Rousseau, wie auch für die meisten seiner Vorläufer und Zeitgenossen, war es hinreichend offensichtlich, dass die Menschen in erster Linie eigennützige Wesen sind, um dafür nicht weiter argumentieren zu müssen. Wahrscheinlich würde kaum einer von uns dem nicht beipflichten. Gleichwohl lohnt es sich, die beiden hauptsächlich stillschweigenden Überlegungen zu artikulieren, auf die sich Rousseaus These stützt. Die erste ist durch und durch empirisch: Schon allein die Beobachtung des Verhaltens unserer Mitmenschen wie auch das, was wir über das Leben von Männern und Frauen in anderen Zeiten (und an anderen Orten) wissen, macht deutlich, dass Eigennutz ein zentrales Element menschlicher Psychologie ist – oder, um es anders zu sagen, dass Individuen ihrer Natur nach starke Motive haben, ihr eigenes Wohl, so wie sie es verstehen, zu fördern. Ein zweites, weniger triviales Argument untermauert das erste: Die oft zu beobachtende Eigennützigkeit der Individuen lässt sich mit guten Gründen als etwas verstehen, was einem rein biologischen Naturzweck dient, nämlich dem Fortbestand und dem körperlichen Wohlergehen eben des Organismus, der von der Natur dazu »programmiert« ist, sein eigenes Wohl zu befördern. Die These, der amour de soi-même gehöre wesentlich zur Natur des Menschen, beruft sich damit nicht nur auf die empirische Beobachtung des tatsächlichen Verhaltens – was, wie Rousseau bemerkt, dazu führt, kontingente, aber sehr oft beobachtete Merkmal der Menschen zu Unrecht für Teile ihrer unveränderlichen Natur zu halten (DU, 67, 79 / OC III, 123,132) –, sondern auch auf eine allgemeinere Auffassung jener Zwecke (in diesem Fall die körperliche Erhaltung), zu deren Erreichen die Geschöpfe der Natur ausgerüstet sein müssen, wenn sie die grundlegendsten Triebe des Lebens sollen befriedigen können.32

Zweifellos ist die Behauptung, Mitleid gehöre ebenfalls zur ursprünglichen Natur des Menschen, sowohl was uns selbst als auch was Rousseaus Zeitgenossen betrifft, sehr viel umstrittener, und möglicherweise widmet er darum den sie stützenden Argumenten größere Aufmerksamkeit. Erstens ist Rousseau darauf bedacht, mehrere Beispiele für ein uns vertrautes menschliches Verhalten vorzulegen, die ohne die These des natürlichen Mitleids nur sehr schwer zu erklären sind. Ein offensichtliches Beispiel ist das der Mütter, die ihre eigenen Interessen – im Extremfall ihr Leben – dem Wohl und der Geborgenheit ihrer Kinder unterordnen. Da seine Leser geneigt sein könnten, dies für einen Sonderfall zu halten, der auf Frauen oder auf die sehr enge Bindung beschränkt ist, die Eltern zu ihrem Nachwuchs haben, bedarf es weiterer Beispiele. Diese findet Rousseau in einer Mandeville entlehnten Szene, in der ein persönlich nicht betroffener (und männlicher) Betrachter sieht, wie ein wildes Tier ein Kind von der Brust der Mutter reißt, aber auch in der wohl bekannten Tatsache, dass Theaterbesucher sich von unbekannten, ja sogar fiktiven Charakteren, deren Leiden auf der Bühne dargestellt werden, zu Tränen rühren lassen. Zweitens werden diese Überlegungen, wie schon im Fall des amour de soi-même, durch Überlegungen darüber bekräftigt, wie auch das Mitleid dazu beiträgt, die Naturzwecke zu erfüllen: Wenn der amour de soi-même der Erhaltung der Individuen dient, so dient unsere Empfänglichkeit für den Schmerz anderer einem noch größeren Naturzweck: Indem es uns »dazu bringt, ohne Nachdenken denen zur Hilfe zu kommen, die wir leiden sehen«, trägt es »zur wechselseitigen Erhaltung der ganzen Gattung« bei (DU, 175 f. / OC III, 166). Diese Betrachtung ist eng mit Rousseaus These verbunden, dass das menschliche Verhalten zumindest im ursprünglichen Naturzustand von einem einzigen, sehr allgemeinen Zweck geleitet wird: »die Liebe zum Wohlbefinden ist der einzige Beweggrund der menschlichen Handlungen« (DU, 197 / OC III, 166). Das vom amour de soi-même angestrebte Wohlbefinden ist unser eigenes, das vom Mitleid angestrebte dasjenige anderer.

Nachdem er die Grundelemente der ursprünglichen Natur des Menschen dargelegt und gezeigt hat, dass es im Naturzustand friedlich und freundlich zugeht, führt Rousseau eine, wie es scheinen könnte, dritte natürliche Anlage ein: die sexuelle Leidenschaft (DU, 179 – 183 / OC III, 157 ff.). Ein großer Teil seiner Erörterung ist der einleuchtenden Ansicht gewidmet, der rein animalische Sexualtrieb (das, was am Gefühl der Liebe körperlich ist) sei, da er von Meinungen und Vorstellungen unberührt bleibt, weniger machtvoll und zerstörerisch als die sexuelle Leidenschaft – das »moralische« Element der Liebe, eng verwoben mit der Liebe für ein bestimmtes Individuum und Urteilen über den persönlichen Wert sowohl des Liebenden als auch des Geliebten –, die den Grund für so viel Eifersucht und sexuelle Rivalität unter »zivilisierten« Wesen abgibt. Was an Rousseaus Erörterung der Geschlechtlichkeit für größere Verwirrung sorgt, zeigt sich jedoch erst auf einer fundamentaleren Ebene.33 Wie sich das sexuelle Verlangen in die beiden Kategorien der zuvor unterschiedenen natürlichen Anlagen einfügt, ist, zum Teil weil er dazu nichts sagt, schwer zu erkennen: Bezieht es seine Antriebskraft aus dem amour de soi-même oder aus dem Mitleid? Die zunächst einleuchtendere Alternative sieht im Sexualverlangen eine Unterart des amour de soi-même, da die Lust, die das sexuelle Verhalten dem es auslebenden Individuum verschafft, zweifellos das entscheidende Motiv dafür ist. Das sexuelle Verlangen unterscheidet sich jedoch von den anderen mit dem amour de soi-même verbundenen Naturtrieben – Hunger, Durst, Schlafbedürfnis – darin, dass seine Befriedigung für das Wesen, das ihm nachkommt, nutzlos ist. Das heißt, jenseits der damit einhergehenden Lust erzeugt das Sexualverlangen für das befriedigte Individuum selbst kein Gut. Zweifellos erfüllt das Sexualverlangen einen Naturzweck der Gattung (die biologische Reproduktion), doch in dieser Hinsicht ist es dem Mitleid ähnlicher als dem amour de soi-même. Vermutlich ist der beste Schluss, zu dem wir hier kommen können, der, dass seine Motivation das rein natürliche Sexualverlangen in die Nähe des amour de soi-même rückt – was Naturgeschöpfe dazu antreibt, sexuelle Beziehungen zu suchen, ist das Versprechen der Lust –, doch hinsichtlich des natürlichen Guts, das solche Wesen dadurch verwirklichen, gleicht es eher dem Mitleid (selbstverständlich geschieht dies »mechanisch«, ohne dass sie notwendig dieses Gut hervorbringen wollen oder sich um es kümmern). (Sowohl der Emile (E, 438 – 444 / OC IV, 489 – 494) als auch der zweite Teil des Zweiten Diskurses (DU, 203 ff. / OC III, 169) machen deutlich, dass die sexuelle Leidenschaft des Menschen im Unterschied zum animalischen Verlangen notwendigerweise mit dem amour propre einhergeht, jener Form von Selbstliebe, die Rousseau nur im zweiten Teil einführt.)

Neben diesen beiden Anlagen gehören zur ursprünglichen Natur des Menschen zwei Vermögen – das eine kognitiv, das andere voluntativ –, die unabhängig von allen sozialen und historischen Entwicklungen existieren. Wir tun gut daran, nur das Gegebensein dieser Fähigkeiten, nicht aber ihr Wirken, als natürlich oder angeboren zu begreifen, denn wenn es an allen gesellschaftlichen Beziehungen fehlt, wäre die eine vollkommen latent und die andere würde auf die allerdünnste der Funktionen reduziert. Anzumerken ist hier, dass Rousseau diese beiden Vermögen als spezifisch menschliche betrachtet, während er von den zwei oben erörterten Anlagen der ursprünglichen Natur des Menschen meint, sie seien den menschlichen und nicht-menschlichen Tieren gemeinsam. Damit ist zugleich gesagt, dass, was auch immer die menschliche von der bloß animalischen Existenz unterscheidet, seine letzte Quelle nicht im amour de soi-même oder im Mitleid haben kann, sondern in diesen beiden Vermögen und den Veränderungen, die sie unter den künstlichen, von der Gesellschaft und der Geschichte erzeugten Bedingungen erfahren.

Das erste dieser natürlichen Vermögen ist die Vervollkommnung, die der menschlichen Gattung eigentümliche »Fähigkeit, sich zu vervollkommnen« (DU (a), 335 / OC III, 211). Im Kern besteht die Vervollkommnung aus einem Ensemble latenter, gattungsspezifischer kognitiver Vermögen – darunter die Fähigkeit der Sprache, des Denkens und der Vorstellungskraft –, die zwar von Geburt an gegeben sind, aber so lange schlummern, wie ihre Entwicklung nicht durch komplexere Umstände angestoßen wird (DU, 107 f., 189 / OC III, 142, 162).34 In seiner Erörterung der Vervollkommnung unterscheidet Rousseau sorgfältig zwischen latenten Fähigkeiten einerseits – den rein natürlichen Gaben, die es einem besonderen Geschöpf im Prinzip erlauben, eine bestimmte Fertigkeit oder Kompetenz zu erwerben – und verwirklichten Fähigkeiten andererseits – darunter die durch einen Entwicklungsprozess erworbene faktische Befähigung, die betreffenden kognitiven Funktionen auszuführen. Er ist gleichermaßen sorgfältig darauf bedacht, nur die erstgenannten in die Vervollkommnung aufzunehmen und damit nur diese nackten, unverwirklichten Fähigkeiten der ursprünglichen Natur des Menschen zuzuschreiben: »[O]bschon das Organ der Sprache dem Menschen natürlich ist, [ist] die Sprache selbst ihm gleichwohl nicht natürlich« (DU, 333 UTB/ OC III, 210). Wie Rousseau nicht müde wird zu betonen, ist für jedwede Entwicklung dieser natürlichen Fähigkeiten, die sich tatsächlich im Menschen vollzieht, das »zufällige Zusammenwirken mehrerer äußerer Ursachen nötig, das ebenso gut auch nie hätte stattfinden können, und ohne das er [der Mensch] ewig in seinem ursprünglichen Zustand verblieben wäre« (DU, 189 / OC III, 162). Der Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren in Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten, die zur Vervollkommnung gehören, ist daher, um ein besonderes Beispiel zu nehmen, nicht der, dass Menschen immer eine Sprache besitzen oder zwangsläufig eine entwickeln, während das auf andere Tiere nicht zutrifft: der Unterschied liegt vielmehr darin, dass Menschen das angeborene Potential haben, unter den richtigen äußeren Umständen Sprache zu entwickeln und zu verwenden, während anderen Tieren, gleichgültig unter welchen Umständen sie leben, dieses Potential vollständig abgeht.35

Wie viele Kommentatoren bereits angemerkt haben36, ist Vervollkommnung – ein Kunstwort, das Rousseau selbst in den philosophischen Diskurs eingeführt hat (OC III, 1, 317 f.) – ein potentiell irreführendes Wort für das, was es bezeichnen soll. Es bezieht sich beispielsweise nicht auf angeborene Neigungen oder einen Trieb des Menschen, sich und seine Lage im Laufe der Zeit zu verbessern, sich immer mehr dem Zustand der »Vollkommenheit« anzunähern. Um welchen Typ von Vollkommenheit es sich hier auch handeln mag, ganz sicherlich geht es nicht um moralische Vollkommenheit. Im Gegenteil: Rousseau zieht ernsthaft die Möglichkeit in Erwägung – und bekräftigt diese Überlegung in einem engeren Sinn im zweiten Teil –, dass »diese uns auszeichnende, fast unbegrenzte Fähigkeit die Quelle alles Unglücks des Menschen ist« und die Ursache »seiner Irrtümer, seiner Laster« (DU, 109 / OC III, 142). Mit anderen Worten, der ursprünglichen Natur des Menschen das Vermögen der Vervollkommnung zuzuschreiben, bringt in keiner Weise eine optimistische Einstellung zum Schicksal des Menschen zum Ausdruck, und ebenso wenig verbirgt sich dahinter eine Behauptung über seine angeborene Güte oder seine Neigung, sein natürliches Potential zu verwirklichen. Die unübersehbaren teleologischen Konnotationen des Wortes sollten stattdessen sehr schwach ausgelegt werden: Menschen besitzen von Natur aus eine Reihe latenter kognitiver Fähigkeiten, die prinzipiell in dem verhältnismäßig mageren Sinn vervollkommnet werden können, dass sie eine qualitative Entwicklung vom Einfacheren zum Komplexeren durchlaufen.37 Um es noch einmal zu sagen: »Vervollkommnung« beinhaltet nicht, dass es eine einzige, festgelegte Form oder ein Telos gibt, auf das hin sich jede Fähigkeit unter idealen Bedingungen entwickeln sollte, und auch nicht, dass es eine der menschlichen Natur innewohnende Anlage gibt, die eine solche Entwicklung notwendig oder auch nur wahrscheinlich machte.

Strenggenommen schließt Vervollkommnung etwas mehr als die verschiedenen kognitiven Fähigkeiten ein, von denen oben die Rede war. Über sie wird gesagt, sie sei selbst eine Fähigkeit – eine »Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen« (faculté de se perfectionner). Es ist alles andere als offensichtlich, woran Rousseau denkt, wenn er den Menschen zusätzlich zu ihren besonderen kognitiven Vermögen noch eine allgemeine Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen, zuspricht. Sie ist, um es noch einmal zu wiederholen, kein innerer Entwicklungstrieb, denn Rousseau beharrt darauf, dass eine Entwicklung der Menschen möglicherweise nie aufgetreten wäre, wenn es an zufälligen äußeren Umständen gefehlt hätte. Liest man akribisch alle Absätze, die seine Aussage, Vervollkommnung sei selbst eine Fähigkeit – und nicht bloß eine Ansammlung spezifischer latenter Vermögen – umgeben, drängt sich der Eindruck auf, das Entscheidende an dieser Behauptung liege in der allgemeinen These, die menschliche Gattung sei im Gegensatz zu allen anderen Tiergattungen in dem Sinn äußerst formbar, als soziale und historische Umstände imstande sind, sie auf vielfältige und grundlegende Weise so zu verändern, dass der Mensch von heute der im allerersten Absatz des Zweiten Diskurses erwähnten Statue des Glaukus gleicht. Wie diese von der Zeit und den Stürmen mitgenommene Statue haben sich die heutigen Menschen »durch all die Veränderungen hindurch, die der Lauf der Zeit und der Dinge in seiner [des Menschen] ursprünglichen Beschaffenheit bewirken«, so sehr gewandelt, dass ihre ursprüngliche Natur »sozusagen bis zur Unkenntlichkeit« entstellt worden ist (DU, 63 ff. / OC III, 122). (Dass unsere ursprüngliche Natur unter den gegenwärtigen Umständen nur sozusagen unkenntlich ist, ist deshalb so wichtig, weil anderenfalls die für Rousseau so entscheidende Aufgabe, diese Natur zu erkennen, unerfüllbar wäre. Rousseaus Behauptung in diesem Sinne aufzufassen, fügt der These von der Vervollkommnung inhaltlich nicht viel Neues hinzu, warum sie aber dennoch besondere Aufmerksamkeit verdient, ist nicht schwer zu sehen: Dieser Aspekt der Vervollkommnung ist für das Hauptunterfangen des Zweiten Diskurses wesentlich, denn die ungeheure Formbarkeit der menschlichen Gattung – ihr erstaunliches Vermögen, sich auf nahezu unbegrenzt vielfältige Weise zu entwickeln und neue Charakteristika und Fähigkeiten zu erwerben – ist hier für Rousseaus Behauptung unverzichtbar, die soziale Ungleichheit sei, obwohl sie überall in der uns bekannten Welt zu beobachten ist, kein notwendiges Produkt der Natur – oder der Natur des Menschen – selbst.

Bei dem zweiten Vermögen, das Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, handelt es sich um eine primitive Form des freien Willens – um ein »Vermögen … des Wählens« –, die er als die Fähigkeit beschreibt, dem, was wir als Instinkt38 oder Antrieb der Natur bezeichnen könnten, zu folgen oder zu widerstehen: »Die Natur befiehlt jedem Wesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch fühlt gleichfalls ihr Drängen, aber er erkennt sich als frei, um nachzugeben oder zu widerstehen« (DU, 107 / OC III, 141 f.). Bei der Einführung dieses Merkmals der ursprünglichen Natur des Menschen macht Rousseau klar, dass diese Art von Freiheit den Menschen zuzusprechen heißt, ihnen eine »metaphysische« Eigenschaft beizulegen (DU, 105 / OC III, 141). Er versteht darunter eine Eigenschaft, die den Menschen über das Reich der reinen Natur – und damit über alle anderen Tiere – erhebt, da dieses als ein Bereich zu verstehen ist, der ausschließlich von deterministischen Kausalgesetzen beherrscht wird: »[I]n dem Vermögen des Wollens … hat man nur rein geistige Akte vor sich, über die man nichts vermittels der Gesetze der Mechanik ausmacht« (DU, 107 / OC III, 142).

Geschöpfen, denen es an Sprache und Vernunft gebricht, einen freien Willen zuzusprechen ist, wie Rousseau erkennt, eine heikle Sache. Aus diesem Grund ist er darauf bedacht, den freien Willen, wie er der ursprünglichen Natur des Menschen eigen ist, so dünn wie möglich zu charakterisieren. In der Regel kennzeichnet er unser ursprüngliches Vermögen, frei zu handeln, durch einen Mangel, nämlich das Fehlen derjenigen Instinkte, die das Verhalten anderer, nicht-menschlicher Tiere mit strenger Notwendigkeit festlegen: Während »das Tier nicht den ihm vorgegebenen Gesetzen entgehen kann«, kann der Mensch, selbst der primitivste, frei, ohne dazu genötigt zu sein, wählen, ob er dem Drängen der Natur nachgibt oder es missachtet (DU, 107 / OC III, 141). Wenn er dem Menschen als Teil seiner ursprünglichen Natur einen freien Willen zuschreibt, möchte Rousseau uns damit ein angeborenes Vermögen beilegen, das weder durch Ursachen noch durch Gründe ausreichend bestimmt ist, das heißt eine Spontaneität, die sich am besten dadurch kennzeichnen lässt, dass sie nicht gezwungen ist, auf die Anreize der Natur auf vorherbestimmte Weise zu reagieren. Selbstredend wird der freie Wille, sobald er wie die anderen ursprünglichen Merkmale des Menschen eine Entwicklung durchlaufen hat, unter zivilisierten Bedingungen ganz anders als die nackte Form aussehen, die er in primitiven Geschöpfen annimmt. Der freie Wille, so wie er uns im zweiten Teil des Zweiten Diskurses entgegentritt, besteht darin, diejenigen unter den eigenen Wünschen auszuwählen, die man in Übereinstimmung mit seinen »Überzeugungen« über die eigene Person und die von ihr präferierten Güter befriedigt.39 (Im Gesellschaftsvertrag wird Rousseau auf eine noch komplexere Form der Freiheit hinweisen, auf eine, die Menschen nur besitzen, wenn sie unter gerechten politischen Institutionen leben: eine Art von Autonomie, die darin besteht, seine Handlungen an selbst aufgestellten Gesetzen auszurichten (GV, 1.8). Der Zweite Diskurs, in dem Autonomie nicht vorkommt, liefert den negativen Teil von Rousseaus Begründung der These, die höchste Form der Freiheit sei nur innerhalb einer rechtmäßigen Republik möglich.)

Während es verhältnismäßig unproblematisch ist, dass Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen Vervollkommnung zuschreibt– schließlich sehen wir die ihn interessierenden latenten Vermögen bereits in realen Menschen verwirklicht –, ist seine Position hinsichtlich des freien Willens im Naturzustand umstrittener, insbesondere seine Behauptung, auch ohne Sprache und Vernunft sei es möglich, eine freie Wahl zu treffen. Bevor wir Rousseaus Behauptung verwerfen, sollten wir uns jedoch klar machen, was genau er behauptet. Vor allem müssen wir uns daran erinnern – was wir bei der Interpretation des Zweiten Diskurses ohnehin immer tun sollten –, dass der Naturzustand bei Rousseau den Rang einer reinen Hypothese hat und dass er nicht beabsichtigt, reale oder real mögliche Menschen zu beschreiben. Er möchte vielmehr ein Bild davon entwerfen, wie Menschen wären, hätten nicht (kontingente) soziale oder historische Umstände ihre ursprüngliche Natur modifiziert. Rousseau behauptet also nicht, reale, wie Tiere in Urwäldern hausende Menschen hätten, zu irgendeinem Zeitpunkt, bevor sie in Gesellschaften lebten und bevor sich über Sprache und Denken verfügten, gewählt, welchem Drang sie nachgeben wollten. Seine Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen – ein Teil seiner Vorstellung vom Naturzustand im Allgemeinen – ist als ein analytisches Werkzeug konzipiert, das all die verschiedenen unabhängigen und grundlegenden Vermögen (in Abstraktion von allen sozialen Umständen) aussondern soll, welche vorausgesetzt und zusammengeführt werden müssen, um die basalen Merkmale aller Formen menschlichen Lebens zu verstehen, wie es sie sich in seiner erstaunlichen Vielfalt vor uns ausbreitet. So wie das Mitleid in die Reihe der natürlichen Anlage aufzunehmen war, weil der amour de soi-même gewisse uns bekannte reale Formen des menschlichen Verhaltens auf sich allein gestellt nicht zu erklären vermochte, so ist die Hypothese des freien Willens erforderlich, um einigen basalen Merkmalen der menschlichen Wirklichkeit, wie wir sie erleben und verstehen, gerecht zu werden. Der ursprünglichen Natur des Menschen einen freien Willen zuzuschreiben, heißt daher zu behaupten, in einer Theorie der menschlichen Natur, deren Absicht es ist, die menschliche Beschaffenheit in all ihrer Komplexität zu begreifen, fehlte ein grundlegendes Element, wenn sich die Theorie auf die kognitiven Vermögen der Vervollkommnung und die Anlagen zum amour de soi-même und zum Mitleid beschränkte. Eine solche Theorie wäre nicht imstande, dem Bereich des Voluntativen einen Ort in ihrem Bild von der Verfasstheit des Menschen anzuweisen – also der ganzen Bandbreite von Phänomenen, die für uns mit dem menschlichen Willen verbunden sind, mit der Fähigkeit des Menschen, seine eigenen Handlungen zu bestimmen, statt sich von außen bestimmen zu lassen. Wenn wir am Ende zu einem Bild vom zivilisierten Menschen gelangen wollen, das Platz für freies Handeln hat, dann, so Rousseaus Überlegung, muss die Grundlage für diese Freiheit in der ursprünglichen Natur des Menschen zu lokalisieren sein. Der Grund dafür ist der, dass alles, was als echte Freiheit gilt, nach Rousseaus Ansicht ein Element metaphysischer Unabhängigkeit von den kausalen Naturgesetzen in sich tragen muss (DU, 105 / OC III, 141)40. Dieser Aspekt menschlichen Handelns wird sich aber niemals aus einer Entwicklungsgeschichte ergeben, die allein auf einer Theorie der menschlichen Natur fußt, die, weil sie nur Vervollkommnung und natürliche Anlagen in Anschlag bringt, auf rein naturalistische Erklärungen beschränkt bleibt. Wenn an irgendeinem weiter fortgeschrittenen Punkt des Zivilisationsprozess Spontaneität zu beobachten ist, dann muss sie, folgert Rousseau, in irgendeiner Form zur ursprünglichen Ausstattung gehört haben, die sich in der Zivilisation weiterentwickelt, denn ein metaphysischer Unterschied dieser Art – zwischen kausal bestimmter Natur und selbstbestimmter Freiheit – kann nicht durch die Entwicklung per se entstehen.

Die »Phänomene«, die wir als Äußerungen des freien Willens betrachten, sind selbstverständlich nicht Phänomene in demselben Sinn wie die oben zur Unterstützung der Hypothese vom natürlichen Mitleid angeführten Verhaltensbeispiele. Genauer gesagt, sind für die Letzteren die sie begründenden Belege in empirisch beobachtbarem Verhalten zu suchen – wie auch in einer allgemeinen These über die natürlichen Fortpflanzungszwecke von Lebewesen –, während es für die Hypothese des freien Willens keinen strikt empirischen Beleg geben kann. Das heißt, menschliche Handlungen, die wir für frei halten, lassen sich zwar empirisch beobachten, aber dass sie freier Selbstbestimmung entspringen und nicht notwendige Wirkungen vorangegangener, durch deterministische Gesetze erklärbarer Ursachen sind, lässt sich in keiner Weise aufgrund empirischer Tatsachen selbst annehmen. Rousseau ist sich völlig bewusst, dass seine »metaphysische« Hypothese des freien Willens weder in empirischen Beobachtungen noch in rein theoretischen Betrachtungen darüber gründet, was zur Erklärung empirisch beobachteter Phänomene gegeben sein muss (deterministische Naturgesetze könnten solche Anforderungen allerdings sehr wohl erfüllen). Aus diesem Grund bezeichnet er die Hypothese des freien Willens an anderen Stellen auch als »Glaubensartikel« und versucht seinen Glauben an den freien Willen mit dem Zeugnis seiner »inneren Stimme« zu begründen, eine Stimme, die jeder Mensch, wenn er nur darauf achtet, vernehmen kann und die in jedem, der ihr zuhört, das gleiche »Gefühl [seiner] Freiheit« hervorruft: »Man mag es mir abstreiten, soviel man will, ich fühle es, und das Gefühl, das zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, die dagegen ankämpft. … gebe ich nach oder widerstehe ich, unterliege ich oder bin ich Sieger, immer fühle ich vollkommen klar in mir, ob ich tue, was ich tun wollte …« (E, 572 ff. / OC III, 585 ff.).41 Es sollte daher deutlich sein, dass die Überlegungen, die Rousseau dazu bewegen, den freien Willen zu den Bestandteilen der ursprünglichen Natur des Menschen zu zählen, ganz anders gelagert sind als diejenigen, die ihn veranlassen, ihr Vervollkommnung, amour de soi-même und Mitleid zuzurechnen. Dass wir Menschen für frei halten, geschieht nicht auf der Grundlage empirischer oder anderer theoretischer Belege, die Unterstützung für diese Hypothese stammt vielmehr aus einer anderen Quelle, aus einem »Blick nach innen«, der nur aus der Perspektive der ersten Person möglich ist und der einen Beleg liefert, den man nur in Bezug auf das eigene Handeln gewinnen kann.42

Richtig verstanden ist Rousseaus Zuschreibung des freien Willens zur ursprünglichen Natur des Menschen, sowohl was den Inhalt als auch was ihre Begründungen betrifft, nicht weit von Kants wohlbekannter These entfernt, dass Menschen über Wahlfreiheit, ein arbitrium liberum, verfügen, die sie von nicht-menschlichen Tieren unterscheidet, welche nur ein arbitrium brutum besitzen, wobei der Unterschied der ist, dass jene von natürlichen Impulsen affiziert (oder beeinflusst), aber nicht bestimmt werden, während diese stets durch die natürlichen Impulse, die sie verspüren, bestimmt werden. 43 Die Hinsicht, in der sich Rousseaus Position am bedeutsamsten von der Kantischen unterscheidet – und dieser Unterschied ist zweifellos ein substantieller – ist in seiner These zu suchen, dass der Unbestimmtheitscharakter des Willens der Vernunft vorausgeht und in seiner Existenz von ihr unabhängig ist. (Für Kant, so wie ich ihn verstehe,44 sind nur Geschöpfe, die auch über reine praktische Vernunft verfügen, imstande, sich nicht von außen bestimmt zu lassen, sich also durch das arbitrium liberum auszuzeichnen – das heißt, es müssen Geschöpfe sein, die sich als unter einer Verpflichtung stehend verstehen und die dazu fähig sind, ihren Willen nach dem moralischen Gesetz, der obersten Maxime der reinen praktischen Vernunft, zu bestimmen. Wenn dies richtig ist, dann ist der freie Willen selbst in dem minimalen Sinn, in dem Rousseau ihn der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, nicht von der Vernunft unabhängig denkbar.) In anderen Fragen ist die Ähnlichkeit zu Kant zweifellos gegeben, doch was das Verhältnis von Freiheit und Vernunft betrifft, steht Rousseau in einer anderen großen Denktradition, in der des Voluntarismus, demzufolge Wahlfreiheit nicht die Ausübung der Vernunft erfordert. Für diese Tradition gleicht der Willensakt eher einem spontanen, unbegründeten »picking« oder Herausgreifen, und das beschreibt genau den Typus von Willensfreiheit, den Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen beilegt.

Eine andere Frage, in der Leser des zweiten Diskurses manchmal uneinig sind, bezieht sich auf das Verhältnis von Freiheit und Vervollkommnung. Wenn die oben vorgelegte Darstellung der ursprünglichen Freiheit richtig ist, dann sind die beiden Fähigkeiten strenggenommen voneinander unabhängig: Die Spontaneität des Willens setzt weder Vernunft noch Sprache voraus, und die bloße Existenz der latenten kognitiven Vermögen hängt in keiner Weise vom Vorliegen oder der Ausübung des Willens ab. Allerdings wird die Sache kniffliger, wenn man sich fragt, ob die Entwicklung der Vervollkommnung – die tatsächliche Entfaltung unserer latenten Vermögen – am freien Willen hängt. Rousseaus meint, dass dem so ist, aber dennoch ist zu klären, was genau seine Behauptung beinhaltet. Die mit der Vervollkommnung einhergehende Entwicklung bedarf der Ausübung von Freiheit, wenngleich in einem sehr besonderen Sinn: Die Entwicklung selbst ist von dem Geschöpf, das sie erfährt, zwar nicht gewollt – nicht bewusst beabsichtigt –, aber sie ist die unbeabsichtigte Folge frei gewählter Handlungen, die sich auf andere Zwecke richten. Als ungünstige Klimabedingungen und die größer werdende Zahl von Fresskonkurrenten die primitiven Menschen veranlassten, Angelhaken anzufertigen sowie Pfeil und Bogen zu erfinden, was in der Folge ihre Fähigkeit entwickelte, verschiedene Dinge in ein Verhältnis zueinander zu setzen, bestand das Ziel dieser schöpferischen Taten – frei insofern, als sie trotz ihrer Motivation durch den amour de soi-même spontane Abweichungen vom »Instinkt« darstellten – darin, den Hunger zu befriedigen, und nicht darin, Fähigkeiten zu vervollkommnen. Sich Klarheit über das Zusammenspiel von Freiheit und Vervollkommnung zu verschaffen, ist deshalb wichtig, weil wir dadurch verstehen, wie die kontingente Entwicklung der Menschen und ihrer Gesellschaft, die im Zweiten Diskurs eine so große Rolle spielt, sowohl das Ergebnis als auch nicht das Ergebnis des menschlichen Willens sein konnte: Sie ist das Ergebnis freier menschlicher Tätigkeit – ein Zustand, in den wir, nicht Gott oder die Natur, die Welt versetzt haben –, doch ist sie kein beabsichtigtes Ergebnis unseres Willens. Mit anderen Worten, der im zweiten Teil geschilderte Zivilisationsprozess (und folglich die Verschlechterung der menschlichen Gattung) muss als unserer eigenes Tun aufgefasst werden – als etwas, für das wir in dem Sinn verantwortlich sind, dass es das Ergebnis unserer freiwilligen Wahlakte ist und daher auch anders hätte ausfallen können –, nicht aber als eine Entwicklung, an der wir moralisch schuld sind (da wir sie weder beabsichtigt haben noch ihre Folgen, auch nicht in ihren frühen Stadien, hätten vorhersehen können). Selbst wenn »die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk sind« (DU, 99 / OC III, 138), sind sie doch nicht Ergebnisse unseres bösen Willens (oder der Erbsünde). Welche Bedeutung dieser Lehre für Rousseaus Unterfangen zukommt, liegt auf der Hand: Am Schluss der Erklärung für den Niedergang der menschlichen Gattung stehen Gott und die Natur – und auch wir – schuldlos oder »gerechtfertigt« dar (DU, 109 Anm. / OC III, 202), und die Verantwortung für die Verbesserung der von uns bewohnten Welt geht auf uns, die freien Schöpfer eben jener Eigenschaften über, die wir der Kritik der sozialen Ungleichheit zufolge verändern müssen.

Rousseaus Naturzustand – und die damit einhergehende Darstellung der Natur des Menschen – weist ein hervorstechendes Merkmal auf, das bei seinen Lesern auf viel Kritik gestoßen und bislang von mir kaum berührt worden ist. Gemeint ist der durch und durch individualistische Charakter der ursprünglichen Natur des Menschen, wie er sich in dem wiederholt betonten Umstand spiegelt, dass der Naturzustand bar aller sozialer Beziehungen ist und es der ursprünglichen Natur des Menschen an allen Fähigkeiten und Anlagen fehlt, die von der menschlichen Gesellschaft abhängen oder sie betreffen. Diese atomistische Ansicht ist für Rousseaus Vorstellung des Naturzustands so grundlegend, dass sich seine Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen auch als der Versuch kennzeichnen lässt, diejenigen basalen Anlagen und Fähigkeiten festzuhalten, die jedem Menschen qua Individuum von der Natur ungeachtet aller Beziehungen, die sie zu anderen Menschen möglicherweise haben, verliehen worden sind. Anders formuliert, wenn Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen amour de soi-même, Mitleid, Vervollkommnung und einen freien Willen zuspricht, dann behauptet er damit, dass es sich dabei um Merkmale des Menschen handelt, die im Prinzip dem Einzelnen für sich genommen zukommen, also selbst dann, wenn er außerhalb einer Gesellschaft lebt (unbeschadet der Tatsache, dass Menschen niemals in einem so isolierten Zustand existiert haben). Statt Rousseaus individualistische Auffassung in Bausch und Bogen zu verwerfen, lohnt sich der Versuch zu verstehen, warum Rousseau so vorgeht, wobei man stets bedenken muss, und das tue ich hier, dass er letztlich nicht dem Irrtum aufsitzt, den ihm sehr viele Leser vorhalten, dass er nämlich alles, was zu unserer sozialen Existenz gehört, für etwas hält, das unserer »wahren« Natur – im normativen Sinn – äußerlich ist.

Eine Möglichkeit, Rousseaus individualistische Auffassung unseres Naturzustands zu verstehen, ist die, darin den Versuch zu sehen, das stoische Prinzip der Geselligkeit außer Acht zu lassen (DU, 73 / OC III, 126), das frühere Naturrechtstheoretiker, insbesondere Grotius und Barbeyrac, in ihr Bild von der Natur des Menschen aufgenommen haben. Diese Denker begreifen die Geselligkeit als eine angeborene Empfindung, die allen Menschen eigen ist und sie geneigt macht, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, gleichgültig in welcher Beziehung es zu ihrem eigenen Wohl steht, und die sie aus mehr als nur zweckdienlichen Gründen die verschiedensten sozialen Beziehungen eingehen lässt. Rousseaus Hauptgrund für die Ablehnung der Geselligkeit scheint der zu sein, dass sie in den Bereich der Natur zu viel Soziales einschließt und uns so den Blick für die Künstlichkeit, vor allem aber für die Formbarkeit unserer sozialen Institutionen und unseren Wunsch verstellen würde, Bande zu anderen Menschen zu knüpfen. Die Wünsche, die uns dazu antreiben, Familien, Staaten und Wirtschaftsbeziehungen zu gründen, sind für ihn ein Produkt von Kultur und Geschichte. Keinem angeborenen menschlichen Trieb von der Art, wie die Geselligkeit es sein soll, ist eine »natürliche« Blaupause für diese Institutionen abzulesen. Während Rousseaus Haltung zur These von der Geselligkeit vielschichtig ist, würde die Aussage nicht zu weit gehen, dass das, was in seiner Vorstellung von der menschlichen Psychologie an ihre Stelle tritt, die Verbindung von Mitleid, einer »natürlichen« Empfindung, mit dem amour propre, einer »künstlichen« Leidenschaft, ist. Jenes hilft zu erklären, wie Individuen positiv veranlagt sein können, das Wohl – oder die Schmerzlosigkeit – anderer zu wünschen, wohingegen dieser – wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird – erklärt, warum zivilisierte Menschen das anhaltende Bedürfnis verspüren, soziale Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen.45

Rousseaus individualistischem Ansatz lässt sich wohl am besten dadurch Sinn verleihen, dass man betrachtet, wie er aus seiner fundamentaleren Absicht folgt, den Menschen in einem vollkommen un-künstlichen Zustand zu charakterisieren. Dabei kommt es vor allem darauf an zu verstehen, warum er das Natürliche – aller Künstlichkeit Freie – der Geselligkeit so weit entrückt. Dieser Verbindung liegt nämlich der Gedanke zugrunde, dass soziale Beziehungen für die Entwicklung und die Ausübung eben der Fähigkeiten, von denen die Künstlichkeit abhängt, unverzichtbar sind und sich davon nicht trennen lassen. Bedenkt man, dass Künstlichkeit sich durch den Eingriff menschlicher, durch Meinungen vermittelter Handlungen auszeichnet, dann geht Künstlichkeit notwendig mit sozialen Beziehungen Hand in Hand, jedenfalls wenn Menschen ihre Fähigkeit zu urteilen nur in Gesellschaft entwickeln und ausüben können. Genau das trifft nach Rousseaus Ansicht zu, denn er glaubt, dass Sprache und Denken – die beiden Voraussetzungen, um Urteile zu fällen und überlegt zu handeln – etwas sind, worüber nur soziale Geschöpfe verfügen können. Zugleich meint er, dauerhafte soziale Beziehungen führten mehr oder weniger automatisch46 dazu, dass sich solche Fähigkeiten wie Sprache und Vernunft entwickeln, welche unvermeidlich Meinungen in die menschlichen Angelegenheiten hineintragen. Seine Auffassung ist mit anderen Worten die, dass es ohne Sprache und Denken keine echte soziale Existenz gibt und dass es umgekehrt für Geschöpfe, die ein so isoliertes Leben führen wie diese fiktiven Bewohner des ursprünglichen Naturzustands, keine Sprache und kein Denken gibt. Aus alldem folgt, dass, um den Menschen zu sehen, »wie ihn die Natur geschaffen hat«, bevor seine »ursprüngliche Beschaffenheit« sich »im Schoß der Gesellschaft« veränderte (DU, 63 f. / OC III, 122), wir ihn notwendigerweise unter Abstraktion von seinen sozialen Beziehungen betrachten müssen.

Doch selbst wenn damit erklärt ist, warum Rousseau das Natürliche mit dem Unsozialen verbindet, ist unsere ursprüngliche Frage nur nach hinten verschoben worden: Wenn Menschen niemals in einer Situation leben, in der sie weder über Sprache noch Denken, noch soziale Beziehungen verfügen, und wenn eine solche Situation – wie wir im 3. Kapitel sehen werden – unvereinbar damit ist, was Rousseau für eine passende menschliche Existenzform hält, warum ist er dann so sehr darauf aus sich vorzustellen, wie die ursprüngliche Natur des Menschen beschaffen ist? Rousseaus umfassende Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und sie darzulegen wird uns im Rest dieses Buches über weite Strecken beschäftigen. Doch schon jetzt ist es möglich, einen Teil dieser Antwort zu verstehen. Da die Idee der ursprünglichen Natur des Menschen ein analytischer Kunstgriff ist, der den Beitrag der Natur zu unserem realen Erscheinungsbild von unseren künstlichen Merkmalen – solchen, die den sozialen und historischen Umständen geschuldet sind, und folglich den durch unser Eingriffen in die Welt verursachten – trennen soll, lässt sich die oben gestellte Frage folgendermaßen umformulieren: Warum ist Rousseau so sehr darauf aus sich vorzustellen, was an unserer gegenwärtigen Situation auf die Natur zurückgeht und was unserer eigenen Freiheit entspringt (schließlich sind die Gesellschaft und Geschichte unsere eigenen, wenngleich in der Regel unbeabsichtigten Schöpfungen)? Enthalten ist die Antwort auf diese umformulierte Frage in dem, was bereits über die Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen für Rousseau gesagt worden ist, dass nämlich damit die Trennlinie zwischen dem, was uns notwendig und unabänderlich von der Natur mitgegeben wurde, und dem, was, da es letztlich von unserer freien Wahl abhängt, zufällig und variabel ist und in dem Sinn bei uns steht, dass wir es im Prinzip durch unser Handeln ändern könnten. In Anbetracht dessen ist es von großer Bedeutung, dass die Anlagen und Fähigkeiten, die Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, nach Anzahl und Inhalt recht dürftig sind. Denn ein Ziel seiner Darstellung der Natur des Menschen besteht in der Erklärung der nahezu grenzenlosen Vielfalt von Lebensformen, die von historischen und anthropologischen Beobachtungen als Möglichkeiten menschlichen Daseins aufgewiesen worden sind. Doch obwohl Rousseau zu den radikalsten Verfechtern der großen Spannbreite menschlicher Kultur und der Wandelbarkeit unserer ursprünglichen Anlagen zählt, setzt er mit seiner Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen dessen Wandelbarkeit auch sehr breite natürliche Grenzen – Grenzen, die dazu dienen werden, bestimmte Antworten auf Übel, die im 2. Teil des Zweiten Diskurses zur Sprache kommen, als utopisch zu verwerfen und die wichtige normative Folgen für die Verhaltensweisen nach sich ziehen, die wir in Anbetracht der Einschränkungen ihrer ursprünglichen Natur von Menschen erwarten dürfen.

Kritik der Ungleichheit

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