Читать книгу Der Mann der sich verbarg - Frederik Hetmann - Страница 6

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Wer war dieser Mann, dem wir es verdanken, wenn wir in unserer Jugend eine Ahnung davon bekamen, wie die Wirklichkeit dieser Welt aussieht?

Wer war er?

Ich kann mich noch genau daran erinnern, was damals seine Bücher für mich bedeuteten: mit dabei zu sein auf dem Totenschiff, über dessen Mannschaftsquartier der Spruch stand, ähnlich dem, den Dante schrieb für das Tor der Hölle:

Wer hier eingeht,

Des Nam' und Sein ist ausgelöscht.

Er ist verweht,

Von ihm ist nicht ein Hauch erhalten

In der weiten, weiten Welt

Er kann zurück nicht gehn,

Nicht vorwärts schreiten,

Da, wo er steht, ist er gebannt.

Ihn kennt nicht Gott und keine Hölle.

Er ist nicht Tag, er ist nicht Nacht.

Er ist das Nichts, das Nie, das Nimmer.

Er ist zu groß für die Unendlichkeit

Und ist zu winzig für das Sandkörnlein,

Das seine Ziele hat im Weltenall

Er ist das Niegewesen

Und das Niegedacht!

... mit dabei zu sein, als sie herumgingen, gestrandet, arbeitslos, nur noch ein paar Cents in der Hosentasche, im Hafen von Tampico.

... mit dabei zu sein, als sie sich gegenseitig an die Kehle sprangen in wahnwitziger Gier.

... mit dabei zu sein, wenn schließlich der Goldstaub in alle Winde verweht wird;

... mit dabei gewesen zu sein,

als der General aus dem Dschungel kam,

die alte Ordnung abgeschafft wurde,

und die Revolutionsverfassung in Kraft trat,

Viva la Rebelion! Tierra y Libertad!

als Land an die besitzlosen Campesinos gratis verteilt wurde. –

Wer war dieser Mann,

der uns auf all diese Reisen und Wege mitnahm,

der unser soziales Gewissen

mit nichts als Wirklichkeit und noch einmal Wirklichkeit

vielleicht noch mehr aufstachelte als die Verse der Bergpredigt?

Wer war dieser Mann, der uns bestätigte,

es gäbe Menschen, die seien schon bei lebendigem

Leibe gestorben, ohne es zu merken,

wer aber der Not ins Gesicht sehe,

wer bereit sei, sich auf die Seite derer zu stellen,

die elend sind,

rechtlos,

ausgebeutet,

betrogen,

getreten,

hungernd, nicht nur nach Brot,

sondern auch nach Wissen und Würde,

der bleibe lebendig, überlebe seinen Tod?

Wer war dieser Mann,

der Gespenster einsetzte in unsere Herzen?

Gespenster, die mein Bewusstsein seit damals

nie mehr völlig verließen.

Gespenster, die immer wieder aufschreien, toben,

kreischen, randalieren und rebellieren,

die umgehen in meinen Träumen

unter Zähneknirschen,

wenn ich höre von

Mordtaten und abermals Mordtaten

im Auftrag einer christlich-demokratischen Junta

in El Salvador,

von der Enteignung arabischer Bauern auf der Westbank,

wenn ich lese über die Folterungen

von Leningrad bis Santiago de Chile;

von Vietnamesen, die auf löchrigen Planken treiben,

unter die Seeräuber fallen

und denen kein Hafen sich öffnet

zwischen Formosa und Singapur;

wenn ich mich erinnere

an die Gesichter der lebendigen Hungerleichen

von Kindern in den Versorgungsstellen für hungernde und kranke Kinder des nigerianischen Urwaldes in einem der vielen Kriege ums Erdöl,

wenn das Bild des Türken

mich von der letzten Seite der Zeitung aus anspringt,

illegal eingereist

in unsere wunderstrahlende Republik

und abgeschoben in seine Heimat

vor die Läufe der Erschießungskommandos.

Wer war dieser Mann,

der die Macht besaß, Trägheit und Gleichgültigkeit

in unseren Seelen nie ganz obsiegen zu lassen?

Wer?

Ein desertierter amerikanischer Matrose?

Ein vor den Bolschewisten1 geflüchteter Großfürst?

Ein Farbiger, der es gewagt hatte,

in den Südstaaten der USA eine weiße Frau zu lieben?

Ein deutscher Offizier aus dem Kapp-Putsch?

Ein Leprakranker,

so entstellt im Gesicht,

dass er sich niemandem mehr zeigen wollte?

Jack London,

der eingesehen hat, dass nichts erfolgloser ist

als Erfolg,

der Selbstmord vortäuschte,

in Yukatan untertauchte,

weiterlebte und weiterschrieb?

Die Frage: Wer war der Mann, der sich Traven nannte? haben die Detektive der Literatur weitgehend gelöst. Es war ein mühsames, langwieriges, kostenaufwendiges Geduldsspiel.

Am Ende steht das Bild des Mannes, der sich Anonymität wünschte, der vergessen zu werden wünschte.

Die Stationen seines Lebens sind nun genau bekannt. Er ist seiner Tarnung entkleidet. Als ob man jemandem die Kleider vom Leib gerissen hätte.

Wissensdurst Neugier, Scharfsinn, Sensationslust haben triumphiert.

Man kann über das Leben dieses Mannes einen Dokumentarfilm drehen. Jeder Fakt, jede Aussage ist mit Dokumenten belegbar. Aber wissen wir damit mehr über diesen Menschen? Wir kennen die Situation, scheinen außerordentlich genau informiert zu sein und wissen doch das Entscheidende nicht.

Eine Frage ist verlorengegangen im Eifer der detektivischen Ermittlungen. Es wird jetzt Zeit, sie zu stellen. Die Frage lautet: Warum versucht jemand mit aller Gewalt, die Welt den Namen, unter dem er geboren worden ist, vergessen zu lassen?

Warum versucht jemand unter soviel Eifer, Phantasie und Aufwand, in der Anonymität unterzutauchen?

Diese Frage ist die Frage meines Buches. Die Antwort, so behaupte ich, besagt nicht nur etwas über das Wesen dieses Mannes und über seine Zeit. Sie besagt etwas über uns.

In dem Zimmer, in dem ich schreibe, hängt ein Jutesack an der Wand, ein alter Kaffeesack aus Mexiko, auf dem steht in blauer Farbe, anzusehen wie eine Tätowierung,

CAFÉ ALTAMIRA

und darüber in verwaschenem Rot

ALTURA CHIAPAS.

Wer ist der Mann, der sich Traven nannte?

Schon längst habe ich mir vorgenommen,

diesen Sack mit Geschichten zu stopfen.

Was erlebte dieser Mann, der sich Traven nannte?

Was hat er gedacht, gefürchtet gewünscht?

Ich habe ihn für Euch ausgegraben.

Kommt her und beseht sein Leben.

Der Mann der sich verbarg

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