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Fünftes Kapitel. Die Kriegsartikel.

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Das Schiff hatte ohne besonders erwähnenswerte Ereignisse oder Gefahren Gibraltar erreicht. Da der folgende Tag ein Sonntag war, so wurde die Mannschaft in Abteilungen hinaufbeschieden, und weil ungünstiges Wetter eintrat, statt des Dienstes die Verlesung der Kriegsartikel vorgenommen. Dieser Handlung erwiesen Kapitän, Offiziere und Mannschaft gleichmässig die schuldige Achtung, indem sie trotz des Spritzregens mit abgenommenen Hüten dastanden. Jack, dem der Kapitän gesagt hatte, diese Kriegsartikel seien die Bestimmungen und Regeln des Dienstes, denen Kapitän, Offiziere und Mannschaft gleichmässig gehorchen müssten, hörte mit der grössten Aufmerksamkeit zu, während der Schreiber vorlas. Jack wusste freilich nicht, dass diesen Kriegsartikeln noch ungefähr hundert Befehle der Admiralität angehängt waren, welche, wie die zahllosen Nachträge bei manchen Testamenten, eigentlich das Wesentlichste enthalten und gewissermassen den Haupttext selbst aufheben.

Jack hörte, wie gesagt, sehr gespannt zu. Nachdem jeder Artikel vorgetragen war, drang sich ihm die Ansicht auf, er werde nicht wohl gegen einen dieser Punkte fehlen; doch befremdet es ihn, eine strenge Bestimmung gegen das Fluchen zu finden, die auf dem Schiffe als nicht existierend betrachtet wurde; indes glaubte er, im ganzen seinen Weg nun sehr genau zu kennen. Um sich dessen zu vergewissern, bat er den Schreiber, sobald die Mannschaft hinabgepfiffen wurde, ihm eine Abschrift dieser Kriegsartikel zu geben. Dies geschah auch.

„Jetzt weiss ich“, sagte Jack, „was ich zu thun und was ich zu erwarten habe, und will nun diese Kriegsartikel in meiner Tasche tragen, solange ich im Dienste bin, dass heisst nämlich, wenn sie solange halten.

Als Jack in den unteren Raum hinabging, traf er den kleinen Kadetten Gosset weinend an.

„Was haben Sie denn, mein lieber Mr. Gosset?“ fragte Jack.

„Vigors hat mich mit einem Tauende geprügelt“, antwortete Gosset, Arme und Schultern reibend.

„Weshalb?“ fragte Jack weiter.

„Weil er sagt, der Dienst gehe zum Teufel; alle Unterordnung sei jetzt vernichtet, Glückspilze kämen aufs Schiff, die, weil sie eine Fünfpfundnote in der Tasche hätten, thun dürften, was sie nur wollten. Er sagte ferner, er sei entschlossen, den Dienst aufrecht zu erhalten, dann warf er mich zu Boden, zog einen Strick heraus, prügelte mich und bemerkte, er werde dafür sorgen, dass es künftighin keinen Gleichheits-Jack mehr geben solle.

„Schon gut“, antwortete Jack.

„Bei der Seele meines Vaters, sagte Mesty, ich denk’“, „Vigors haben ein sehr schlecht Gedächtnis — brauchen noch ein wenig mehr von Gleichheits-Jack.“

„Und das soll er auch haben“, erwiderte Jack. „Hören Sie, Mr. Gosset, haben Sie Mut?“

„Ja“, erwiderte der Befragte.

„Wollen Sie das nächste Mal thun, was ich Ihnen sage, und sich auf meinen Schutz verlassen?“

„Es ist mir gleich, was ich thue, wenn Sie mich nur gegen den niederträchtigen Tyrannen decken.“

„Meinen Sie mich damit?“ rief Vigors, der eben in die Kajütte eingetreten war.

„Sagen Sie ja“, flüsterte Jack Gosset zu.

„Ja wohl, ich meine Sie“, rief Gosset.

„Ah so, das thatest du — nun gut, mein Bürschchen, so muss ich dir noch mehr von diesem geben“, und damit zog er sein Tau wieder heraus.

„Ich denke, Sie werden besser daran thun, es zu unterlassen, Mr. Vigors“, bemerkte Jack.

„Bekümmern Sie sich gefälligst um Ihre Sachen“, erwiderte Vigors, dem die Einmischung nicht sehr behagte. „Ich habe meine Ansprache nicht an Sie gerichtet. Ich glaube denn doch wohl ein Recht zu haben, meine Bekanntschaft selbst auszusuchen, und verlassen Sie sich darauf — auf einen Gleichheitsmann wird meine Wahl nie fallen.“

„Ganz nach Ihrem Belieben“, antwortete Jack. „Sie haben ein Recht, Ihre Bekannten auszuwählen, aber ich habe auch ein Recht, meine Freunde zu wählen und gegen schlechte Behandlung zu schützen. Gosset ist mein Freund.“

„Dann werde ich mir also“, entgegnen Vigors, „die Freiheit nehmen, Ihren Freund durchzuwalken.“ Mit diesen Worten schlug er auf Gosset los.

„Und ich werde mir die Freiheit nehmen, meinen Freund zu verteidigen“, erwiderte Jack. „Da Sie mich einen Gleichheitsmann nennen, so will ich versuchen, ob ich den Namen nicht verdienen kann.“ Hiermit brachte Jack Herrn Vigors einen Hieb so ausgezeichnet bei, dass letzterer aufs Verdeck hinfiel und sich nicht mehr verteidigen konnte. „Und nun, mein Junge“, sagte er zu Gosset, den Strick aus Vigors’ Hand windend, thun Sie, was ich Ihnen heisse — geben Sie ihm ein paar tüchtige Hiebe — wenn Sie’s nicht thun, werd’ ich Sie durchwalken.“

Bei Gosset bedurfte es keiner zweiten Drohung. Das Vergnügen, feinen Feind, wenn auch nur ein einziges Mal durchzuledern, war Anreizung genug für ihn — und er that es auch gehörig. So hatte Jack wiederum einen Sieg erfochten und sich neue Freunde gewonnen.

Als Jolliffe, der von dem Vorgefallenen hörte, unseren Helden allein traf, sagte er ihm: „Nehmen Sie meinen Rat an, wein lieber junger Mann, und fechten Sie in Zukunft die Händel anderer nicht aus; Sie werden bald finden, dass Sie mit den Ihrigen genug zu thun haben.“

Nun beleuchtete Jack den Punkt eine halbe Stunde lang, und dann trennten sie sich. Aber Herr Jolliffe hatte recht. Jack kam aus den Zwistigkeiten nicht heraus, so dass der Kapitän und der erste Leutnant, welche ihm zwar ihren Schutz nicht entzogen, es doch für die höchste Zeit hielten, dass Jack einsehen sollte, wie an Bord eines Kriegsschiffes alles seinen bestimmten Kreis, jede Person ihre bestimmte Richtschnur haben müsse.

Am Tage vor Abfahrt des Schiffes speisten der Kapitän und Herr Asper bei dem Gouverneur, und da nicht mehr viel zu thun war, so ging auch Herr Sawbridge, der das Schiff seit dem Einlaufen in den Hafen noch nicht verlassen hatte, ans Land, indem er Herrn Smallsole, dem Steuermann, den Befehl übertrug. Dieser war, wie schon bemerkt, Jacks eingefleischter Feind. Herr Smallsole war sehr erfreut, den Oberbefehl zu erhalten, da er schon eine Gelegenheit zu finden hoffte, um unseren Jack zu züchtigen.

Wie viele, welche selten zum Befehlen kommen, zeigte sich der Steuermann sehr tyrannisch und unartig — er fluchte die Leute an, liess sie ein und dasselbe Geschäft zwei- oder dreimal thun unter dem Vorwande, dass sie es nicht recht gemacht, und fand überhaupt an jedem Offizier, der an Bord geblieben war, Fehler.

Da das Schiff segelfertig war und es nichts mehr zu arbeiten gab, stand Jack mit Mesty am Bollwerke des Vorderkastells. Beide unterhielten sich miteinander. Als dies Steuermann Schmallsole sah, kam er nach vorn und sagte: „Was machen Sie hier?“

„Ganz und gar nichts, Sir“, erwiderte Jack.

„Gut, so will ich Ihnen etwas zu thun geben, Sir. Gehen Sie auf die Mastspitze hinauf und warten Sie da, bis ich Sie herabrufe. Jetzt hinauf, nach dem Hauptbramstengenkopf; setzen Sie sich auf die Kreuzhölzer — hinauf mit Ihnen.“

„Weshalb soll ich denn da hinaufgehen, Sir?“ fragte Jack.

„Zur Strafe, Herr“, antwortete der Steuermann.

„Was habe ich denn gethan, Sir?“

„Keinen Widerspruch — hinauf mit Ihnen.“

„Mit Ihrer Erlaubnis, Sir“, entgegnete Jack, „wünschte ich den Punkt ein wenig zu beleuchten.“

„Den Punkt beleuchten?“ schrie Herr Smallsole. „Beim Zeus, ich will Sie lehren, Punkte zu beleuchten — hinauf mit Ihnen, Sir.“

„Mit Ihrer Erlaubnis“, fuhr Jack fort, „der Kapitän sagte mir, die Kriegsartikel seien die Regeln und Bestimmungen, nach denen sich ein jeder im Dienste zu benehmen habe. Nun habe ich dieselben durchgelesen, Sir, bis ich sie auswendig konnte, und da steht auch nicht ein Wort von Mastspitzen darin.“ Damit zog Jack die Kriegsartikel aus seiner Tasche und durchblätterte sie.

„Wollen Sie auf die Mastspitze gehen, Herr, oder nicht?“ fragte Herr Smallsole.

„Wollen Sie mir das Mastkorben in diesen Kriegsartikeln zeigen, Sir?“ erwiderte Jack; „hier sind sie.“

„Ich sage Ihnen, Sir, dass Sie auf die Mastspitze gehen; wo nicht, so lasse ich Sie in einem Brotsack hinaufhissen.“

„Da steht wieder nichts vom Brotsack in den Kriegsartikeln“, entgegnete Jack, „aber ich will Ihnen sagen, was darin steht, Sir“, und damit begann Jack laut zu lesen:

„Alle Flaggenoffiziere und sonstige Personen, welche sich auf einem der Schiffe Seiner Majestät befinden, die sich sündhafte Flüche, Verwünschungen, Trunkenheit, Unflätigkeit oder andere verabscheuungswürdige Handlungen zur Verminderung der Ehre Gottes und zum Verderbnis der guten Sitten zu schulden kommen lassen, sollen folgendermassen bestraft werden —“

„Verdammung“, schrie der Steuermann, der vor Wut ganz toll wurde, als er hörte, wie die gesamte Schiffsmannschaft lachte.

„Nicht doch, Sir, nicht mit Verdammung“, antwortete Jack; „das kommt erst bei dem Richter da oben.“

„Wollen Sie auf die Mastspitze hinaufgehen, oder nicht?“

„Mit Ihrer Erlaubnis, das will ich lieber nicht.“

„Gut, so betrachten Sie sich als unter Arrest — ich werde dafür sorgen, dass Sie vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Gehen Sie hinunter, Herr.“

„Mit dem grössten Vergnügen, Herr“, erwiderte Jack; „das ist ganz recht und den Kriegsartikeln gemäss, welche uns in allem leiten sollen.“ Damit legte er seine Kriegsartikel zusammen, steckte sie in die Tasche und ging in die Kajütte.

Sobald Jack hinuntergegangen war, folgte ihm Jolliffe, der den ganzen Streit mitangehört hatte, und sagte: „Mein lieber junger Mann, ich bedauere diesen ganzen Vorfall; Sie hätten auf die Mastspitze gehen sollen.“

„Ich möchte diesen Punkt ein wenig beleuchten“, antwortete Jack.

„Ja, das möchte wohl mitunter ein jeder; aber, wenn das erlaubt wäre, so müsste der Dienst in Stillstand geraten — das geht nicht an — Sie müssen einem Befehle gehorchen und können sich nachher erst beklagen, wenn er ungerecht ist. Überdies merken Sie sich, dass im Dienste das Herkommen so viel gilt, als das Gesetz.“

„Das lässt eine kleine Beleuchtung zu“, antwortete Jack.

„Aber der Dienst lässt keine zu, mein lieber junger Mann. Bedenken Sie doch, dass wir selbst am Lande zweierlei Gesetze haben, das eine das geschriebene und das andere das Herkommen. So haben wir’s auch im Dienste; in den Kriegsartikeln kann nicht alles vorgesehen sein.“

„Aber es wird doch für alles ein Kriegsgericht bestimmt“, erwiderte Jack.

„Allerdings, das entweder die Todesstrafe oder die Entlassung aus dem Dienste ausspricht, und keines von beiden könnte sehr angenehm sein. Sie haben sich in eine böse Klemme gebracht, und obgleich der Kapitän augenscheinlich Ihr Freund ist, so kann er Ihnen diesmal doch nicht durch die Finger sehen. Glücklicherweise betrifft es den Steuermann, bei dem es weniger zu sagen hat, als bei den anderen Offizieren; doch werden Sie jedenfalls eine Strafe erdulden müssen, denn ganz vertuschen kann es der Kapitän nicht.“

„Das stände im Widerspruch mit allen Regeln der Gerechtigkeit.“

„Aber in Übereinstimmung mit allen Regeln des Dienstes.“

„Ich glaube, dass ich ein grosser Narr bin“, sagte Jack nach einigem Bedenken. „Was glauben Sie wohl, was mich bestimmte, zur See zu gehen, Jolliffe?“

„Einzig der Umstand, dass Sie nicht wussten, wie gut Sie es hatten“, antwortete der Gefragte trocken.

„Das ist allerdings ganz richtig, aber mein Grund war der, dass ich hier jene Gleichheit zu finden glaubte, die ich am Lande nicht treffen konnte.“

Jolliffe machte grosse Augen.

„Mein lieber junger Mann, ich hörte Sie sagen, Sie hätten diese Ansichten von Ihrem Vater empfangen; ich habe nun keineswegs im Sinn, Ihren Herrn Vater herabzusetzen, aber er muss närrisch sein, wenn er in seinem langen Leben noch nicht gefunden hat, dass so etwas in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist.“

„Ich fange an, dasselbe zu glauben“, entgegnete Jack; „aber das beweist noch nicht, dass es so sein sollte.“

„Ich bitte um Verzeihung, gerade das Nichtvorhandensein der allgemeinen Gleichheit beweist, dass dieselbe nicht möglich ist. Sie könnten ebenso gut erwarten, völlige Glückseligkeit oder Vollkommenheit bei einem Menschen zu treffen.“

„Dann wäre es doch wohl das beste, dass ich wieder nach Hause ginge?“

„Nicht doch, mein lieber Mr. Freimut; das beste, was Sie thun können, ist, im Dienste zu bleiben, denn er wird bald allen solchen Ideen ein Ende setzen und Sie zu einem einsichtsvollen, brauchbaren Menschen machen. Der Dienst ist eine rauhe, aber gute Schule, wo jeder seine gehörige Stellung erhält — nicht die der Gleichheit, sondern die Stellung, auf welche ihn seine natürlichen Fähigkeiten und Kenntnisse steigen oder fallen lassen. Es ist ein edler Dienst, wenn er gleich, wie dies bei allem in der Welt der Fall sein muss, seine Unvollkommenheit hat. Was mich selbst anbelangt, so habe ich wenig Ursache, zu seinen gunsten zu sprechen, denn er hat mir ein hartes Brot geboten, aber es schmeckte doch, zumal ich das Gefühl habe, dass ich jederzeit gewissenhaft meine Pflicht erfüllte. Denken Sie nicht daran, den Dienst zu verlassen, bis Sie ihn gehörig geprüft haben. Ich weiss zwar wohl, Ihr Vater ist ein reicher Mann, Sie sind sein einziger Sohn und somit nach der gewöhnlichen Redeweise der Welt unabhängig; aber glauben Sie mir, kein Mensch, wie reich er auch sein mag, ist unabhängig, wenn er nicht einen Beruf hat, und Sie werden keinen besseren finden, als diesen ungeachtet —“

„Was?“

„Sie morgen unfehlbar auf die Mastspitze geschickt werden.“

„Diesen Punkt wollen wir noch beleuchten“, antwortete Jack; „auf jeden Fall will ich aber erst die Nacht ausschlafen.“

Seekadett Jack Freimut

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