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Kapitel 3
ОглавлениеAnnemieke
Ich hatte schon Erfahrung mit Langstreckenflügen – für einen Schüleraustausch war ich einmal in den USA gewesen –, aber trotzdem gibt es Schöneres, als acht Stunden mit hunderten, anderen wildfremden Leuten auf engstem Raum nahezu eingepfercht zu sein. Und natürlich stellt sich da auch die Frage, was besser ist: Gang oder Fenster? Ich hatte einen Fensterplatz ausgewählt, dann konnte ich zumindest bei Start und Landung aus dem Fenster schauen.
Alles verlief reibungslos und ich kam wohlbehalten, wenn auch ein wenig müde, am Flughafen in Toronto an. Ich bin in Kanada!, dachte ich aufgeregt, sobald ich von der Gangway die Ankunftshalle für Einreisende betrat. Ich reihte mich in die Schlange der anderen Wartenden ein und als ich dran war, gab ich dem Mister meine Dokumente und hoffte, dass alles in Ordnung war. Er schaute auf meinen Pass und dann mich an, dann wieder mein Touristen-Visum, mit dem ich sechs Monate lang bleiben konnte.
„What‘s your reason for being here?“, fragte er dann noch einmal. Er wollte den Grund meines Aufenthalts wissen.
„Vacation“, war meine kurze Antwort – Urlaub.
Er schaute noch einmal auf meine Unterlagen.
„And you are staying with…Mrs Barbara Ferman“, stellte er fest. „Who is that?“
„My grand aunt“, kam wieder die kurze Antwort von mir.
Noch ein letzter Blick auf Ausweis und Unterlagen, dann nahm er seinen Stempel und drückte ihn in meinen Pass. Ich war in meinem Leben, glaube ich, noch nie erleichterter gewesen. Und auch wenn diese Kontrolle noch nicht mal zwei Minuten gedauert hatte, war es mir doch wie eine Ewigkeit vorgekommen. Jetzt musste ich nur noch meinen Koffer holen und würde dann meine Großtante und ihre Familie kennenlernen.
So leicht, wie ich mir das vorgestellt hatte, war das dann allerdings doch nicht. Natürlich dauerte es noch eine Weile, bis das Gepäck aus dem Flieger in der Gepäckhalle ankam und ich hatte auch immer das Gefühl, dass mein Gepäckstück eines der letzten war, doch mein Koffer kam und kam einfach nicht. Irgendwann vernahm ich dann dieses Knacken einer beginnenden Lautsprecherdurchsage: „Annemieke Engel, please come to the information desk, I repeat, Annemieke Engel, please come to the information desk.“
Schockstarre. Was hatte ich getan? Gab es nachträglich doch ein Problem mit den Papieren? Würde ich noch heute wieder zurückreisen müssen?
Wie ferngesteuert begab ich mich zum Informationsschalter und eine Dame lächelte mir freundlich zu. „Hello, what can I do for you?“, fragte sie mit zuckersüßer Stimme.
„I‘m Annemieke Engel“, sagte ich. Das war alles, was ich herausbrachte. Ich glaube, die Dame hatte jemand Älteren erwartet, als sie meinen Namen ausgerufen hatte.
„Oh, okay. So, unfortunately, your luggage didn‘t made it today“, sagte sie und sollte dabei wohl irgendwie beruhigend klingen. Ich starrte sie an. Von all diesen hundert Gepäckstücken war es ausgerechnet meins, das nicht mitgekommen war.
„Where are you going to stay?“ Ich gab ihr das Papier mit der Adresse meiner Großtante. Sie schaute es an.
„Okay, when we have found your luggage, we will send it directly to this adress. Can you please tell me how it looks like…like the size, colour and so on?“
„It is purple....and the surface is soft...and the case is very big.“ Mehr konnte ich zur Beschreibung meines Koffers in dieser Situation nicht sagen. Mein Gehirn war einfach wie leergefegt.
„Alright, we will try our best to find it. Have a good stay.“
Ja, der Aufenthalt begann ja schon mal super. So hatte ich mir das nun wirklich nicht vorgestellt.
Die Dame am Schalter lächelte mir noch einmal entschuldigend zu.
„Okay, thank you. Have a nice day“, verabschiedete ich mich mit einem Kloß im Hals und drehte mich um Richtung Ausgang.
Meine Großtante und ich hatten Fotos ausgetauscht, damit wir uns am Flughafen wiedererkennen würden. Ich folgte den anderen Passagieren durch die Schiebetür und schaute mich nach einer Frau mit kurzen grauen Haaren und strahlend blauen Augen um. Als ich mit den Augen die Menge absuchte, hörte ich aus einer Richtung: „Annemieke! Hier!“ Ich drehte mich um und sah sie fast ganz vorne mit einem etwas jüngeren Mann hinter der Absperrung stehen. Ich ging um die Absperrung herum und stand auf einmal vor ihr: meiner Familie aus Kanada. Ich wusste nicht ganz, wie ich mich verhalten sollte, denn eigentlich waren wir uns fremd. Also nicht nur eigentlich...
„Na, willst du deine Großtante denn nicht drücken?“, ergriff sie die Initiative. Ich folgte ihrer Aufforderung. „Das ist übrigens Oscar, mein Sohn“, stellte sie ihre Begleitung vor.
„Freut mich“, sagte ich zu ihm und wir schüttelten uns die Hände.
„Nice to meet you too“, sagte er.
„Oscar ist hier geboren und er spricht nur noch selten Deutsch. Aber verstehen tut er es noch sehr gut. Nicht wahr, Oscar?“, erklärte mir Barbara.
„Das ist ricktig“, bestätigte er und wir mussten ein wenig lachen.
„Kein Problem, mit Englisch komme ich klar“, meinte ich.
„Sag mal, hast du nur den Rucksack da?“, fragte sie mich und schaute etwas verwundert auf mein spärliches Handgepäck.
„Nein, allerdings ist mein Koffer aus irgendeinem Grund nicht mitgekommen“, erklärte ich.
„Was? Wie konnte das denn passieren?“
„Das wüsste ich auch gerne“, meinte ich.
„Und jetzt hast du gar nichts zum Anziehen dabei?“, fragte Barbara.
„Nein, nur das, was ich anhabe.“
„Gut, dann werden wir uns wohl was einfallen lassen müssen. Aber jetzt fahren wir erst mal nach Hause. Dann kannst du dich ausruhen.“
Ausruhen klang wie Musik in meinen Ohren, denn auf einmal merkte ich, wie müde ich doch wirklich war.
Auch auf dem Weg zum Auto hörte Barbara nicht auf zu reden.
„Ach, ich freue mich so, dass du da bist. Weißt du, ich habe gar nicht mehr so viel Kontakt zu meiner Familie aus Deutschland und auf einmal ruft meine Schwester – deine Oma – an und erzählt mir, dass ihre Enkelin nach Kanada kommen will. Ich hoffe, es gefällt dir hier, hier ist es wunderschön...“
Fast hatte ich das Gefühl, sie redete einfach so drauflos, anstatt mich direkt anzusprechen. Ich war immer noch etwas unsicher und ging ein paar Schritte hinter meiner Großtante und Oscar drehte sich hin und wieder zu mir um, vielleicht um sicherzugehen, dass ich ihnen immer noch folgte. Der Flughafen erschien mir riesig und der Weg zum Auto entsprechend lang. Außerdem fiel mir auf, dass im Parkhaus fast nur SUVs standen.
„Oscar packt deinen Koffer für dich in den Kofferraum“, verkündete Barbara. Oscar und ich schauten uns an und mussten lachen.
„Ich glaube, da gibt es nicht viel zu verstauen“, sagte er.
„Ach, was bin ich alt geworden, habe es schon wieder ganz vergessen“, fiel es ihr wieder ein. „Na dann, steigt schon ein.“
Oscar setzte sich hinters Steuer und ich wollte schon hinten einsteigen, als Barbara sagte: „Du kannst ruhig vorne sitzen, wenn du magst, ich sitze lieber hinten.“
Ich überlegte einen kurzen Moment, setzte mich dann aber schließlich auf den Beifahrersitz.
„Immer dieser Verkehr…“, seufzte Barbara von hinten. „Früher war das alles anders. Manchmal wünsche ich mir diese Zeiten zurück.“
„Mama ist manchmal ein klein wenig sentimental“, flüsterte Oscar mir zu.
„Hey, ich bin vielleicht ein wenig älter als ihr, meine Ohren sind aber immer noch ausgezeichnet!“
Der Rest der Fahrt verlief eher still. Oscar manövrierte uns zielsicher durch den Verkehr der kanadischen Großstadt und hin und wieder meldete sich Barbara von hinten zu Wort, sobald sie mich über dieses oder jenes informieren wollte.
„Warum bist du damals aus Deutschland weg?“, wollte ich wissen.
„Der Liebe wegen. Jack war in Deutschland stationiert und als er wieder zurückmusste, konnte ich einfach nicht alleine bleiben. Meine Eltern waren am Anfang überhaupt nicht begeistert, haben allerdings schließlich eingewilligt.“
Ich musste ein wenig schmunzeln. Heutzutage wäre es egal, was die Eltern sagen, da brennen die Verliebten einfach durch.
Mittlerweile steuerte Oscar den Wagen durch eine Wohnsiedlung und parkte vor einem dieser Häuser, die man schon tausendmal in nordamerikanischen Filmen gesehen hat. Oscar stellte den Motor ab und machte seiner Mutter die Tür auf. „Was für ein Gentleman“, kommentierte sie. „Wer dich wohl so erzogen hat?“ Ich lächelte ein wenig in mich hinein.
„Hey, we‘re home!“, verkündete Barbara, als wir über die Schwelle traten. Oscar war so freundlich und nahm mir meine Jacke ab. „Das ist wohl die gute deutsche Schule“, bemerkte ich mit einem Augenzwinkern.
„Ja, Mum hat da sehr viel Wert draufgelegt“, antwortete er.
„Hi, darling. Oh, and who‘s that?“ Ein Mann im Alter meiner Großtante war erschienen.
„Honey, I told you that Os and I will pick up our great-niece.“
„Just kidding“, sagte er. „Nice to meet you, I‘m Jack. Your great-uncle.“
„I supposed that“, erwiderte ich lächelnd. „I‘m Annemieke.“ Ich fühlte mich ein wenig komisch dabei, Englisch zu sprechen und meinen Namen dabei Deutsch auszusprechen. Was hatten sich meine Eltern auch dabei gedacht, mir diesen urdeutschen Namen zu geben?
„Annömieckey“, versuchte er, meinen Namen zu wiederholen.
„We should probably go with Anne“, schlug Barbara vor. „Was denkst du?“ Ich hatte nichts dagegen.
„Anne klingt gut. Sounds good“, bestätigte ich.
„I‘m off, Mom, Julie‘s waiting“, sagte Oscar und verabschiedete sich. „See you, Anne.“ Er hob die Hand zum Gruß.
„See you“, erwiderte ich.
„What a pretty girl you are“, stellte Jack fest. Ich errötete bei diesem Kompliment ein wenig.
„Jack“, schalt meine Großtante ihren Mann mit leichter Empörung in der Stimme.
„It‘s true“, verteidigte er sich.
„Jack spricht übrigens so gut wie kein Deutsch mehr. Ich denke, er versteht noch immer alles, aber sprechen tut er‘s nicht mehr.“
Jack, der zugehört hatte, nickte zustimmend. „Meine Deutsch ist nickt mehr so good.“
„Oscar ist also verheiratet?“, fragte ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Ja, er und seine Frau Julie haben selbst zwei Kinder, die aber auch schon erwachsen sind und aufs College gehen.“ Nach einer kurzen Pause sagte Barbara weiter: „Ich werde etwas zu essen machen? Was isst du am liebsten?“
„Ich esse eigentlich alles außer Fleisch und Fisch. Ich bin Vegetarierin.“
„Oh dear“, hörte ich Jack sagen.
„Ich werde schon was finden“, sagte meine Großtante und begab sich in die Küche. „Jack, show Anne the room, please.“
Jack machte eine Handbewegung, die anzeigte, dass ich ihm folgen sollte. „No luggage?“, fragte er erstaunt. Ich schüttelte den Kopf. „Kind of a story.“
Ich folgte Jack die Treppe hoch und er zeigte mir mein Zimmer. „Do you like it?“ Ich nickte. Ich ging ins Zimmer, stellte meinen Rucksack neben das Bett und sah mich um. Ich hatte sogar ein eigenes kleines Bad.
„Du kannst dich ausruhen. Wenn du irgendetwas brauchst…“, sagte er auf Englisch. Damit drehte er sich um und ließ mich allein.
Ich ließ mich aufs Bett fallen und atmete einmal tief durch. Ich konnte es noch gar nicht fassen: ich war in Kanada! Alles kam mir so unwirklich vor. Dann fiel ich in einen tiefen Schlaf der Gerechten.