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Kapitel 6

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Ich konnte kaum die Zeit abwarten, bis ich endlich nach Vancouver Island fliegen konnte. Ich hatte mir schon unzählige Male Bilder im Internet angeschaut und eins war schöner als das andere und ich konnte es kaum erwarten, es endlich in echt zu sehen.

Als dann endlich der Tag kam, wurde ich mit jeder Meile zum Flughafen nervöser, was ich natürlich nicht zu zeigen versuchte, aber ich hatte das Gefühl, Barbara wusste, wie es in mir drin aussah. Am Flughafen trafen wir Julie und Oscar. Julie wollte es sich nicht nehmen lassen, mich noch einmal zu sehen, bevor ich zu ihrer Schwester flog. „Ich glaube, sie hat wirklich einen Narren an dir gefressen“, flüsterte meine Großtante ein wenig verschwörerisch zu. Ich schmunzelte.

Als mein Flug angezeigt wurde, verabschiedete ich mich von allen und begab mich zur Sicherheitskontrolle. „Have fun!“, rief Julie mir noch hinterher, bevor ich hinter der Schleuse verschwand.

Mit einem Mal Umsteigen in Vancouver landete der Flieger ein paar Stunden später in Comox, einer kanadischen Kleinstadt. Margret – Julies Schwester – hatte ihre Farm in Courtenay, der Nachbarstadt. Ich hatte Julie gefragt, woran ich ihre Schwester erkennen würde und sie hatte nur gelächelt und gesagt: „Du wirst sie wiedererkennen.“ Und sie hatte recht: als ich in die Empfangshalle trat, schaute ich mich um und sah eine Frau, die Julie bis aufs Haar glich: ihre Zwillingsschwester.

Hey, you must be Annie“, begrüßte mich, nachdem ich mich ihr genähert hatte. „That‘s right“, sagte ich und nickte. „Had a good flight?“ Ich nickte wieder.

Ich folgte Margret zum Auto und wir fuhren los. Auf dem Weg stellte sie mir ein paar Fragen über mich und meine Familie und sie erzählte, dass sie gerade noch eine andere Aushilfe hatten und noch eine weitere bekommen würden. „Es gibt so viel zu tun im Sommer“, seufzte Margret auf Englisch. „Da kommt man echt zu nichts neben der Arbeit.“ Obwohl Margret und Julie äußerlich nicht zu unterscheiden waren, schienen sie – so war zumindest mein erster Eindruck – komplett unterschiedlich zu sein. Julie war aufgeweckt und redete und lachte viel. Magret schien eher so der ruhige und schweigsame Typ zu sein, was mir auch recht schien. Der Rest der Fahrt zu Farm verlief recht still.

Als wir auf den Hof fuhren, wurden wir schon schwanzwedelnd von zwei Hunden begrüßt. „That are Toby and Luna“, stellte sie mir die Vierbeiner sofort vor. „They don‘t bite“, ergänzte sie, als sie mein leicht verängstigtes Gesicht sah. Ich hatte keine Angst vor Hunden, begegnete aber den etwas stürmischen Exemplaren lieber mit ein wenig Abstand. Margret begrüßte die Hunde, indem sie ihnen über die Köpfe streichelte.

Ich holte meine Sachen aus dem Kofferraum und mit den Hunden im Schlepptau betraten wir das Haus. Von außen sah es wirklich so aus, wie man ein solches Farmhaus aus Holz aus den Filmen kannte. Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Ich hatte die Bauernhofromantik immer für ein wenig kitschig gehalten und nun würde ich das vielleicht alles selbst erleben.

Neben den zwei Hunden entdeckte ich auch noch zwei schwarze Katzen. „Das sind Blacky und Spot“, sagte Margret. „James! Come and meet our new Wwofer“, rief sie dann. Ich hörte, wie sich im oberen Stockwerk eine Tür öffnete, dann hörte ich die alte Holztreppe knarzen und wenige Momente später stand er vor mir. „Hey! I‘m James. Nice to meet you“, stellte er sich vor und reichte mir die Hand. Ich schlug ein und sagte: „Annie. Nice to meet you, too.“ „Henry, unser anderer Wwofer, ist wahrscheinlich gerade noch auf dem Feld, du lernst ihn dann heute Abend kennen. Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“

Ich folgte Margret die Treppe nach oben. „Das hier ist das Zimmer von Henry“, sagte sie und deutete auf eine geschlossene Tür. „Das hier ist deins.“ Sie deutete auf die Tür daneben. Sie öffnete sie und ich betrat das Zimmer. „Es ist nicht sonderlich groß“, sagte Margret fast entschuldigend. „Und ein Bad müsst ihr euch beide auch teilen.“ „Das ist okay“, sagte ich. „Ich lass dich dann mal auspacken und ein wenig ausruhen. Kannst dann ja einfach runterkommen.“

„Okay, danke“, sagte ich noch einmal, weil mir mehr in dem Moment einfach nicht einfiel. Ich legte meinen Rucksack auf das Bett und legte mich daneben, weil der Jetlag mich einfach wieder überkam.

Ich musste wohl doch ein wenig eingenickt sein, denn als ich aufwachte, hatte sich der Sonnenstand schon wieder verändert. Ich stand auf und trat auf den kleinen Flur. Auf der Etage gab es nur noch zwei weitere Türen, also musste eines davon das Badezimmer sein. Ich probierte die Tür neben meiner, doch hinter ihr verbarg sich nur ein weiteres Schlafzimmer. Das Badezimmer daneben war groß und hell und hatte sogar eine Eckbadewanne. Ich spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht, um mich etwas frisch zu machen, dann ging ich die Treppe hinunter zu Margret und James. Anschleichen war in diesem Haus unmöglich, denn meine Schritte wurden durch die knarzenden Stufen verstärkt.

Hey! Everything‘s fine?“, fragte Margret, die schon am Herd stand und das Abendessen vorbereitete. „Yeah“, sagte ich.

Had a good sleep?“

Ich musste lächeln und nickte dann. „Sorry, didn‘t want to“, schob ich dann hinterher.

That‘s totally okay. First days are always exhausting. We call them the ‚Jetlag-Days‘.“ Nach einer kurzen Pause sagte sie: „By the way, dinner‘s almost finished“

„Kann ich noch etwas helfen?“, fragte ich.

„Die kannst du auf den Tisch stellen“, sagte Margret und deutete auf einen Stapel Teller. Ich tat, wie sie es mir aufgetragen hat.

Ich war gerade fertig damit, als sich die Tür öffnete und ein junger Mann in etwa meinem Alter eintrat. Er schaute mich überrascht an. „Oh, a new face“, sagte er und trat auf mich zu. „Henry“, stellte er sich vor. „Anne“, erwiderte ich, wie so oft in der letzten Zeit. Ich hatte das Gefühl ich hatten in den letzten zwei Wochen fast mehr Menschen kennengelernt, als in den achtzehn Jahren davor. „Wo kommst du her?“, fragte Henry auf Englisch weiter. „Deutschland“, antwortete ich. „Und du?“ „Australien.“

„Da wollte ich auch schon immer mal hin“, sagte ich. „Wie so viele Deutsche“, lachte Henry. „Wir werden gerade nahezu von Leuten wie dir übervölkert.“ „Was treibt dich dann hierher, wenn es nicht gerade die Flucht vor den Deutschen ist?“, wollte ich wissen.

„Ich wollte mal was anderes sehen als staubige rote Erde“, sagte er, immer noch mit diesem fast unwiderstehlichen Lächeln im Gesicht. „Ich geh lieber vor dem Essen erst noch einmal duschen“, sagte er und verschwand die Treppe hoch.

„Wo kommst du genau her?“, wollte ich wissen, nachdem wir uns alle zusammen an den Tisch gesetzt hatten und jeder etwas zu essen auf seinem Teller hatte.

„Sydney. Und das mit der roten Erde war eigentlich nur ein Witz“, antwortete Henry. „Ich wollte wirklich endlich mal n bisschen Natur sehen und raus aus der Großstadt. Wie sieht‘s bei dir aus?“

„Bei mir ist es eigentlich genau das Gegenteil: raus aus der Kleinstadt und mal was erleben“, sagte ich und erzählte in Kürze, wie ich hierhergekommen war.

„Und bei euch gibt‘s keine Farmen?“

„Doch, aber die sind nicht so groß und vor allem nicht so schön“, sagte ich und lächelte dabei Margret und James zu.

„Und was wirst du dann tun? Wirst du ein paar Wochen hierbleiben und dann weiterziehen?“

„Ich weiß es noch nicht“, gestand ich. „Im Moment lasse ich mich von jedem Tag überraschen.“ Ich versuchte, das ein wenig witzig zu sagen, aber gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich mir immer noch keine Gedanken darüber gemacht hatte, was ich nach dieser Zeit mit meinem Leben anfangen wollte.

„Und was wirst du anschließen tun?“, stellte ich die Frage zurück.

„Ich denke, ich gehe an die Uni und werde studieren, aber um ehrlich zu sein, bin ich genau in der gleichen Situation wie du.“ Insgeheim freute ich mich ein wenig, dass es Henry nicht anders als mir ging.

Um das Thema zu wechseln, wann ich mich an Margret und James. „Wie seid ihr eigentlich damals darauf gekommen, die Farm hier aufzubauen?“

„Oh, das ist schon lange her und an die Einzelheiten erinnere ich mich auch nicht mehr so genau“, setzte Margret an. „Ich glaube, es war damals einfach die Lust und die Gelegenheit etwas Neues aufzubauen. Das Haus hier war ziemlich heruntergekommen und wir mussten viel Arbeit reinstecken und auch um die Felder hat sich lange niemand richtig gekümmert, aber je mehr wir investiert hatten, desto mehr haben wir daran geglaubt, dass wir es schaffen können.“ James nickte zustimmend. „Am Anfang war es wirklich ein wenig schwierig, aber heute laufen die Geschäfte ganz gut“, fügte er hinzu. „Natürlich gab es auch mal schwierige Zeiten, aber man sollte nicht aufgeben, wenn man einen Traum hat.“ James schaute Henry und mich eindringlich an. Was wollte er uns sagen? Natürlich, man sollte an seine Träume glauben, aber ich hatte momentan einfach keinen. Mein Traum war es, herauszufinden, was ich aus meinem Leben machen wollte.

„Wann fangen wir eigentlich immer an?“, fragte ich gegen Ende, als alle volle Bäuche hatten. „Um acht“, sagte Margret. „Morgen hast du allerdings noch einen Tag Schonfrist. Das dauert ja immer ein paar Tage mit dem Jetlag.“

„Okay“, sagte ich dankbar. „Was steht dann immer so an?“

„Das erkläre ich dir dann morgen früh bei der Runde“, antwortete sie.

„Sprichst du eigentlich oft mit deiner Familie?“, fragte ich Henry später, als wir gemeinsam zu unseren Zimmern gingen.

„Es geht. Hat nichts damit zu tun, dass ich sie nicht mag, aber immer, wenn ich mit ihnen gesprochen habe, fällt mir auf, wie sehr ich sie vermisse“, gestand er. Ich wunderte mich ein wenig über diese Ehrlichkeit, denn aus meiner Erfahrung setzten Jungs alles daran, um möglichst cool und hart zu wirken.

„Wie sieht es bei dir aus?“, fragte er zurück.

„Ich habe bislang nicht sehr oft mit meinen Eltern gesprochen“, sagte ich. Irgendwie war alles in letzter Zeit ein wenig stressig, dass ich nicht dran denke, auch wenn ich mir vorstellen kann, dass meine Mutter vor Sorge zu Hause die Wände hochgeht.“ Henry lächelte. „Ich habe mit meinen Eltern ausgemacht, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, wenn ich mich mal nicht melde, aber trotzdem freuen sie sich immer drüber, wenn ich dann anrufe. Und dann kommt ja noch die Zeitverschiebung dazu. Von hier aus gesehen ist es 19 Stunden später.“

„Wooooooow“, entglitt es mir. Henry lachte.

„Na gut, ich hau mich dann mal hin. Gute Nacht. Bis morgen.“

„Bis morgen“, sagte ich und ging zum Zimmer nebenan.

Die falsche Ecke der Heide

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