Читать книгу Im Sog der Nacht - Fredrik Skagen - Страница 5

2

Оглавление

Im Übereifer würgte er den Motor ab. Er fürchtete, Frank würde ihn zurechtweisen, doch dieser schwieg. Fünf Minuten später sahen sie die Rückseite des Bankgebäudes, auf der es nur ein Fenster gab. Als Roger auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes – nur wenige Meter von Franks früherer Wohnung entfernt – anhielt und den Motor abstellte, zeigte die Uhr am Armaturenbrett genau 16 Uhr. Es hatte bereits zu dämmern begonnen, doch was ihnen in erster Linie zugute kam, war der Wind. Die wenigen Passanten, die sich auf der Straße aufhielten, waren vollauf damit beschäftigt, sich durch das Schneegestöber zu kämpfen, und achteten nicht auf parkende Autos.

Alle drei fassten das Ziel ihres Vorhabens ins Auge.

»Da kommt schon die erste Schlampe.«

Eine stämmige Frau tauchte unter dem Vorsprung auf und drückte sich eng an der Wand entlang, bis sie die Ecke des Gebäudes erreichte, an der sie ein Windstoß erfasste und sofort auf die Straße trieb.

»Da kommen die beiden anderen.«

Die Frauen zogen ihre Mäntel eng um sich und gingen auf einen kleinen Fiat neueren Datums zu.

»Da schau her, Frau Berg hat wohl eine Gehaltserhöhung bekommen. Hoffentlich wird die nicht rückgängig gemacht, wenn wir hier fertig sind.«

Roger beobachtete die beiden Frauen, die im Wagen Platz genommen hatten. Sie fummelten eine Ewigkeit an den Sicherheitsgurten herum, bevor endlich die Scheinwerfer aufflammten.

»Jetzt, Frank?«

»Wart, bis sie weg sind. So eilig haben wir’s auch wieder nicht.«

Roger startete den Wagen und ließ ihn auf den kleinen Parkplatz rollen, der sich neben der Bank befand. Der alte Audi war nicht das einzige Auto, das dort parkte, was zu dieser Tageszeit nicht verwunderlich war. Er hatte die Kurve zwar richtig berechnet, jedoch Schwierigkeiten mit dem Zurücksetzen und musste umständlich rangieren, um schließlich so nah an der Wand zu stehen, wie Frank es von ihm verlangte. Als die hintere Stoßstange ungefähr einen halben Meter von der Tür entfernt war, stellte er den Motor ab und entriegelte von innen den Kofferraumdeckel. Frank strich sich mit dem Finger über die Lippen. Er und Roger stiegen aus, schlossen die Türen so leise wie möglich und eilten zum Heck des Wagens. Nachdem Frank den Kofferraumdeckel geöffnet hatte, konnten sie beinahe aufrecht stehen, ohne vom Parkplatz aus gesehen zu werden. Und wenn der Filialleiter uns bereits durch das Fenster beobachtet hat?, dachte Roger. Im Kofferraum lagen die Wollmasken neben den schwarzen Handschuhen und den Waffen. Sie zogen sich die Masken über den Kopf. Lisa hatte die Öffnungen so weit verengt, dass nur noch die Augen sichtbar waren. Sie saß immer noch im Wagen, weil hinter diesem gar nicht genug Platz für alle war, wenn der Filialleiter nach draußen trat, um die Tür abzuschließen. Sie waren darauf angewiesen, dass er durch diese Tür kommen würde, denn eine andere Gelegenheit, ins Haus einzudringen, hatten sie nicht. Jetzt blieb ihnen nur eines zu tun: abzuwarten, bis der Filialleiter seine Aufräumarbeiten beendet hatte und endlich geruhte, nach Hause zu fahren. Frank hatte gesagt, dies dauere in der Regel nur fünf Minuten, doch für Roger schien die Zeit stillzustehen. Was ist, wenn der Filialleiter heute Überstunden macht?, ging es ihm durch den Kopf. Bisher war alles gut gegangen, doch jetzt spürte er, wie sein Puls in die Höhe schnellte. Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Eigentlich wäre ich schon tot. Er konnte immer noch Nein sagen, das Gewehr wegwerfen und sich aus dem Staub machen. Sich von Frank und seinem wahnwitzigen Vorhaben distanzieren. Ein neues und besseres Leben beginnen. Aber wie nur? Hatte er denn schon vergessen, dass er Frank die Möglichkeit auf ein besseres Leben verdankte? Sie standen auf verschiedenen Seiten des Wagens und schauten sich in die Augen. Der Mann, den er anblickte, sah mit seiner schwarzen Kleidung und dem Gewehr in der Hand ziemlich bedrohlich aus. Vermutlich so wie er selbst: vermummt, gefährlich und Furcht einflößend – fast wie im Film. Der einzige Unterschied zwischen ihnen war, dass Frank zehn Zentimeter größer war als er und ein doppelläufiges Gewehr hatte. Seine Hand krampfte sich um den Schaft der eigenen Waffe, und je härter er zupackte, desto heftiger schlug sein Herz. Wann kam der verdammte Geschäftsführer endlich heraus?

Dann hörten sie ein Geräusch. Ein Geräusch, das lauter war als das Pfeifen des Windes und nicht aus dem Inneren der Bank, sondern vom Platz her kam.

Herrgott, die Operation verlief alles andere als nach Plan. Auch Frank war auf das Brummen des Motors aufmerksam geworden. Roger überließ es ihm, der Ursache auf den Grund zu gehen, und sah Frank durch den Spalt zwischen Auto und Hauswand spähen. Lisa hatte vom Rücksitz aus die beste Sicht. Sie selbst war wegen des geöffneten Kofferraumdeckels nicht zu sehen, hatte aber zweifellos die Tür einen Spalt breit geöffnet, denn er hörte sie etwas flüstern. Frank nickte und stellte sich wieder an seinen alten Platz gegenüber von Roger. Er schüttelte schwach den Kopf, um zu signalisieren, dass keine Gefahr im Verzug war. Das Auto hatte ein anderes Ziel als die Bank.

Im nächsten Augenblick hörte er ein weiteres Geräusch, und diesmal kam es von innen. Wie gebannt starrte er auf die sich senkende Türklinke. Es war so weit. Jetzt war es für einen Rückzug zu spät. Nun würde sich zeigen, wozu er taugte. Der perfekte Überfall. Ausgerechnet in diesem Moment begann er so sehr zu zittern, dass er fast das Gewehr hätte fallen lassen.

Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück, um die aufschwingende Tür nicht gegen den Kopf zu bekommen. Es war Frank, der auf der richtigen Seite stand. Er, der sah, wie die Tür sich immer weiter öffnete. Er, der die Initiative ergreifen musste.

»Hände hoch!«, rief er erwartungsgemäß. Roger tat es ihm nach, darauf vorbereitet, einem verschreckten Mann mit ängstlichem Blick zu begegnen. Doch zu seiner Überraschung erschien in der Türöffnung ein kleines Mädchen mit marineblauem Anorak, das kaum älter als sieben, acht Jahre sein konnte. Das unnatürlich braune Gesicht wirkte mehr verwundert als ängstlich.

»Papa, da will jemand mit dir sprechen!«, rief es.

Frank drehte sich zu Roger und fauchte: »Hol Lisa!«

Roger gehorchte verwirrt, öffnete die Tür zum Rücksitz und rief: »Komm raus, der Filialleiter hat offenbar seine Tochter dabei!«

Lisa zog sich augenblicklich ihre Maske über den Kopf, griff sich die Adidastasche und sprang aus dem Wagen. Als sie den schmalen Gang betraten, sahen sie, dass Frank sein Gewehr auf das Kind richtete. Ein korpulenter Mann mit halb zugeknöpftem Mantel tauchte in der Türöffnung auf. Auch sein Gesicht war braun gebrannt – Vater und Tochter kamen offensichtlich direkt aus dem Urlaub.

»Hände hoch!«

Der Filialleiter kam der Aufforderung nur zögerlich nach, als könne er nicht glauben, dass so etwas in seiner Bank möglich war. »Wenn dies ein Scherz sein soll ...«

»Du kannst Gift darauf nehmen, dass dies ein Überfall ist!«, schrie Frank.

Erst jetzt bekam das Mädchen wirklich Angst. Sie drückte sich an den Vater und starrte ihn mit großen Augen flehentlich an.

»Geh zu Mama«, sagte der Filialleiter. »Ich kümmere mich um die Herrschaften.«

Die Mutter ist auch da, dachte Roger erschrocken. Frank hatte ihnen versichert, dass der Mann allein sein würde. Stattdessen schien sich der Überfall zu einer grotesken Familienangelegenheit zu entwickeln. Am liebsten hätte er sich klammheimlich verdrückt, doch Lisa hatte die Hintertür schon geschlossen. Sie flüsterte ihm ins Ohr:

»Lauf hinter ihr her und pass auf, dass die Mutter nicht die Bullen anruft.«

Doch Frank hatte sich bereits an ihre Fersen geheftet, woraufhin Roger seine Waffe auf den Filialleiter richtete. Der hatte offenbar den Ernst der Lage erkannt und streckte die Hände über den Kopf. Die Bräune war aus seinem Gesicht gewichen. Roger fühlte sich obenauf. Der Typ war ein Waschlappen, ein verdammter Kapitalist, der einen Denkzettel verdiente. Er machte eine Geste mit dem abgesägten Lauf, und der Mann gehorchte auf der Stelle, bewegte sich mit vorsichtigen Seitenschritten in das angrenzende Büro, dessen Fenster auf den Platz hinausging. Wie leicht alles war!

Die Mutter, ebenfalls mit sonnengebräuntem Gesicht und einem moosgrünen Mantel, drückte sich an einen Aktenschrank und hatte ihre Armen beschützend um das Mädchen geschlungen.

»Sind noch mehr von euch hier?«, knurrte Frank.

Der Filialleiter schüttelte den Kopf.

»Also rück das Geld raus. Jede einzelne Krone.«

»In der Kasse sind keine großen ...«

»Ich scheiß auf das Kleingeld. Ich meine den Safe!«

»Tu, was er sagt, Jens.« Das resolute Kommando kam von der Frau.

»Ja, tu, was Mama dir sagt, Jens. Und wenn du versuchst, den Alarm auszulösen, dann knallt’s!«

Als der Mann gehorsam nickte, begriff Roger, dass ihnen der Zufall in die Hände spielte. In Gegenwart von Frau und Kind würde der Filialleiter gar nicht erst versuchen, den Helden zu spielen. Von nun an waren Vater, Mutter und Kind hilflose Marionetten, die an den Fäden der Puppenspieler hingen. Frank und er konnten sie nach Belieben tanzen lassen.

»Der Safe ist im Raum nebenan.«

»Weiß ich, also los!«

Frank stieß ihm sein Gewehr in den Rücken. Der Filialleiter stolperte auf den Gang hinaus. Lisa folgte ihm mit der Tasche. Roger stellte sich neben das Fenster. Dank seiner zwei Komplizen hatte er den leichtesten Job. Eigentlich hatte Lisa am Fenster stehen und den Parkplatz kontrollieren sollen. In regelmäßigen Abständen warf er einen Blick nach draußen, behielt aber in erster Linie Mutter und Tochter im Auge. Sein Zeigefinger lag am Abzug, doch er zielte nicht auf sie. Die Mutter stand stocksteif da und starrte ihn an. Ihre Haare wirkten ebenso sonnengebleicht wie die ihrer Tochter, doch ihre Augen waren dunkel und hasserfüllt. Er vermutete, dass ihr Herz vor Angst raste. Sein eigenes Herz pochte ebenfalls ziemlich rasch. Würde sie später in der Lage sein, eine genaue Beschreibung des bedrohlichen Manns mit dem Gewehr abzugeben? Nein, die Maskierung war so perfekt, dass sich jeder darunter hätte verbergen können. Zwei blaue Augen in den Schlitzen verrieten so gut wie nichts.

Draußen rollte ein Ford Sierra vom Parkplatz. Ein Windstoß fegte den Schnee beiseite, der darunter gelegen hatte. Er hörte Franks Kommando aus dem Nebenzimmer. Niemand wäre darauf gekommen, dass Frank aus Trondheim stammte, so perfekt imitierte er den Osloer Dialekt. Das Mädchen begann zu weinen.

»Wird er uns erschießen, Mama?«

»Hab keine Angst, Merete, er will uns nichts tun. Bleib ganz ruhig, dann geht alles gut.«

»Du hast gesagt, dass wir nach Hause fahren!«

»Bald, Merete, bald.« Die Mutter hob den Kopf und schaute Roger flehentlich an. »Kann sie nicht solange draußen warten?«

Fast musste er lachen. Was bildete sich diese Frau nur ein? Glaubte sie etwa, alles sei nur ein Scherz? Er antwortete nicht, schüttelte aber entschieden den Kopf. Verlieh seiner Ablehnung Nachdruck, indem er die Waffe ein wenig hob. Die Frau zog das Mädchen enger an sich und strich ihr über den Kopf. Dennoch redete sie weiter. Ihre Stimme zitterte nicht einmal:

»Warum tun Sie so etwas? Wissen Sie nicht, was für einen Schaden Sie bei einem kleinen Kind anrichten können?«

Als das nichts nutzte, versuchte sie es anders:

»Ich bin sicher, dass Sie noch jung sind. Das ganze Leben liegt vor Ihnen. Warum zerstören Sie Ihre Möglichkeiten? Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass die meisten Bankräuber geschnappt werden und im Gefängnis landen.«

Die Frau in dem grünen Mantel war offenbar mutiger als ihr Mann. Oder sie begriff nicht, wie gefährlich ihr Verhalten in dieser Situation war. Höchste Zeit, sich Respekt zu verschaffen.

»Wenn Sie Ihr Gewehr weglegen, wird man das zu Ihren Gunsten auslegen«, argumentierte sie.

Da verlor Roger die Geduld und schrie sie an: »Halt die Schnauze, du alte Schlampe!«

Das wirkte. Die Frau zuckte zusammen und presste die Lippen aufeinander. Verstand offensichtlich, dass ihr weitere Argumente nichts einbrachten. Schweigend streichelte sie ihrer Tochter den Kopf. Erneut warf Roger einen Blick aus dem Fenster. Der Wind schien sich fast gelegt zu haben. Es war auch ein wenig dunkler geworden. Nur ein wenig, aber es führte doch dazu, dass die Straßenlaternen angeschaltet wurden. Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Lieber wäre er im Nebenzimmer gewesen, in dem etwas geschah, in dem der Filialleiter inzwischen hoffentlich den Safe geöffnet hatte. Er musste darauf vertrauen, dass Frank und Lisa gute Arbeit leisteten. Wie groß würde ihre Beute sein? Eine halbe Million? Eine ganze? Vielleicht noch mehr? Vielleicht genug, um ...

Er zuckte zusammen.

Ein unheilschwangeres Geräusch kam näher und gellte in seinen Ohren, das schlimmste aller Geräusche, das, vor dem er am meisten Angst gehabt hatte. Eine Sirene. In seinen Träumen hatte er sie gehört. Die Sirene eines Polizeiautos. Rasch wurde sie lauter, dröhnte in seinem Kopf und trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn. Die Bullen kamen. Der verdammte Filialleiter musste unbemerkt den Alarm ausgelöst haben.

Lisa erschien in der Türöffnung.

»Siehst du was?«

»Nein.«

Als ginge ihnen in diesem Moment derselbe Gedanke durch den Kopf, wandten beide ihre Köpfe ruckartig zur Frau des Filialleiters um. Diese schien nicht minder erschrocken, und Roger begriff, warum. Sie hatte gedacht, dass die Bankräuber sie in Ruhe lassen und sich aus dem Staub machen würden, sobald sie die Beute verstaut hatten. Jetzt rechnete sie offenbar mit einem möglichen Geiseldrama mit den schlimmsten Folgen für ihre kleine Familie.

Während Lisa sich ans Fenster stellte, um hinauszusehen, war Roger wie gelähmt und konnte seinen Blick nicht von Mutter und Tochter wenden. Eigentlich wollte ich gar nicht mitmachen. Er krümmte die Zehen zusammen, während das Geräusch zu einem ohrenbetäubenden Crescendo anschwoll.

Im Sog der Nacht

Подняться наверх