Читать книгу Im Sog der Nacht - Fredrik Skagen - Страница 6
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ОглавлениеAls das Heulen schwächer wurde und einen völlig anderen Charakter annahm, wurde Roger beinahe übel vor Erleichterung. Das nannte man Dopplereffekt, so viel wusste er. Der Einsatzwagen war an der Vorderseite der Bank vorbeigefahren und entfernte sich. Dass ihm der Schweiß nicht in die Augen lief lag daran, dass er von dem Stoff über der Stirn aufgesaugt wurde. Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen. Es glotzte Lisa an, die sich zu Roger umdrehte und ihm einen freundschaftlichen Stoß gab. Aus Erleichterung, glaubte er. Roger schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte, und spürte die Feuchtigkeit seiner Handflächen in den Handschuhen. Und als er von einem Bein auf das andere trat, bemerkte er, wie weich seine Knie geworden waren. Er verfluchte denjenigen, der die Polizei oder einen Krankenwagen verständigt hatte. Beim nächsten Schreck würde er vor Angst umkommen.
Lisa lief aus dem Zimmer, war aber im nächsten Moment zurück und winkte die Geiseln mit der Hand zu sich. »Schnell jetzt!«
Die Frau legte dem Kind den Arm um die Schultern und führte es zur Tür. Sie folgten Lisa auf den Flur und in das Nebenzimmer hinein. Roger, der hinter ihnen herging, blieb in der Türöffnung stehen. Der Anblick, der sich ihm bot, war keineswegs überraschend. In dem spärlich eingerichteten Raum war nur sehr wenig Platz. Die hellgrünen Wände hatten keine Fenster. Die Tür des Tresors stand offen. Der untersetzte Filialleiter hatte seinen Mantel über den einzigen Stuhl des Raumes gelegt. Er stand kerzengerade da und ließ die Hände schlaff herunterhängen, als müsse er sich von schwerer Arbeit erholen. Frank hatte sicher nur zugeschaut, während der Mann die Geldbündel aus dem Safe geholt hatte. Dem Filialleiter huschte ein Lächeln übers Gesicht, als er sah, dass Frau und Tochter unversehrt waren. Sie stellten sich neben ihn. Frank nahm die Tasche und trug sie auf den Gang hinaus. Sie schien nicht mehr leer zu sein.
»Schieß, wenn sie Schwierigkeiten machen!«, sagte er zu Roger.
Zusammen mit Lisa trat er auf den Gang hinaus. Roger rechnete damit, dass sie noch das Geld, das sich möglicherweise in den Kassen im Schalterraum befand, mitgehen lassen wollten. Frank hatte anfangs zwar gesagt, er scheiße auf das Kleingeld, aber jetzt schien er es sich anders überlegt zu haben. Weil die Ausbeute bisher enttäuschend war? Weil seine Gier überhand genommen hatte? Herrgott, sie sollten sehen, dass sie die Kurve kriegten, bevor doch noch jemand Alarm auslöste und ihre Träume zunichte machte. Die nächste Sirene konnte ihnen gelten.
Glücklicherweise schienen die drei Menschen, die sich eng aneinander drückten, um ihr Leben zu fürchten. Er sah keinen Anlass mehr, sie zu zwingen, die Hände nach oben zu halten. Das Mädchen hatte aufgehört zu schluchzen. Es stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte seinen Eltern etwas zu. Sie erschießen? Nein, es würde nicht einmal notwendig sein, einen Warnschuss abzugeben. Frank konnte das unmöglich ernst gemeint haben. Doch wusste er eigentlich, wie weit dieser in einer prekären Situation gehen würde? Dieser Gedanke ließ ihn frösteln. Er respektierte und bewunderte Frank, der ihn vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Dennoch lag etwas Finsteres und Bedrohliches in seinem Blick, das ihm Angst machte. Was war mit ihm selbst, Roger Dalvang? War er viel besser? Vor nicht einmal einer Woche hatte er – nach reiflicher Überlegung – das Gewehr auf sich selbst gerichtet, um seinem Leben ein Ende zu machen. Aber das war etwas ganz anderes gewesen. Eigentlich sollte er nicht zulassen, dass Eltern und Tochter miteinander tuschelten; der Filialleiter konnte dies als Zeichen der Schwäche deuten.
»Was sagt die Kleine?«
Der Klang seiner Stimme ließ sie zusammenschrecken, was ihm gut gefiel. Er hatte sie unter Kontrolle.
»Sie sagt nur, dass die Frau Lisa heißt«, antwortete die Mutter.
»Hm.«
Das Mädchen hatte offenbar gut aufgepasst, als sie unvermutet in der Tür gestanden und Frank ihn aufgefordert hatte, Lisa zu holen. Doch erst als der Filialleiter seiner Frau einen warnenden Blick zuwarf, begriff Roger, was es bedeutete, dass Frank in seiner Erregung den Namen einer Komplizin ausgeplaudert hatte. Damit hatte die Polizei einen ersten Anhaltspunkt bei der Fahndung nach ihnen. Frank war bei weitem nicht so professionell, wie er vorgab. Er hatte sie zu größter Wachsamkeit angehalten, und dann beging er selbst bei der ersten Gelegenheit einen so kapitalen Fehler. Dieses eine Wort konnte ausreichen, um sie alle hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Jetzt hatte er nicht nur kalten Schweiß auf der Stirn, sondern spürte, wie ihm kleine Bäche aus den Armhöhlen hinunterliefen. Ihm war klar, dass er Frank, der gesagt hatte Schieß, wenn sie Schwierigkeiten machen, warnen sollte. Er blieb im Türrahmen stehen und trippelte auf der Stelle, vor Unschlüssigkeit – und vor Angst. Was war, wenn Frank beschloss, die drei wegen seines Leichtsinns – seines eigenen Leichtsinns! – einfach umzubringen?
Der Filialleiter hatte den Kopf gehoben und blickte ihn mit sonderbarem Ausdruck an. Ahnte er, dass Roger in diesem Moment mit seinem Gewissen rang?
Roger entschloss sich zu schweigen, zumindest vorläufig. Lisa war doch ein ziemlich geläufiger Name. Wenn sie nur endlich fertig würden und die verdammten Münzen liegen ließen. Die ganze Aktion war sehr viel schlimmer, als er sie sich vorgestellt hatte. Obwohl sie als Angreifer die Oberhand hatten, piesackte ihn die Angst wie eine Horde aufgeschreckter Ameisen. Innerhalb der Familie wurde kein Wort mehr gewechselt. Sie schauten ihn bloß ernst und anklagend an, starrten so, dass sein Zwerchfell schmerzte und die Wut in ihm hochkochte. Kein Laut war zu hören. Keine Uhr tickte, um zu signalisieren, dass die Zeit verstrich. Nicht ein Laut ... Eine neue Angst hatte ihn im Nacken gepackt – was war, wenn Frank und Lisa gar nicht nach Kleingeld suchten? Wenn sie die Bank durch den Vordereingang verlassen hatten und sich längst im Auto befanden, um von hier zu verschwinden? Für den Bruchteil einer Sekunde sah er den Corolla in Richtung Süden fahren, Frank lächelnd am Steuer, Lisa lächelnd neben ihm und die Geldtasche auf dem Rücksitz. Lächelnd, weil sie keine Verwendung für den Amateur Roger Dalvang mehr hatten. Er umfasste die Waffe noch fester, packte zu, um nicht die Besinnung zu verlieren. Aber das reichte nicht aus. Er musste nachschauen, ob sie ihn nicht im Stich gelassen hatten. Schon wollte er Frank! rufen, hütete sich aber im letzten Moment davor, dessen Fehler zu wiederholen. Im Grund konnte er sich bei dem kleinen Mädchen bedanken, das plötzlich die Stille gebrochen hatte:
»Mama, ich muss aufs Klo.«
Im selben Moment hörte er rasche Schritte näher kommen. Es war vorbei. Endlich konnten sie fahren.
Frank, die Adidastasche in einer, das Gewehr in der anderen Hand, stieß ihn zur Seite und auf den Gang hinaus.
»Gibt es einen Schlüssel zu diesem Raum?«, fragte er.
Der Filialleiter deutete auf die Tür.
»Der Schlüssel steckt. Aber bitte schließen Sie uns hier nicht ein. Wir kriegen keine ...«
»Für wie blöd halten Sie uns eigentlich?«
»Ich bitte Sie. In diesem Raum gibt es keine Frischluftzufuhr. Wir werden ersticken.«
»Ein Kerl wie Sie wird die Tür schon irgendwann aufbekommen.«
»Ich flehe Sie an! Die Kleine muss mal ...«
»Nur zu.«
Frank gab Roger die Tasche. Mit der freien Hand begann er die Tür zuzuziehen. In diesem Moment machte die Frau des Filialleiters einen unüberlegten Sprung nach vorne, um ihn daran zu hindern. Frank trat einen Schritt zur Seite, ließ die Klinke los und riss die Waffe hoch. Der kurze Doppellauf der Flinte traf die Frau genau an der Nahtstelle zwischen Mantelkragen und nacktem Hals. Sie sank zu Boden und blieb reglos auf dem Bauch liegen.
»Verdammte Schlampe!«, schrie Frank.
Während sich der Filialleiter zu seiner Frau hinunter beugte, knallte Frank die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Roger brachte keinen Ton heraus und wollte nichts wie weg.
Als Lisa die Tür nach draußen öffnete, blies ihnen der Wind ins Gesicht, der in der Zwischenzeit den Kofferraumdeckel zugeschlagen hatte, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Lisa warf die Tasche auf den Rücksitz und sprang hinterher, während sich die beiden anderen ebenso schnell auf ihre Sitze warfen. Auf dem offenen Platz waren keine Menschen zu sehen. Nur der Audi stand neben zwei anderen Wagen am Straßenrand. Rogers Hände zitterten so sehr, dass er sie nicht klar erkennen konnte. Sein ganzer Körper schien unter Strom zu stehen. Es wunderte ihn, dass er überhaupt in der Lage war, den Autoschlüssel ins Zündschloss zu stecken.
»Runter mit den Masken!«, kommandierte Frank. »Weg mit den Anzügen und Handschuhen.«
Sie gehorchten wie gedrillte Soldaten, bevor Roger Gas gab.
»Nach rechts, nicht zu schnell!« Franks Stimme zitterte unmerklich.
Roger, dem klar war, dass er keine absolute Kontrolle über seine Bewegungen hatte, steuerte den Wagen mit größter Sorgfalt. Er bog zwei weitere Male nach rechts ab, bevor sie an der Vorderseite der Bank vorbeifuhren, so, wie sie es bereits vor einer Stunde getan hatten. Es war beinahe 16 Uhr 30; kaum zu glauben, dass sie höchstens zwanzig Minuten in der Bank zugebracht hatten. Alles schien unverändert. Von draußen betrachtet, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass diese Bank soeben ausgeraubt worden war.
»Glückwunsch, Jungs!«, kam es von Lisa.
Frank war dies offenbar zu voreilig. »Weiter geradeaus«, sagte er zu Roger. »Am Klett-Kreuz fahren wir auf die Autobahn.«
Die Dämmerung war nun weit fortgeschritten. Sie gerieten nicht in Versuchung, zu schnell zu fahren, da sie sich bald im dichten Feierabendverkehr befanden, der nur langsam vorankam.
»Glaubst du ... du hast sie ... getötet?«, stotterte Roger.
»Ach was! Einen kleinen Stoß wird die Alte schon vertragen. Ich muss erst mal eine rauchen.«
»Aber ... wenn sie wirklich keine Luft kriegen da drinnen?«
»Das war doch alles nur Gerede. Außerdem können sie von Glück sagen, dass die Knarre nicht losging.«
»Haste echt super gemacht, Frank«, sagte Lisa.
»Bin ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen.«
»Abgesehen davon, dass du Lisas Namen laut gesagt hast«, warf Roger ein.
»Ach, wirklich?«
»Ja, und ich glaube, das Kind hat das mitbekommen.«
»Na und?«
»Sie könnte doch ...« Roger hielt inne. Jetzt hatte er Frank zumindest informiert.
»Hast du wirklich meinen Namen gesagt?«, fragte Lisa ängstlich.
»Und wenn schon. Ich bin doch der Einzige, der dich Lisa nennt. Du heißt schließlich Elisabeth.«
Roger fand diese Antwort alles andere als beruhigend. Der Chef hatte einen Fehler gemacht, wollte dies aber nicht einräumen. Frank wechselte das Thema. »Der Stau gefällt mir nicht. Wir kommen viel zu langsam voran.«
Roger musste ihm Recht geben. Selbst für diese Uhrzeit ging es ungewöhnlich schleppend vorwärts.
»Die Sirene, die wir vorhin gehört haben ...«, begann Lisa. »Vielleicht ist irgendwo ein Unfall passiert.«
»Das werden wir gleich wissen«, sagte Frank. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und begann am Radio zu fummeln. Hielt es an sein Ohr und lauschte.
Eigentlich sollten sie in lauten Jubel ausbrechen, dachte Roger. Sie hatten doch gerade einen nahezu perfekten Bankraub begangen. Niemand folgte ihnen. Niemand wusste, wo sich die Bankräuber jetzt aufhielten. Doch die Anspannung war immer noch spürbar. Dachten auch die beiden anderen daran, dass Franks Versprecher sie um den Lohn ihrer Arbeit bringen konnte? Und was war, wenn Frank wirklich so hart zugeschlagen hatte, dass die Frau starb, noch ehe ihr jemand zu Hilfe eilen konnte? Die Bremslichter des Wagens vor ihnen leuchteten auf, und im nächsten Augenblick kam der Verkehr vollständig zum Erliegen.
»Verdammte Scheiße!«, rief Frank. »Die Bullen sagen, dass die Zufahrt zur Autobahn wegen des Unwetters gesperrt ist. Auf der Autobahn steht schon jetzt der Verkehr still.«
Es bestand kein Zweifel, dass der Wind wieder zugenommen hatte. Aber war er wirklich so stark, dass die frei liegenden Straßen durch Schneeverwehungen nahezu unbefahrbar geworden waren? Die Autoschlange bewegte sich nur hin und wieder ein paar Meter weiter.
»Haben sie was vom Überfall gesagt?«, fragte Lisa.
»Nein, das ist noch zu früh. Die werden noch nicht mal die Tür aufgekriegt haben.«
Nach weiteren hundert Metern stand der Verkehr wieder völlig still. Roger gefiel der Gedanke nicht, der Fahrer hinter ihnen könne sich womöglich die Autonummer des Corolla einprägen. Auf der gegenüberliegenden Fahrspur kamen ihnen nur wenige Fahrzeuge entgegen. Vielleicht hatten sie die Geduld verloren und gewendet. Gesetzt, dass ... Frank schien in diesem Moment derselbe Gedanke zu beschäftigen:
»Mir gefällt das hier nicht. Die Sache mit dem Unwetter könnte ein Bluff sein.«
»Aber du hast doch gerade gesagt, dass ...«
»Vielleicht hat der Typ Alarm ausgelöst, ohne dass wir es bemerkt haben. Außerdem könnten Bullen inzwischen nach dem Wagen fahnden.«
»Scheiße. Sollen wir umdrehen?«
Frank zögerte. »Was meinst du, Lisa?«
»Weiß nicht. Aber ich glaube, es ist keine gute Idee, wieder in Richtung Bank zu fahren. Andererseits ... könnten wir dann wieder in die Stadt zurück, auf die Hütte pfeifen und es uns in unserer schönen Wohnung gemütlich machen.«
»Tja, vielleicht ließe sich das bewerkstelligen, ohne dass Olsen es merkt; sonst wäre nämlich unser Alibi futsch. Und wenn das Auto in Trondheim entdeckt wird, wissen die Bullen, dass die Bankräuber nicht aus Oslo sind.«
»Also kehren wir nicht um?«
»Nein«, sagte Frank. »Am besten wir biegen irgendwo in eine Seitenstraße ab und warten, bis es hier weitergeht. Mach mal das Radio an, Roger. Vielleicht erwischen wir die Lokalnachrichten.« Seine Stimme war hörbar unsicherer geworden.
Roger gehorchte – und schauderte. Die Autos vor ihnen rollten langsam wieder an; er nahm den Fuß vom Bremspedal. Franks Argumente waren nicht gerade überzeugend. Der erste Teil des Plans hatte gut funktioniert, doch Roger hegte wachsende Zweifel, was dessen Fortsetzung betraf. Eine leer stehende Hütte in Oppdal aufzubrechen, um sich dort für ein paar Tage aufzuhalten, ehe sie nach Oslo wollten, um so richtig die Sau rauszulassen, oder auch für eine Weile ins Ausland zu verschwinden, kam ihm etwas vage vor. Konnten sie nicht ebenso gut gleich nach Oslo fahren, um das Auto dort abzustellen, wo man es finden sollte? Auf Rogers Vorschlag hin hatte Frank eingewandt, dass die Polizei im Laufe der Nacht möglicherweise nach dem gestohlenen Wagen Ausschau hielt. Vielleicht war der Austausch des Nummernschilds kein ausreichender Schutz. Falls schon am Klett-Kreuz eine Falle für sie aufgestellt worden war, würden sie direkt hineintappen. Andererseits mussten sie dort vorbei, um zu der weiter südlich gelegenen Hütte zu gelangen.
»Dort«, sagte Frank, »dort geht’s rechts ab.«
»In Ordnung.«