Читать книгу Im Sog der Nacht - Fredrik Skagen - Страница 7
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ОглавлениеNach wenigen Minuten, die Roger wie eine Ewigkeit vorkamen, hatte sich die Autoschlange so weit fortbewegt, dass er das Steuer hart nach rechts einschlagen und abbiegen konnte. Die Straße führte ziemlich steil bergauf, an einigen Villen vorbei bis auf eine kleine Anhöhe, wo sie sich zusehends verengte. Als sie einen Bauernhof passiert hatten, forderten die beiden Roger auf, anzuhalten.
»Hier sind wir für eine Weile in Sicherheit.«
Roger stellte den Motor ab. Der Wind zerrte an der Karosserie. Es gab keinen Niederschlag; nur der lockere Schnee wirbelte auf und wurde wie Puderzucker über die Straße geweht. Sie hatten eine schöne Aussicht über Leinstrand und Klett. Die langen Schlangen der gelben Autolichter und Straßenlampen, die in der Dunkelheit leuchteten, ließen Roger an den glatten Bernstein denken, aus dessen Stücken sich Heidi eine Kette gemacht hatte.
Es war unschwer zu erkennen, dass der Verkehr immer noch stillstand. Während sie darauf warteten, dass er wieder in Gang kam, lauschten sie beiden Radios. Noch war der Überfall nicht erwähnt worden, doch nach einer Weile, während der Lokalnachrichten, bekam der Sprecher offenbar eine Eilmeldung hereingereicht. Roger stellte lauter:
»Soeben erreicht uns die Meldung, dass vor einer halben Stunde ein bewaffneter Überfall auf eine Bankfiliale in Heimdal stattgefunden hat. Unmittelbar nach Geschäftsschluss drangen drei maskierte Männer durch einen Hintereingang in die Bank ein. Eine weibliche Angestellte wurde beim Versuch, sich zur Wehr zu setzen, brutal niedergeschlagen und schwebt seitdem in Lebensgefahr. Den Bankräubern gelang mit den vollständigen Kassenbeständen die Flucht. Um wie viel Geld es sich handelt, ist bislang unbekannt. Personen, die auffällige Vorkommnisse in der Nähe der Bank beobachtet haben, werden gebeten, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen. Wir informieren Sie umgehend, sollten weitere Einzelheiten des Überfalls bekannt werden.«
Nach dieser nicht ganz korrekten Zusammenfassung war Frank der Erste, der die Sprache wiederfand, und er tat es mit lachender Stimme: »Nicht einmal wir wissen, wie viel Kohle wir haben! Vielleicht sollten wir die Pause benutzen, um uns einen ersten Überblick zu verschaff...«
»Dazu haben wir keine Zeit!«, fiel ihm Lisa ins Wort. »Wir sind immer noch viel zu nah an Heimdal. Lass uns sehen, dass wir hier wegkommen.«
Roger schwieg. Während er immer noch die stehende Autoschlange anstarrte, die einige Kilometer von ihnen entfernt war, und seine feuchten Hände sich abwechselnd öffneten und schlossen, wirbelten die Worte durch seinen Kopf: ... und schwebt seitdem in Lebensgefahr. Frank und Lisa schien dies völlig kalt zu lassen. Frank hatte ihm von Anfang an versichert, dass die Waffen nur der Einschüchterung dienten. Dass sie geladen waren, bedeutete nicht, dass sie zu schießen beabsichtigten; es sollte nur ihre Moral stärken und ihnen das nötige Selbstbewusstsein verleihen. Zwar hatte Frank sein Versprechen, nicht zu schießen, eingehalten, die Frau des Filialleiters jedoch auf eine Art und Weise niedergeschlagen, die lebensbedrohlicher sein konnte als eine Ladung Schrot. Warum akzeptierte Lisa sein Verhalten so kritiklos? Weil sie glaubte, die Verletzung sei nicht allzu schwer? Heidi wäre in solch einem Fall durchgedreht. Er selbst nahm offenbar eine Zwischenposition ein.
Es ärgerte ihn, dass er in diesem Moment an Heidi dachte, die nichts mehr von ihm wissen wollte. Vermutlich hatte es an den bernsteinfarbenen Lichtern gelegen. Heidi wollte Schmuckherstellerin werden, und Roger hatte ihr dabei helfen sollen, obwohl er keine Ahnung von diesem Metier hatte. Doch irgendwas war plötzlich schief gelaufen. Vielleicht hatte sie geahnt, dass sie auf ihn nicht bauen konnte, dass seine Psyche zu labil war. Oder sie hatte sich einfach einen anderen Kerl geangelt, der besser zu ihr passte.
Die Bernsteinkette im Tal setzte sich langsam wieder in Bewegung.
»Frank!«
»Schrei nicht so, Roger. Ich sitze direkt neben dir.«
»Ich glaube, der Stau löst sich langsam auf.«
»Ja, sieht so aus.«
Alle drei richteten ihre Blicke auf das Verkehrskreuz bei Klett. Die Autolichter bewegten sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Die Wegsperre hatte nichts mit ihnen zu tun. In Trøndelag provozierte man wegen eines gewöhnlichen Bankraubs doch kein Verkehrschaos. Die Polizei kannte weder die Identität der Täter noch das Auto, in dem sie sich auf der Flucht befanden. Und sie konnte in der Hoffnung, die Verbrecher zu finden, schließlich nicht jedes einzelne Fahrzeug aufs Geratewohl kontrollieren.
An der nächsten Hofeinfahrt wendete Roger den Wagen. Bald konnten sie sich in Kattedamsdalen in den Verkehr einordnen, der sich jetzt flüssig durch die Kurven schlängelte, und wenige Minuten später befanden sie sich wieder auf dem flachen Land, wo sich der stürmische Wind mindestens so stark bemerkbar machte wie in der Höhe. Aufgrund der Wetterverhältnisse fuhr kaum ein Auto schneller als sechzig Stundenkilometer, was ihnen nach dem Bummeltempo von vorhin ziemlich rasch vorkam. Da am windumtosten Verkehrskreuz keine Streifenwagen zu sehen waren, nur ein Räumfahrzeug stand am Straßenrand, ordnete sich Roger in den Kreisverkehr ein und bog auf die E6 Richtung Oslo ab.
Frank hatte sich die nächste Zigarette angezündet. Roger begnügte sich mit Passivrauchen. Wagte nicht, sich eine eigene anzuzünden, solange er am Steuer saß, denn hin und wieder wurde der Wagen von Windböen zur Seite gedrückt. Dennoch war der Corolla ein warmes Gehäuse auf vier Rädern, das sie sicher durch die Dunkelheit beförderte. Ihre Anspannung ließ langsam nach, und als sie Melhus hinter sich gelassen hatten, wurden sie von einer überschäumenden, kindlichen Freude erfasst. Zumindest Frank und Lisa.
»Na, was sagst du nun, Kleine?«
»Lief doch alles wie am Schnürchen.«
»Da müssen Vollprofis am Werk gewesen sein.«
»Bestimmt Leute aus Oslo.«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
Nach diesem Wortwechsel schütteten sie sich aus vor Lachen. Roger ließ sie in Ruhe, bis er entdeckte, dass ein orangefarbenes Lämpchen am Armaturenbrett aufleuchtete.
»Wir haben fast kein Benzin mehr«, sagte er.
»Können wir uns ein paar Liter Benzin leisten, Lisa?«, fragte Frank.
»Da muss ich erst in meiner Banktasche nachschauen ... Hey, sieht aus, als hätte ich gerade im Monopoly gewonnen.«
»Geht klar, Roger.«
In Lundamo hielten sie an einer Tankstelle. Roger öffnete von innen den Tankdeckel und stieg zögerlich aus.
Während er den Zapfhahn in die Tanköffnung steckte, spähte er über das Auto hinweg in Richtung Kasse. Erblickte dahinter einen Mann in roter Uniform, sonst niemanden. Nachdem das Zählwerk bei 40 Litern stehen geblieben war, hängte er den Zapfhahn wieder an seinen Platz.
Lisa hatte sich einen Tausend-Kronen-Schein aus der Tasche geangelt. Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und gab ihn Roger. »Zieh die Jogginghose aus, ehe du reingehst und bezahlst.«
»Und bring ein paar Päckchen Tabak mit«, fügte Frank hinzu.
Er begriff, dass es keinen Zweck hatte zu protestieren und vorzuschlagen, einer von ihnen solle bezahlen. Er war eben doch nur der Juniorpartner, der Anfänger, der Assistent. Er zerrte sich die dunkle Hose von den Beinen und schmiss sie wortlos in den Wagen, als wolle er zeigen, dass er sich nicht alles gefallen ließe. Dann ging er um den Wagen herum und trottete zur Kasse. Der Mann in der roten Uniform hatte einen kupferfarbenen Schnurrbart. Er hob den Kopf und lächelte zuvorkommend.
»Mistwetter, was?«
»Ja, nicht zum Aushalten.« Roger versuchte weiterhin, den Osloer Dialekt nachzuahmen.
»Sind Sie auf Reisen?«
»Nein, nein, ich will nur nach Støren.«
»Glück für Sie. Im Raum Oppdal ist der Sturm wieder in vollem Gang.«
Roger nickte ungeduldig. Das launische Wetter in dieser Gegend kannte er vom Hörensagen. Erst vor wenigen Wochen hatte der Sturm mehrere Hausdächer abgedeckt. Und natürlich wollten sie genau dorthin!
Nachdem er den Tabak sowie drei Flaschen Cola an sich genommen hatte, stopfte er das Wechselgeld in die Jackentasche und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken.
»Schönen Abend noch«, sagte der Mann mit dem dekorativen Bart gewohnheitsmäßig.
Die Cola wurde im Auto mit ungeteilter Begeisterung quittiert, und kurz darauf waren sie wieder unterwegs. Die Verkehrsdichte nahm ab. In Soknedalen war vom Unwetter nur wenig zu spüren, doch nachdem sie Ulsberg passiert hatten, frischte der Wind gewaltig auf. Obwohl Roger es eilig hatte weiterzukommen, traute er sich nicht, zu stark aufs Gaspedal zu treten. Die beiden anderen schienen zu verstehen, dass er sich ganz aufs Fahren konzentrieren musste, und Roger war erleichtert, dass ihm weitere kindische Wortwechsel erspart blieben. An einer Stelle war ein Lastwagen in den Graben gerutscht, doch sie hielten nicht an, um sich zu erkundigen, ob der Fahrer Hilfe brauchte. Frank hatte es aufgegeben, den Polizeifunk abzuhören. Vermutlich befanden sie sich dazu schon zu weit von der Stadt entfernt. Die nächsten Radionachrichten brachten im Großen und Ganzen keine Neuigkeiten. Die Bullen waren sicherlich zu sehr mit der Fahndung beschäftigt, um weitere Pressemeldungen herauszugeben. Es wurde jedoch erwähnt, einer der Bankräuber sei vermutlich eine Frau gewesen und alle drei hätten ausgeprägten Osloer Dialekt gesprochen – eine Mitteilung, die Frank vergnügt grinsen ließ. Es hieß ferner, die verletzte Frau – von einer Angestellten war nicht mehr die Rede – habe gemeinsam mit ihrer Tochter zufällig ihrem Mann einen Besuch abgestattet, bevor der Überfall geschah. Der unter Schock stehende Filialleiter hatte ausgesagt, es sei ihm, unmittelbar bevor seine Frau niedergeschlagen wurde, gelungen, den Alarm auszulösen, was seine Frau leider nicht bemerkt habe. Das Kreiskrankenhaus in Trondheim vermeldete, die Frau sei immer noch bewusstlos, schwebe aber vermutlich nicht mehr in Lebensgefahr. Die letzte Meldung nahm Roger mit stummer Erleichterung auf; ebenso die Tatsache, dass die Polizei offenbar keine konkreten Spuren verfolgte. Lisa würde offenbar Recht behalten: Diesmal musste Franks sorgsam durchdachter Plan einfach zum Erfolg führen. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er ein euphorisches Kribbeln im Körper, ein kindliches Gefühl unbezähmbarer Freude. Im Moment erfüllten ihn nur die heftigen Windstöße mit Sorge. Nicht so sehr, weil sie die Karosserie erzittern ließen, sondern weil die stärksten Sturmböen den Wagen immer wieder von der Fahrbahn zu wehen drohten. Kein Wunder, dass sie sich fast allein auf der Straße befanden. Zusätzlich zu den Schneeverwehungen machte ihnen der wieder einsetzende Schneefall zu schaffen. Roger fragte Lisa, wie weit es noch bis zur Hütte sei.
»Sie liegt ein paar Kilometer von Oppdal entfernt. Wir müssen zunächst ins Zentrum und dann rechts in Richtung Sunndalsøra.«
Man konnte die Lichter des Wintersportzentrums erkennen; rechterhand zeichneten sich Slalomhänge ab, und bald hatten sie die ersten Häuser des Ortes erreicht. Als sie die von Lisa erwähnte Kreuzung ansteuerten, lief es Roger kalt über den Rücken. Das blinkende Blaulicht des Streifenwagens, der am Straßenrand stand, war nicht zu übersehen. Im dichten Schneegestöber, den Rücken an den Wagen gelehnt, stand ein Polizist da und streckte die Hand aus.
Frank nickte bekräftigend, als Roger abbremste. Es kam nicht infrage, einfach vorbeizufahren. Frank kurbelte das Fenster herunter, woraufhin ihm und Roger ein Schauer eiskalter Stecknadeln ins Gesicht schlug. Der Polizist, dessen Bart vollkommen weiß war, bot ihnen einen gewissen Schutz vor dem Wind, als er sich zu ihnen herunterbeugte und fragte:
»Alles in Ordnung?«
»Danke, alles bestens«, entgegnete Frank.
»Ich möchte Ihnen empfehlen, mit allergrößter Vorsicht durch den Ort zu fahren. Dies ist das schlimmste Unwetter seit Jahren. Überall lösen sich Dachlawinen. Am besten, Sie brechen die Tour ab und nehmen sich eine Unterkunft.«
»Das haben wir auch vor. Wir sind gleich bei unserem Hotel.«
Der Polizist nickte, trat zurück und musste hinter dem Streifenwagen in Deckung gehen, als ihn ein gewaltiger Windstoß umzuwerfen drohte.
»Volltrottel«, sagte Frank, nachdem er die Seitenscheibe wieder nach oben gekurbelt hatte und sie weiterrollten. »Wie nett von den Hütern des Gesetzes, sich bei den Ganoven zu erkundigen, ob alles in Ordnung ist. Hätte er uns festnehmen wollen, hätte ich die Flinte genommen und ihm mitten in die Visage geschossen.«
Roger lief ein weiterer Schauer über den Rücken. Seine Erleichterung paarte sich mit Widerwillen. Franks Stimme erlaubte keinen Zweifel, dass er es ernst meinte. Seine Waffe lag griffbereit unter dem Vordersitz. Er hatte seinen Fuß auf den Griff gestellt, als der Polizist den Kopf durch das Fenster gesteckt hatte.
Das Nächste, was sie sahen, war das Erlöschen sämtlicher Lichter des Ortes, und als sie an der Hauptkreuzung rechts abbogen, geschah das, wovor sie der Polizist gewarnt hatte. Von irgendeinem Dach flog ihnen etwas entgegen, das sich als flache Metallplatte erwies. Es wirbelte durch die Luft, veränderte seine Form und krachte auf der anderen Straßenseite gegen eine Hauswand. Nicht viel hatte gefehlt, und ihr Auto wäre von der scharfkantigen Dachplatte getroffen worden. Unter anderen Umständen hätten sie einen Riesenschreck bekommen, doch jetzt blieben sie ruhig. Die Vorgänge der letzten Stunden, inklusive die Begegnung mit dem Polizisten, hatten einen noch stärkeren Eindruck auf sie gemacht. Kaum vorstellbar, dass ihnen so etwas Banales wie das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen sollte.
Dennoch war Roger erleichtert, als sie das Zentrum von Oppdal hinter sich ließen. Außerdem brachte dies eine Kursänderung mit sich, die sie aus der unmittelbaren Gefahrenzone brachte. Wenn die Polizei damit rechnete, dass sich die Bankräuber auf dem Weg nach Oslo befanden, würden sie die Straßen in Richtung Westen sicher weniger stark kontrollieren.
»Du weißt doch genau, wo sich die Hütte befindet, oder?«, fragte er Lisa nach einer Weile.
»So ziemlich. Ich bin öfter da gewesen, das letzte Mal vor drei Jahren. Sie gehört einer Kusine von mir und ihrem Freund. Die sind Sonntag in Urlaub gefahren. Deshalb können wir die Hütte benutzen, ohne dass sie davon erfahren. Ich hoffe nur, der Schlüssel liegt immer noch an derselben Stelle ...«
»Für richtige Profis kein Problem«, schaltete Frank sich ein. Roger hätte ihn am liebsten aufgefordert, die Schnauze zu halten. Er war mittlerweile ziemlich erschöpft. Fünf Minuten später gab Lisa das Signal zum Abbiegen. Auf dem Schild stand Gjevilvasshütte.
»Gleich sind wir da«, sagte sie.
Der Weg war ziemlich schmal, aber die Schneeverwehungen hinderten den Corolla nicht am Weiterfahren. Der Stromausfall war offensichtlich behoben, doch sahen sie nur hin und wieder ein paar Lichter und begegneten keinem einzigen Auto. Lisa bat Roger, langsamer zu fahren, während sie nach einem bestimmten Kuhstall Ausschau hielt, neben dem die Zufahrt zur Hütte lag.
Sie hatte Recht. Die Zufahrt war nicht geräumt, doch die frische Schneedecke relativ dünn, sodass Roger keine Schwierigkeiten hatte, zwischen den Birkenstämmen den Verlauf des Weges zu erkennen. Noch eine scharfe Linkskurve, dann erblickten sie mehrere Laternen an einer dunklen Bretterwand. Nachdem er auf der Rückseite der Hütte angehalten hatte, atmete er tief durch und zog den Zündschlüssel ab.
»Bingo«, sagte Frank. »Bist super gefahren, Roger.« Ein kleines Lob aus Franks Mund, das Roger ein stimulierendes Prickeln bescherte.
Sie stiegen aus und befanden sich mit einem Mal in windumtoster Dunkelheit. Frank erinnerte sich daran, dass sich in einer der Taschen eine Taschenlampe befand, doch sie brauchten nicht nach ihr zu suchen, weil der Autobesitzer namens Krogness so zuvorkommend gewesen war, eine weitere im Handschuhfach zu deponieren. Lisa benötigte nicht eine Minute, um den Schlüssel zu finden, der unter dem vorspringenden Dach des Toilettenhäuschens an einem Nagel hing. Sie schloss die Haustür auf, trat in den Flur und bat Frank, die Taschenlampe auf den kleinen Sicherungskasten zu richten. Sie drehten an einigen Sicherungen – und waren in die Zivilisation zurückgekehrt.
Die Hütte übertraf Rogers Erwartungen. Sie bestand aus einem großen Wohnraum mit Kochnische und drei kleineren Zimmern. Zwar gab es kein fließendes Wasser, dafür aber sowohl einen Kühlschrank als auch einen Elektroherd. Neben dem rustikalen Kamin stand ein Farbfernseher auf einem niedrigen Tisch. Kleine Wandleuchten sowie eine Deckenlampe tauchten die Einrichtung, die größtenteils aus Kiefernholz bestand, in ein warmes Licht. Dass es drinnen immer noch eiskalt war, brauchte sie nicht zu verwundern. Lisa schaltete die Elektroheizung ein und entfachte ein Kaminfeuer. »Schlaue Hüttenbesitzer verlassen ihre Hütte niemals, ohne alles für den nächsten Besuch vorzubereiten.« Lisa sagte dies, als handele es sich um ein Zitat ihrer Kusine. Die Fensterläden waren verriegelt, und sie einigten sich darauf, sie nicht vor dem morgigen Tag zu öffnen.
Frank hatte sich am Fernseher zu schaffen gemacht, sodass sie noch den größten Teil der Hauptnachrichten sehen konnten. Zunächst gab es eine längere Reportage aus den Niederlanden, in denen die Hochwassersituation so angespannt war, dass die Leute mit Schlauchbooten durch die Straßen schipperten. Das letzte Hochwasser war erst ein Jahr her, doch die Experten rechneten damit, dass die Situation diesmal noch dramatischer werden könnte. Auch in Teilen Deutschlands und Frankreichs standen Häuser und ganze Dörfer unter Wasser. Nach einem kurzen Bericht aus Tschetschenien, wo die russische Armee immer noch Widerstandskämpfer in der Hauptstadt niedermetzelte, wurden Bilder aus Trondheim gezeigt. Die automatischen Videokameras hatten Frank und Lisa aufgenommen, während diese die Kassen im Schalterraum plünderten. Der Schriftzug VIF auf den Rücken ihrer Trainingsanzüge war deutlich zu lesen. Ein Kumpel von Frank hatte sie vor Jahren in einer Fußballerkabine mitgehen lassen, ohne zu wissen, was er eigentlich damit anfangen sollte. Sie bekamen auch eine Videoaufzeichnung aus dem Tresorraum zu sehen; dabei hatten sie in diesem Raum gar keine Kamera bemerkt. Sie war die ganze Zeit auf den Safe gerichtet gewesen, und Frank gluckste triumphierend, als zu beobachten war, wie er den Filialleiter zwang, den Safe zu öffnen. Nicht zu sehen war hingegen, wie Frank dessen Frau niederschlug – entweder weil dies in einem toten Winkel der Kamera geschehen war, oder weil das norwegische Fernsehen diese Szene den Zuschauern sowie den Angehörigen des Opfers nicht zumuten wollte. Roger zitterte, während er die Bilder betrachtete, obwohl er selbst auf dem Film nicht erschien. Danach wurde ein kurzes Interview mit einem ernst dreinblickenden Hauptkommissar namens Christian Rønnes gesendet, der aussagte, der Überfall sei professionell durchgeführt worden, ohne die Anwendung von Sprengstoff oder anderen Hilfsmitteln. Die rücksichtslose Entschlossenheit der Bankräuber lasse darauf schließen, dass sie sich durch nichts hätten aufhalten lassen. Die Frau des Filialleiters liege immer noch bewusstlos im Kreiskrankenhaus von Trondheim. Ein gestohlener Toyota Corolla XLi mit dem Kennzeichen VE 56362, der bislang nicht wieder aufgetaucht sei, stünde mit dem Bankraub möglicherweise in Verbindung. Im Großen und Ganzen hätten die Verbrecher nur wenige Spuren hinterlassen. Man sei auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen und müsse sich darauf einrichten, so Rønnes, dass die Aufklärung des Verbrechens geraume Zeit in Anspruch nehmen könne. Als sich die Reporterin am Ende des Interviews nach der Höhe der Beute erkundigte, antwortete der Polizeibeamte, es handele sich in etwa um anderthalb Millionen Kronen.
»Eineinhalb Mille!«, rief Frank aus. Er drückte Lisa so hart an sich, dass diese protestierte, während Roger sich im Moment nicht auszumalen traute, was eine so hohe Summe eigentlich bedeutete.
Danach trugen sie alle Gegenstände, die sich im Wagen befanden, ins Haus. Nachdem Roger das Auto abgeschlossen hatte – in gewisser Weise fühlte er sich inzwischen für den Wagen verantwortlich –, hatte er das Gefühl, es sei in der Hütte bereits wärmer geworden. Frank wollte das Geld nachzählen und zur Feier des Tages eine Flasche Wodka springen lassen, doch Lisa meinte, sie sollten zuvor etwas essen. Dennoch öffnete Frank schon einmal die Flasche, leerte den Inhalt der Geldtasche über dem Esstisch und begann mit dem Sortieren und Zählen. Die beiden anderen schienen für ihn nicht mehr zu existieren. Roger stand mit dem Rücken zum lodernden Kaminfeuer und sah ihm zu. Zunächst war er von dem Gedanken an das Drittel der Beute besessen, das ihm zustand, doch dann fühlte er sich von Franks primitiver Gier nur noch abgestoßen. Er ging zur Kochnische, wo Lisa damit beschäftigt war, Eier und Speck zu braten.
»Kann ich dir helfen?« Die Frage kam ihm nicht sonderlich originell vor.
Lisa drehte sich erstaunt um, schien freudig überrascht und entgegnete, er könne Brot schneiden und den Tisch decken. »Frank ist zwar der Älteste von uns, aber seine Kinderstube lässt immer noch zu wünschen übrig.«
Sie setzten sich an den kleinen Küchentisch, schenkten sich Bier ein und begannen zu essen. Roger mit Heißhunger, Lisa langsam und genüsslich.
»Tut gut, was zu essen, nicht?«, sagte sie lächelnd.
»Großartig.«
»Frank wird bestimmt auch gleich kommen. Sein Onkel-Dagobert-Benehmen wollen wir ihm heute verzeihen. Er hat wirklich sein Herzblut für diese Aktion gegeben. Kein Wunder, dass er jetzt schier aus dem Häuschen ist. Ich dagegen bin ziemlich müde.«
»Ich auch«, entgegnete Roger.
In Wahrheit fühlte er sich so müde, dass er nur noch ins Bett sinken wollte, obwohl er das erste Mal mit Lisa allein war und erst jetzt bemerkte, wie hübsch sie war. Hübscher als Heidi sogar. Ihre langen blonden Haare ließen ihn an ein klassisches Musikstück denken, dessen Titel er sich nie merken konnte, und ihre großen Augen mit dem offenen Blick erinnerten ihn an eine berühmte Schauspielerin, deren Name ihm ebenfalls entfallen war. Doch in ihrem Blick lag auch ein beunruhigender Hunger, der ihn verunsicherte.
»Die Hütte ist klasse.«
»Ja, nicht wahr? Früher war ich mit Lillian hier. Wir waren gute Freundinnen, haben Bergtouren unternommen und ...« Sie hielt inne und zuckte die Schultern. »Das war, bevor sie sich diesen Typen geangelt hat, der meinte, ich sei als Kusine nicht der richtige Umgang für Lillian. Ich bin ziemlich ausgeflippt, ist doch logisch, bin ja wohl keine Schande für meine Familie. Und dann hat sich dieser Typ in der Stadt auch noch an mich rangemacht, also hab ich ihn gezielt wohin getreten ... na, du weißt schon. Ich habe Lillian klar zu machen versucht, dass er es war, der mich angebaggert hat, aber von da an wurde ich nicht mehr eingeladen.«
Roger nickte stumm.
»Wenn wir wieder wegfahren, müssen wir dafür sorgen, dass alles so aussieht wie vorher. Frankie Boy ist so was egal, aber dafür hat er andere Qualitäten ...«
Sie hatte sicherlich nicht den unartikulierten Jubelschrei gemeint, der ihr Gespräch unterbrach. Frank tänzelte mit dem Wodkaglas um den Kamin herum. Seine Augen unter dem dunklen Pony strahlten, wie Roger es nie zuvor bei ihm gesehen hatte.
»Ich hab’s doch immer gesagt. Auf Banken ist kein Verlass, nicht mal in Geldsachen. Eine Million sechshundertachtzigtausend! Die Geldrollen hab ich noch gar nicht mitgezählt.«
Roger, der in den letzten Stunden ständig in Angst gelebt hatte, hob die Arme über den Kopf und klatschte enthusiastischer, als ihm eigentlich zumute war. Jetzt durften auch er und Lisa sich den Wodka nicht länger entgehen lassen. Roger brannte er ungewöhnlich stark in der Kehle, genauso wie die Zigarette nach dem Essen. Dann saß er glücklich, aber völlig erschöpft im Sessel vor dem Kamin und zitterte nicht länger. Als eine Frau in einer Fernsehreportage begann, über die Gründe ihres Selbstmordversuchs zu sprechen, bemerkte er kaum, dass Lisa rücksichtsvoll den Fernseher ausschaltete. Aus irgendeinem Grund ließ ihn Franks Gesicht nicht los. Es war mager und asketisch, gleichzeitig gierig und träumerisch und erinnerte ihn an ein Porträt von Chet Baker aus der Zeit, bevor der Drogenkonsum die hübschen Züge des Trompeters verzerrt und in eine Grimasse mit toten Augen verwandelt hatte. War Frank auch drogenabhängig? Er wusste es nicht. Sein Blick schien Lichtjahre entfernt, vor allem wenn er die Geldbündel mit den benutzten sowie unbenutzten Hundert- und Tausendkronenscheinen streichelte. Gleichzeitig ahnte Roger, dass er selbst nicht mehr in der Lage war, seine Umgebung objektiv zu beurteilen. Die Einrichtung, die ihn umgab, nahm irreale Proportionen an.
Zu fortgeschrittener Stunde dieses denkwürdigen Abends, nach weiteren Zigaretten und noch mehr Wodka, mussten ihn die beiden anderen förmlich ins Schlafzimmer schleifen und aufs Bett verfrachten, wo er auf der Stelle in Schlaf fiel.
»Braver Roger.«
»Mach dich nicht über ihn lustig, Frank. Ohne ihn wären wir vielleicht niemals mit heiler Haut hierher gekommen.«
»Weiß ich doch.«
»Aber du hast alles geplant ...«
»Stimmt, und jetzt gibt’s einen Belohnungsfick, oder?«
»Na klar. Aber zuerst will ich noch mal richtig in dem Geldhaufen baden.«
»Ausgezeichnete Idee«, sagte Frank.
Nachdem sie mit ihren Armen eine Zeit lang durch den Geldhaufen gefahren waren, benutzten sie ihre Hände, um sich die Kleider vom Leib zu reißen.