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ОглавлениеMittwoch, 1. Februar 1995
In wirkliche Hochstimmung geriet Roger erst nach dem Erwachen. Als er die Augen öffnete, war der neue Tag erst fünf Stunden alt, und er hatte beinahe sieben Stunden geschlafen. Er erwachte vermutlich wegen der ungewohnten Wärme und des Windes, der an Schornstein und Dachtraufe rüttelte.
Er selbst glaubte, es habe an seinem Traum gelegen, obwohl er nur vage Erinnerungen an ein großes Schiff hatte, das ihn nach New York bringen sollte. Deutlich konnte er sich hingegen daran erinnern, dass sein Vater bei der Freiheitsstatue auf ihn warten sollte. Er war nicht tot, so wie man Roger immer erzählt hatte. Als er an Land ging, winkte sein Vater ihm zu, doch die berühmte Statue befand sich plötzlich gar nicht mehr in New York, sondern war auf das stillgelegte Trondheimer Bahnhofsgelände in Skansen verlegt worden. Er lief über die Schienen seinem Vater entgegen, doch ein einfahrender Zug zwang ihn zu warten. Der schrille Pfiff der Lokomotive gellte in seinen Ohren, und dann war der Traum vorbei.
Als er das Heulen der Sturmböen hörte und spürte, dass er völlig verschwitzt war, wusste er sofort, dass er sich in einer Berghütte befand. Dennoch musste er sich zwicken, um sich klar zu machen, dass er wirklich an einem gelungenen Banküberfall teilgenommen und selbst den Fluchtwagen gesteuert hatte. Den unangenehmen Geschmack im Mund verdankte er sicher dem Alkohol sowie dem Umstand, dass er sich nicht die Zähne geputzt hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass er vollständig angezogen unter der Decke lag – daher die Wärme –, und ihm dämmerte, dass Lisa und Frank ihn ins Bett gebracht hatten. Nicht weil er betrunken gewesen wäre, sondern vor allem wegen seiner physischen Erschöpfung. Zuvor hatte er alles getan, was sie von ihm verlangt hatten, und mehr als das. Zur Belohnung war er reich geworden. In seiner grünen Tasche befand sich über eine halbe Millionen Kronen. Das entsprach drei bis vier Jahreseinkommen, nach Steuerabzug. Eine großartige Ausbeute für einen jungen Mann, der sich vor einer Woche noch das Leben hatte nehmen wollen. In diesem Augenblick schätzte er sich glücklich, Nachbarn gehabt zu haben, die nicht so stocktaub waren wie sein Vermieter.
Und damit nicht genug. Das gewohnte Gefühl, dass alles, was er anpackte, misslang, zerbrach, pulverisiert wurde und ihm wie Sand durch die Finger lief, hatte sich verflüchtigt. Jetzt konnte ihm alles gelingen, sogar, die Welt aus den Angeln zu heben. Er war überglücklich.
Eine Weile blieb er liegen und überließ sich seinen Fantasien: wohin er reisen, wozu er das Geld benutzen wollte. Er konnte schließlich nicht damit rechnen, dass seine beiden Wohltäter ihn weiterhin mit sich herumschleppen würden, was er auch nicht wollte. Sollte er sich nach einiger Zeit wieder in Trondheim niederlassen, seiner Mutter einen Batzen Geld zustecken und Heidi signalisieren, dass sie jetzt die eigene Schmuckwerkstatt, von der sie immer geträumt hatte, realisieren konnte? Nein, nichts dergleichen. Sie verdienten es einfach nicht. Sie waren es doch, die ihn um den Verstand gebracht hatten. Doch gleichzeitig war es verlockend, ihnen zu zeigen, wie gut es ihm jetzt ging, wie stark er sich fühlte. Der kleine Roger hatte eine Woche in Oslo verbracht und das Geld auf der Trabrennbahn gewonnen. Frank zufolge war dies die sicherste Art und Weise, den frisch erworbenen Reichtum zu erklären. Die Gewinner der Pferdewetten blieben anonym, und ihre Prämien ließen sich nicht so leicht nachprüfen ... Nein, er würde den Teufel tun, vor Heidi zu Kreuze zu kriechen! Außerdem war es trotz all des Geldes keineswegs sicher, dass sie ihn zurückhaben wollte. Immerhin war sie es gewesen, die sich von ihm getrennt hatte. Und wie stand es eigentlich um ihre Beziehung, wenn sie ihn wegen des Geldes zurücknahm? Es gab doch so viele andere Möglichkeiten. Vielleicht sollte er nach New York reisen. Warum nicht? Dort gab es eine schier unerschöpfliche Anzahl von Nachtklubs, und er konnte sich die Musik anhören, die ihm am besten gefiel. Nicht den dröhnenden Heavy Metal, den Heidi bevorzugte, sondern differenzierten Bebop. Er konnte sich einen professionellen Jazzpianisten als Lehrer suchen, der ihm mehr über Harmonien beibrachte. Dann würde er vielleicht selbst ein guter Pianist werden, der CDs einspielte und mit der Zeit so berühmt wurde, dass man diese auch in Norwegen kaufen konnte. Die klassische Geschichte des jungen Mannes, der nach Amerika auswandern musste, um zu Hause als Künstler Anerkennung zu finden. Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint. Warum sollte es nicht so weitergehen? Jetzt lag doch alles in seiner Hand.
Eigentlich war er immer noch müde, verspürte jedoch ein ungewohnt angenehmes Kribbeln unter der Haut. Die gestern noch empfundene Unsicherheit hatte sich in ein positives Gefühl verwandelt. Er strampelte sich frei, schaltete das Licht ein und zwinkerte mit den Augen.
In dem kleinen Schlafzimmer stand nur ein Bett. Aus der Einrichtung ließ sich schließen, dass normalerweise ein Junge hier wohnte, vermutlich der Sohn von Lisas Kusine. An den Wänden hingen Poster der Fußballer Alan Shearer und Romario sowie eine Aufnahme der aktuellen Mannschaft von Rosenborg Trondheim.
Es gab auch ein Foto von Diego Maradona, der seine Karriere während einer WM wegen Kokainmissbrauchs hatte beenden müssen. Roger streckte ihm die Zunge raus und spürte erneut den ekelhaften Geschmack in seinem Mund. Er selbst hatte sich – von gelegentlichen Joints abgesehen – nie an Drogen herangewagt. Nicht die ahnungslos moralisierenden Lehrer hatten ihn abgeschreckt, sondern die vielen amerikanischen Jazzmusiker, die allzu jung gestorben waren. An besagtem Abend in der letzten Woche hätte er sich eine starke Dosis gewünscht, hatte sich aber mit einer Flasche Wodka begnügen müssen. War wohl auch gut so gewesen.
Er schauderte, schwang die Beine aus dem Bett und drehte sich ein paarmal um die eigene Achse, bevor er ins Wohnzimmer ging. Dort brauchte er kein Licht anzuschalten, weil sie einige Lampen angelassen hatten. Wusste nicht, warum er in aller Herrgottsfrühe aufstand und woher das angenehme Prickeln unter der Haut stammte. Eine Tasse Tee würde sein Wohlbefinden noch steigern. Doch keiner von ihnen hatte bisher Wasser aus dem Brunnen geholt. Er schnitt sich eine Scheibe Brot ab, aß sie im Stehen und spülte mit einem Glas Orangensaft nach. Da er immer noch den ekelhaften Geschmack im Mund verspürte, beschloss er, Wasser zu holen, um sich die Zähne zu putzen. Er hatte auch das Bedürfnis, sich zu waschen.
Unter der Spüle fand er einen Plastikeimer, schlich sich auf den Gang, zog Jacke und Joggingschuhe an, schaltete die Taschenlampe ein und trat hinaus ins Dunkel. Es gab immer noch kräftige Böen, obwohl der Wind ein wenig nachgelassen hatte. Er ging um das Auto herum und ließ den Lichtkegel wandern. Der Brunnen lag angeblich gegenüber dem Plumpsklo, weniger als zehn Meter von der Hütte entfernt. Er entdeckte ihn sogleich, doch der schwere Brunnendeckel, der, wie Roger vermutete, aus isolierendem Material bestand, ließ sich nicht ohne weiteres wegheben. Er kratzte den Schnee weg und gab dem Deckel einen Tritt, worauf entlang der Kante ein Spalt sichtbar wurde. Er stellte fest, dass er genau dort gezogen hatte, wo sich die Scharniere befanden, entdeckte einen Handgriff auf der anderen Seite des Deckels, und jetzt ging es relativ leicht. Als er in die zylindrische Öffnung leuchtete, sah er, dass die Oberfläche von Eis bedeckt war und sich mindestens einen Meter unter dem Niveau des Erdbodens befand. Doch Roger war nicht zum ersten Mal auf dem Land und machte sich auf die Suche nach einem langen Stab, der sich irgendwo in der Nähe befinden musste. Es zeigte sich, dass dieser, gemeinsam mit einer Leiter, quer an der Hüttenwand hing. Der Stab war an einem Ende mit einer Spitze und einem Haken versehen, und als er ihn mehrmals in die Tiefe stieß, gelang es ihm, ein Loch in die Eisfläche zu schlagen, das groß genug war, damit der Eimer hindurchpasste. Nachdem er einen Eimer Wasser heraufgezogen hatte, musste er ihn neben dem Brunnen abstellen und sich verpusten. Er streckte den Rücken, legte den Kopf in den Nacken – und sah über sich den Sternenhimmel.
Der Anblick war so überwältigend, dass er nicht wusste, ob er Furcht oder Bewunderung empfinden sollte. Myriaden funkelnder Sterne schlugen ihn so in Bann, dass er für den Bruchteil einer Sekunde die unfassbare Weite spürte, die sich zwischen ihm und dem Lichtermeer befand. Diese überraschende Empfindung hatte nichts mit Andacht zu tun. Religiöse Gefühle waren ihm fremd.
Als er dreizehn war, hatte er sich viel mit Astronomie beschäftigt und gespannt Jørans Ausführungen über mögliches Leben auf anderen Planeten gelauscht. Vielleicht gab es sogar hoch zivilisierte Wesen, die der menschlichen Rasse überlegen waren – was für eine Vorstellung, dass sie in diesem Moment von ihnen beobachtet würden! Er hatte seiner Mutter damals Geld gestohlen, sich über einen Postversand das lachhaft billige, doch angeblich »unübertroffene« Teleskop Komet II bestellt und nach acht Tagen beinahe unerträglichen Wartens ein in der Länge verstellbares Papprohr erhalten, an dessen einem Ende sich eine große, am anderen eine kleine Linse befand. Mithilfe solcher Fernrohre, hatte Jøran ihn aufgeklärt, entdeckten Astronomen ständig neue Objekte im Weltraum, die in der Regel nach ihren Entdeckern benannt würden. Sein Pappteleskop ermöglichte es Roger, einige graue Mondkrater zu studieren, jedoch konnte er niemals etwas entdecken, das auf außerirdisches Leben hingewiesen hätte.
Zwar hatte er schon am ersten Abend ein diffuses Objekt ausgemacht, das er sogleich »Rogers Fleck« taufte, musste bei näherer Betrachtung jedoch feststellen, dass es sich um ein Staubkorn auf der Linse handelte.
Als er begann, in seinen dünnen Joggingschuhen an den Zehen zu frieren, riss er sich vom Anblick des Sternenhimmels los.
Es tat gut, wieder in die Hütte zu kommen. Wie schon das Auto empfand er sie als behagliche Höhle, die ihn vor den Gefahren der Umwelt schützte. Er putzte sich die Zähne, setzte Wasser auf, wusch sein Gesicht und bereitete sich eine Tasse Tee zu. Danach entfachte er ein Feuer im Kamin, setzte sich in den Sessel davor und rollte sich eine Zigarette. Hier konnte ihm niemand etwas anhaben. Er lauschte dem Wind und dem Summen zweier Fliegen, die von der Wärme zum Leben erweckt worden waren, und fragte sich, ob er noch ein wenig schlafen sollte. Oder sollte er sein Geld noch mal durchzählen? Er tat keines von beidem, sondern studierte das Buchregal. Als Kind hatte er Bücher sehr gern gehabt und war später von Jøran animiert worden, einige norwegische und ausländische Romane zu lesen. »Nahrung für die Fantasie«, hatte Jøran gesagt. Er hatte anfangs nicht genau verstanden, was Jøran damit meinte, doch Bücher hatten ihm stets zu denken gegeben und ihm gezeigt, dass es auch andere Formen der Kindheit gab als die ärmliche, die er selbst erlebte. Doch nach und nach waren die Bücher von Videos abgelöst worden. Nun ließ er seinen Blick über die unbekannten Titel der Hüttenbibliothek wandern und begann sich, da er nichts über Musik oder Astronomie entdeckte, in ein Buch über Salzwasserfische zu vertiefen. Nach einer Weile fühlte er sich so entspannt und zufrieden, dass er sich in Anbetracht des gestrigen Tages wunderte, wie gut es ihm ging. Das Leben war plötzlich herrlich, und so sollte es für immer bleiben. Der Gedanke an Frank und Lisa rief in ihm ein Gefühl der Dankbarkeit hervor. Mehr Wasser zu holen und das Frühstück zu machen war das Mindeste, das er für sie tun konnte.
Während er vor der Arbeitsfläche stand und Brot schnitt, empfand er das dringende Bedürfnis, sich jemand anzuvertrauen und zu zeigen, wie gut es ihm ging. Es war fast acht Uhr, doch sollte es bereits dämmern, bekam er davon nichts mit, weil die Fensterläden nicht das geringste Licht durchließen. Er hatte das Radio angestellt, zur Musik mitgesummt und die Nachrichten gehört. Dann erschrak er, als er plötzlich einen Schatten hinter sich wahrnahm.
Es war Lisa. Sie trug nur Slip und BH und betrachtete ihn freimütig. Ihr langes Haar war zerzaust und von der Farbe eines Weizenfelds im Spätsommer. Sie lächelte, als sie den gedeckten Frühstückstisch erblickte.
»Ach, Roger, wie nett von dir.«
»Ich ...«
Er hatte Heidi oft in Unterwäsche gesehen, aber dies war etwas anderes. Er kannte Lisa ja fast gar nicht. Sie war fraulicher, üppiger. Er wusste nicht, wo er seine Hände lassen sollte, als sie zu ihm kam und ihn auf die Wange küsste. War ein wenig enttäuscht, als er ihre Wodkafahne wahrnahm, doch als er ihre Brüste spürte, hoffte er inständig, dass Lisa nur aufgestanden war, um mit ihm zu flirten und sich von einem athletischen jungen Mann vögeln zu lassen, der fünf Jahre jünger war als sie selbst. Noch mehr enttäuscht war er, als sie sich den Zeigefinger vor ihre vollen Lippen hielt und auf das Radio zeigte. Gemeinsam lauschten sie dem Nachrichtensprecher:
»Aus Trondheim wird soeben vermeldet, dass Nina Mogård, die Ehefrau des Filialleiters, die während des gestrigen Banküberfalls in Heimdal niedergeschlagen worden war, heute Morgen ihren Verletzungen erlag, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.«
Blass vor Schreck starrten sie einander an.