Читать книгу Harry hardcore II - Der junge Heine - Freudhold Riesenharf - Страница 4
29: Lust
ОглавлениеDenn wie? Lange bevor die Urtiere zu denken begannen, hatten sie schon zu empfinden begonnen. War unser Fortpflanzungsverhalten zuerst doch weniger eine Sache des Denkens als des Empfindens, und zwar des sexuellen Empfindens: der geschlechtlichen Lust. Das A und das O in der Natur ist der Fortpflanzungserfolg, die differenzielle Reproduktion einer Art. Am erfolgreichsten im Überleben ist das Tier mit der größten Nachkommensrate, das sich am besten vermehrt und seine Gene verbreitet. Am besten aber verbreitet seine Gene ein solches Tier, das dabei auch noch prononcierte Lustgefühle hat.
Dabei ist es nicht so, dass, lamarckistisch gesehen, zu Beginn der sexuellen Fortpflanzung diejenigen Urtiere, die sich zufällig sexuell vermehrten, durch die Evolution dafür mit sexueller Lust ,belohnt' wurden – und diese Fähigkeit zur Lust im Laufe der Erdzeitalter bis zu ihrer überstarken Libido beim Homo sapiens eskalierte; sondern streng selektionistisch gesehen so, dass diejenigen Urtiere, die bei ihrer Neigung zu sexueller Vermehrung dabei auch noch Lust spürten, dem Fortpflanzungsakt darum desto engagierter nachkamen und sich noch besser vermehrten als die anderen Tiere.
Offenbar ist das die einzige Ursache, die überhaupt zur Entstehung der Sexualität führen konnte: Wie anders als durch eine subjektive Empfindung der Lust hätten die Lebewesen zur Begattung denn nachhaltig bewegt werden können? Wie anders hätten die Urtiere sexuell miteinander verkehren sollen, wenn sie von der Natur nicht durch irgendeinen Trick dazu geködert und verkuppelt worden wären?
Dieser Trick der evolutionären Natur war die Geschlechtslust. So kam die Liebe auf eine ganz pragmatische Weise in die Welt. Vorstellbar sogar, dass der sexuellen Vermehrung im Anfang auch solche Urtiere oblagen, die dabei keine Spur von Lust empfanden, – nur wurden diese puritanischen Varianten im Wettbewerb der differenziellen Reproduktion durch Selektion sehr schnell von den weniger spröden, hedonistischeren Konsorten verdrängt und ins Abseits geschoben. Sehen wir es also der richtigen Logik nach: Nicht die Lust stand am Anfang, und dann kam die sexuelle Vermehrung; sondern zuerst war die sexuelle Vermehrung von Lust begleitet – eine Lust, die dann selektiv immer weiter geschmeichelt, gesteigert und angeheizt wurde.
Am Anfang stand die sexuelle Vermehrung der Urtiere durch rein mechanischen Austausch genetischen Materials ganz ohne besondere Lustgefühle. Woher hätte die Lust der Tiere denn kommen sollen, wenn sie noch nicht einmal ein ansatzweises Nervensystem hatten? Es war sozusagen die prä-hedonistische Ära des Lebens, die nicht einmal bei den prüdesten Puritanern Anstoß erregt hätte.
Dann aber, als die Urtiere immer raffinierter wurden und ihnen ein rudimentäres Nervensystem mit subjektivem Erleben zu keimen begann, wurde der Fortpflanzungsakt mit diesem subjektiven Erleben verknüpft, verkoppelt, verkuppelt, und dieses subjektive Erleben mit sexueller Lust. Wie aber wurde es verkoppelt?
Auf streng selektionistische Sicht gesehen nicht anders als so: Es gab im uranfänglichen Gewühl und Gewusel des Lebens – in der Ursuppe, oder in den kambrischen Tümpeln – neben anderen, geschlechtskälteren Mutanten immer auch solche natürlich veranlagten Varianten, bei denen die Paarung auf selbsttätige und spontane, zufällige und richtungslose Weise von der gleichzeitigen Freisetzung lusterzeugender Stoffe begleitet war. Die Betonung liegt wie immer und überall in der Evolution auf spontan und zufällig. Diese so genannten Mutationen fanden aber nicht etwa absichtlich und zielgerichtet deswegen statt, weil die kopulierenden Tiere sich solche Lustgefühle wünschten und dadurch ihre Entstehung bewirkten. Sondern eben nur dann, wenn zufällig solche Mutationen stattfanden, die den Partnern bei der Begattung mehr Wollust verschafften, – dann war dieser hedonistische Organismus auch motivierter als andere, einem solchen Fortpflanzungsakt zu obliegen.
Das brachte die rudimentär sinnlichen und latent hedonistischen Tiere dann aber auch schon dazu, dem lustvollen Akt möglichst oft und nachhaltig zu obliegen. Was hätten sie sonst auch vom Leben gehabt? Was sonst hätte ihnen das Leben als solches schmackhaft machen sollen, die Umweltbedingungen im Paläozoikum waren denkbar ungemütlich. Liebe, Brot der Armen! Die Folgen dieses Verhaltens liegen auf der Hand und sind bis heute nachzuverfolgen. Es führte dazu, dass die sinnlicheren Genotypen auch eine größere Zahl von Nachkommen hatten; und da die Sprösslinge die genetisch bedingte Lustfähigkeit der Elterntiere erbten, waren sie ihrerseits nicht minder begattungsfreudig.
Und auch von den Nachkömmlingen der darauffolgenden Generationen vermehrten sich immer wieder diejenigen Variationen am besten, die am meisten Vergnügen daran fanden, und hatten dadurch wieder den Vorteil differenzieller Reproduktion. Das führte jahrmillionenlang über eine lückenlose Orgie von Kopulationen hinweg auf Dauer dazu, dass in den Urtierpopulationen diejenigen ohne nennenswerte Lust gegenüber denjenigen mit sexueller Lust mengenmäßig ins Hintertreffen gerieten, auf die Dauer den Kürzeren zogen und auf der Strecke blieben. Sie bekamen sozusagen den Schwarzen Peter. Lustmuffel und Liebesspielverderber starben aus. Die Lust in der Evolution behielt die Oberhand und verdrängte alle geschlechtskalte Frigidität.
Es ist also ganz analog der Entstehung unserer evolutionären Intelligenz: Auch hier bewirkt ein selbsttätig spontaner, eigendynamischer, mit sich selbst rückgekoppelter, sich selbst verstärkender Selektionsprozess, dass der Sexualtrieb zum entscheidenden Motor seiner eigenen Selektion wird und sich selbst zu immer größeren Potenzialen hochstimuliert. Dabei kommt es genau wie bei der mentalen Evolution auch hier zu einem innerartlichen Rüstungswettlauf der menschlichen Gattung, einer selbsttätig angekurbelten sensualistischen Rüstungsspirale, die sich ohne jedwede Grenze ungehindert in die Höhe schraubt. Da bei der Begattung ein Mehr an Lust niemals schadet – im Gegenteil –, sind diesem hedonistischen Rüstungswahn – der hier tatsächlich wie die Lust selbst auf einer Art ,Wahn' beruht – durch die evolutionäre Lebenswelt keinerlei Grenzen gesetzt. Wieder ganz im Gegenteil: Da das evolutionäre Milieu den Sexualtrieb samt gesteigerter Vermehrungsrate selbst als ein maßgebliches Selektionskriterium mit umfasst, ist das, woran die Fähigkeit zur Lust sich anpassen muss, selbst immer wieder nur noch ein Mehr und Mehr an Lust!
Es ist eine typische Rüstungsspirale des Sensualismus, wird sie zugleich doch auch von einem typischen Verdrängungsprozess begleitet, bei dem die weniger sinnlichen Varianten allmählich von den hedonistischeren verdrängt und ins Aus manövriert werden. So wird die uranfänglich-primoriale Lustlosigkeit in der Welt: die universelle ,Unschuld' der Natur, allmählich durch die Epiphanie der Lust übertrumpft und ausgestochen.
Ist das vielleicht der realistische Kern des christlichen Mythos vom ,Sündenfall'? Ist die animalische Lebenslust denn etwas anderes als die sexuelle? Man könnte eine evolutionistische Version der ,Erbsünde' darin sehen. Dann sind aber, da darauf die Natur selbst verfiel, nicht Adam und Eva im Paradies daran schuld.
Es entsteht der Sexualtrieb und eskaliert durch Mutation und Selektion mehr und mehr zu der überstarken, überwältigenden Macht, die er beim Menschen ist. Auch diese Rüstungsspirale der Lust, bei der die eskalierende Libido zum entscheidenden Kriterium ihrer eigenen Selektion wird, ist insofern ohne jede Absicherung, als es keinerlei effektive Rüstungskontroll- oder Abrüstungsverhandlungen gibt, die der Liebestollheit der Natur Einhalt gebieten könnten: bis hierher und nicht weiter. Ganz im Gegenteil wurde jede erbliche Veränderung, die in Richtung eines noch aggressiveren Sexus ging, von der Selektion mit offenen Armen empfangen und schon deshalb favorisiert, weil es dem Tier zu mehr Nachkommen half. Diese ererbten die progressive Lust- und Liebesfähigkeit und gaben sie ihrerseits wieder an ihre eigene Nachkommenschaft weiter. Es kommt auf der Stufenleiter der Evolution zu einer Eskalation des Sexus.
Verstehen wir die Genese des Eros also recht von der Logik seiner kausalen Verursachung her: Die lebenden Organismen wurden nicht etwa deshalb mit einem lustempfindlichen und lusterzeugenden Nervensystem und den darin involvierten Molekülen belohnt, damit sie es sexuell miteinander trieben; das wäre teleologisch gedacht. Vielmehr wurden diejenigen, die, indem sie es miteinander trieben, dabei auch noch laszive Lustgefühle hatten, auf diese Weise dafür belohnt, so dass sie es ab da noch viel öfter und aufdringlicher trieben; das ist selektionistisch gedacht. Die Tiere wurden im Freudenhaus der Evolution ebenso zur Lust verführt und von ihr abhängig gemacht wie die hedonistische Heroinratte im Labor des Verhaltensforschers, die mit Elektroden im Kopf wieder und wieder den Hebel drückt, mit dem sie sich die Droge selbst injiziert, hundertmal, tausendmal, stundenlang, bis zur Erschöpfung. So ein liederliches Labor ist, was den Sex betrifft, auch die evolutionäre Welt im Ganzen!
Warum treten wir so lang auf dieser biologischen Binsenweisheit herum? Weil es en passant auch die Erklärung eines Erotomanen wie Heine ist: Die Erotomanie ist ja gerade die Kulmination dieser rasenden Entwicklung! Übrigens hatte der Mensch, der von ihm so genannte Aristokrat unter den Tieren, sozusagen ,Glück', dass es solche Zellen und Moleküle sowie den sie lenkenden Mechanismus – den Algorithmus der Lust, die Alchemie der Leidenschaft – in der Welt überhaupt gibt, ansonsten wir bis heute dem Liebesakt ganz ohne Lust aufsitzen müssten. Vorausgesetzt, es gäbe uns dann überhaupt und wir hätten es bis zur Entwicklung unserer Gattung geschafft. Eine Gattung ist ja namentlich nur, was sich begattet. Auch wäre es dann, da auch die Liebe durch diese Moleküle bewirkt wird, kein ,Liebes'-Akt im eigentlichen Sinn.
Daraus folgt insbesondere, dass, so wenig wie bei der Evolution der Intelligenz, auch in der Evolution der Liebe die Selektion von irgendeinem Einfluss darauf ist, wie weit die Eskalation der Lust von sich aus geht. Anders gesagt, ist die Selektion so wenig wie irgendeine ,Anpassung' ohne Einfluss darauf, wie weit dieser hedonistische Luxus der Evolution am Ende führt. Hier spätestens werden die durch Optimalitätsprinzipien gekennzeichneten Selektionsgesetze zum förmlichen Lust-Prinzip: Je mehr die Organismen vom Sex haben, desto mehr treibt es sie dazu an, desto mehr verlangt es sie danach; und je mehr es sie danach verlangt, desto erfolgreicher vermehren sie sich. Die Selektion ist keine Anstandsdame, vielmehr eine Kupplerin κατ' ?ξοχήν. Ihr den Zügel überlassen, heißt, der Zügellosigkeit Tür und Tor öffnen. Heißt, den Bock zum Gärtner machen. Und überlassen blieb ihr der Zügel und Garten eine Ewigkeit lang.
Bedeutet also: Die Selektion wird von sich aus beliebig viel Lust erlauben, Lust ad libitum, Lust bis zum Abwinken, Lust, bis der Arzt kommt. Sie wird in der Welt gerade ein solches Lustpotenzial aufbauen, als von der Natur der Dinge selber her möglich; will heißen: als es in den naturgegebenen Möglichketen des Naturstoffs überhaupt liegt! wieviel die biochemischen Voraussetzungen unserer Sinnlichkeit von sich aus leisten! Die Selektion wird ebenso den ,ontologischen Möglichkeitsraum' der Lust in der Welt erschöpfen – ihn buchstäblich ausreizen –, wie sie auch den Möglichkeitraum der evolutionären Intelligenz ausgereizt und erschöpft hat. Die Selektion wird, aus ganz analogen Gründen, die Welt mit genauso viel Lust überziehen, wie sie sie mit menschlicher Intelligenz überzog. Geht auch hier alles mit natürlichen Dingen zu – sprich, nach dem Prinzip der von Optimalprinzipien gekennzeichneten Selektionsgesetze –, dann leben wir ebenso, wie laut Leibniz in der ,besten aller möglichen Welten', auch in der hedonistischsten aller möglichen Welten. Unser überdimensioniert entwickeltes Menschenhirn ist nicht nur intellektuell, sondern auch sensualistisch gesehen das beste aller möglichen Gehirne. Und unsere Menschenwelt wäre auch mit Bezug auf die Liebe, in Anbetracht der Rolle, die sie darin spielt, die beste aller möglichen Welten ... –
Soweit der Ursprung der menschlichen Sinnlichkeit, wie sie unserm menschlichen Mittelmaß nach für jeden gilt. Wie kommt es nun aber darüber hinaus zu einem so ungewöhnlich und außerordentlich heißblütigen, alles normalmenschliche Mittelmaß sprengenden erotischen Temperament wie dem Harry Heines? Denn: Ein Held kann dadurch zugrunde gehen. Aber auch nur ein Held. Der lieben Mittelmäßigkeit droht hier, wie überall, keine Gefahr!
Auch das erklärt sich durch gute selektionistische Argumentation. Besteht offenbar doch eine direkte Parallele zwischen der Evolution unseres menschlichen Geistes und der Evolution unseres menschlichen Sensualismus! In der Hirnevolution wurde ausnahmslos jede Mutation, die in Richtung höherer Intelligenz ging, selektiv begünstigt – gleichviel, ob sie für das ,Überleben' ihres Trägers noch einen Vorteil brachte oder die Anforderungen des Überlebens, sofern möglich, vielleicht sogar überschritt. Es ist oft behauptet worden, die Entwicklung des menschlichen Gehirns sei der spektakulärste Fall eines Entwicklungsprozesses, der über die Bedürfnisse der Umweltanpassung hinausgeht. Das Gleiche gilt mutatis mutandis für die sensuelle Evolution: Auch die Entwicklung der menschlichen Libido ist der spektakuläre Fall einer biologischen Entwicklung, die astronomisch weit die Anforderungen einer allfälligen ,Umweltanpassung' überschritt und als solche um nichts weniger spektakulär scheint als das Wachstum unseres Geistes, die Eskalation der Intelligenz. Zumal da ja auch der Sex zuerst und vor allem im Gehirn lokalisiert ist und im Licht evolutionären Gewordenseins zwischen den beiden Phänomenen kein großer Unterschied ist.
Die Selektion kann eine Mutation in Richtung eines gesteigerten Fortpflanzungsdrangs niemals negativ bewerten. Daraus folgt, die Selektion begünstigt automatisch immer sämtliche Mutationen in Richtung eines gesteigerten Triebs; und zwar ganz unabhängig davon, ob dieser gesteigerte Sex für die Fortpflanzung des Organismus überhaupt noch ,nötig' oder irgend noch ,wünschenswert' ist. Kurz, die Selektion erlaubt aus den gleichen Gründen, warum sie zu beliebigen Potenzialen des Geistes führte, auch beliebige Potenziale der Lust. Den Luxus der Lust. Lust bis zum Überfluss. Lust bis zum Überdruss.
Da es beim naturgeschichtlichen Werden unserer Evolutionären Vernunft keinerlei äußere Hemmschwelle gibt, ergab sich der Schluss: Die Selektion erlaubt in der Evolution gerade so viel Intelligenz, wie in der Welt von der Natur der Dinge her ontologisch überhaupt machbar. Nicht minder zwingend aber auch: Die Selektion erlaubt in der Natur unserer Evolutionären Sensualität genauso viel Lust, wie naturgesetzlich machbar. Das heißt, so viel Lust, wie in der biologischen Welt die physikalisch-chemischen Bedingungen der Sinnlichkeit von der Natur der Dinge aus ontologisch hergeben. Was bedeutet das für die Eskalation der Libido?
Die Antwort liegt auf der Hand: Die natürliche Entwicklung kann in puncto Sexus geradeso übers Ziel hinaus schießen, wie sie im Fall all jener organischen Entwicklungen übers Zel hinaus schoss, die als ,biologische Luxusbildungen' bekannt, berühmt, berüchtigt sind: wie beim Rad des Pfaus. Wie beim Leierschwanz. Wie beim Argusfasan. Wie beim Buckel des Zeburinds. Wie beim überdimensionierten Geweih des irischen Riesenirsches, wie bei der Auster Gryphaea, um nur einige spektakuläre Beispiele zu nennen.
Demzufoge wäre der Logik evolutionären Produziertseins nach schon im Vorhinein zu erwarten, dass auch die sensuelle Evolution zu solchen Übertreibungen und Luxusbildungen neigt. Es wäre gleichsam a priori zu erwarten, selbst wenn wir nicht genügend viele Beweise a posteriori dafür hätten. Auch in der Sinnlichkeit tendiert die Evolution zu tumorartigen Wucherungen, Auswüchsen, Hypertrophien bis hin zu Abnormitäten. Wir sehen es bei allen extrem heißblütigen Temperamenten; bei allen so genannten Romantikern, Erotikern, Erotomanen, Don Juans, Nymphomaninnen, Klitoromaninnen. Wir sehen es bei den Hypersexuellen und Sexualsüchtigen. Alle diese Extreme sind biologisch-,natürlich' gesehen eine Monstrosität, eine Überentwicklung in der Natur.
Das ist der Fall Heine. Sein hypertrophierter Eros hängt ihm an wie ein Verhängnis, wie das überdimensionierte Geweih des Irischen Riesenhirsches, mit dem er nicht mehr durchs Unterholz kam. Die Schalen seiner Subjektivität sind so in sich zurückgekrümmt wie die Schalen der Auster Gryphaea.
Ist aber nicht auch jede hochbegabte Intelligenz – die sprichwörtliche ,Intelligenzbestie' – eine solche Luxusbildung des Intellekts? Deshalb erklärt Schopenhauer, der den Zusammenhang völlig durchschaut, jede Form des ,Genies' als Abnormität. Daher Freuds Wort vom Menschen mit der „überstarken Entwicklung seiner Libido“ – so überstark, dass sie nachgerade zu einem „auf Allen lastenden Problem der Sexualität“ werde und „die uns auferlegten Triebbeschränkungen eine schwere psychische Belastung bedeuten.“ Der kleine Harry verspürte diese Triebbeschränkung schon mit sechs in der Sehnsucht nach Gertis??? Jungmädchenkörper.
All diese das ,vernünftige' Maß überschreitenden organischen Entwicklungen, Übertreibungen, Luxusbildungen, Hypertrophien, Exorbitationen, Extreme zeichnen sich dadurch aus, dass eine ursprünglich sinnvolle ,Anpassung' oder fitness blindlings ihrer Eigengesetzlichkeit folgt, dabei aber über ihren ,Zweck' hinaus schießt und am Ende bei solchen abnorm übertriebenen Formen ankommt, dass es ihrer eigentlichen Raison d’être geradezu widerstrebt und widerstreitet.
Aber was heißt hier ,abnorm', wenn es doch nur die konsequente Fortsetzung einer von Hause aus natürlichen Entwicklungstendenz ist? Woher sollte eine solche natürliche Zensur und Abrüstung denn kommen? Und was heißt hier ,widerstrebt und widerstreitet', wenn Hypersexualität der differenzellen Reproduktion doch keineswegs schadet?
Also auch die einer wehrlosen Laborratte gestellte Testosteron-Falle gilt nicht nur für das Individuum, sondern ist ein typisches Merkmal unserer Stammesgeschichte. In den Luxusbildungen unseres Fortpflanzungstriebs steht das Design der Natur in keinem ,vernünftigen' Verhältnis mehr zu dem organischen Ursprung, dem es sich verdankt – wieder eine Erscheinung, die zeigt, dass die Logik der evolutionären Entwicklung keineswegs eine ,sinnvolle Umweltanpassung' oder Reaktion auf etwelche ,Anforderungen der Umweltanpassung' ist, sondern ein autonomer eigengesetzlicher Prozess: immer nur das spontane organische Wachstum selbst, der freie Spieltrieb der Gene, die demiurgisch wuchernde Schöpfung der Natur!
Ist demnach auch der Geschlechtstrieb des übertriebenen Übers-Ziel-Hinausschießens fähig, dann gibt es in der Erotik auf ganz analoge Weise ein Genie der Sinnlichkeit wie auch im Geistig-Ideellen, Intellektuellen – wie in der abstrakten Denkkraft des Mathematikers, der Musikalität des Komponisten, der Visualisierungskraft des Malers. Mit einem signifikanten Unterschied allerdings: Während das Genie in Kunst und Wissenschaft intersubjektiv mitteilbar und kommunizierbar ist und in objektiv wertvollen Leistungen mündet, – gilt das für das Genie der Sinnlichkeit nicht: Sentimentale Ergriffenheit, libidinöse Erregbarkeit und Sexuallust sind nicht in dem Sinn ,konstruktive' Produkte wie diejenigen der kreativen Intelligenz. Sie sind immer nur vom Einzelnen selbst erfahrbar und den andern nicht direkt kommunizierbar.
Bei den Sinnen ist Einsamkeit. Es ist, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, allein subjektives Empfinden.
Was nun aber folgt psychologisch daraus, wenn die Libido der Person so überentwickelt ist wie schon für unsere Gattung typisch? – Dann ist das Liebesverlangen der Person subjektiv physisch und psychisch so übertrieben und überspannt, dass ihm objektiv kaum mehr zu genügen ist. Daher wird Harry, ein Kronzeuge dafür, zu einem armen Subjektivling.
Immermann gegenüber klagt er 1823 über die erotomane Krängung seiner Dichtung: Ich will Ihnen gern eingestehn den Hauptfehler meiner Poesien, durch dessen Vorwurf Sie mich wahrscheinlich zu verletzen glauben: – es ist die große Einseitigkeit, die sich in meinen Dichtungen zeigt, indem sie alle nur Variationen desselben kleinen Themas sind … nur die Historie von Amor und Psyche in allerlei Gruppierungen. Es ist gewissermaßen eine weibliche Literatur. Eine männliche Literatur wäre eine solche, die ausschließlich von objektiven Sachverhalten handelt und in der das Subjektive kaum vorkommt.
Und 1826: Sie wissen ja, wie so einem armen Subjektivling zumute ist, und man braucht es Ihnen nicht erst weitläufig auseinanderzusetzen.
Das Drama meines Lebens war voller Leidenschaft, erklärt er dem Kritiker John Crockford, aber ohne Handlung; lauter stürmisches Wollen, nirgends Vollbringen; mein Leben erzählt nur von inneren Stimmungen und Träumen, von geistigen Freuden und Leiden, von Begeisterung, Verzweiflung, himmlischem Frieden und fröhlichem Aufstieg zu den Höhen, auf denen die Schöpfung unter uns liegt!
Sein kürzestes Selbstporträt: ein armer Subjektivling, eingegrenzt auf die Historie von Amor und Psyche, auf den Eros und seine Lust. Diese innige und eingezogene Subjektivität schlägt auf sein Verhalten in Gesellschaft durch. Er glaubt zu erfahren, dass er in einem bestimmten Sinn nicht gesellschaftsfähig – ein misfit – ist. Zuweilen findet er sich in einem Kreis von einfachen fröhlichen Leuten, die in gewöhnlichen Worten über gewöhnliche Dinge des Lebens reden und scherzen. Das Wort springt von einem zum andern, keiner ist um Antwort verlegen und korrespondiert mit einfachen, nicht selten sogar originellen und witzigen Worten. Man möchte meinen, er als phantasievolles, rhetorisch versiertes Subjekt nähme lebhaft daran teil und trüge seinen Teil zur Unterhaltung bei. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Stattdessen sitzt er stumm und blöde da, ringt gezwungen nach einem persönlichen Beitrag und findet keinen. Als wäre er geistig behindert: Ach ja, die Literatur macht müde, Lisaweta! stöhnt er mit Tonio Kröger. In menschlicher Gesellschaft kann es einem, ich versichere Sie, geschehen, dass man vor lauter Skepsis und Meinungsenthaltsamkeit für dumm gehalten wird, während man doch nur hochmütig und mutlos ist …
Ist es der Fluch der Literatur, dass er sich so gezeichnet, sich in einem rätselhaften Gegensatz zu den anderen, den Gewöhnlichen, den Ordentlichen fühlt, der Abgrund von Ironie, Unglaube, Opposition, Erkenntnis, Gefühl, der ihn von den Menschen trennt, tiefer und tiefer klafft? Das wäre überstürzt geurteilt. Es gibt logisch gesehen keinen Grund, warum uns die Intelligenz in Gegensatz zu anderen Menschen setzen könnte, – ansonsten ja beispielsweise alle Physikprofessoren menschliche Monster sein müssten. Die Literatur ist geradeso wenig die Ursache für seine soziale Marginalisierung, wie der Blitz die Ursache des Donners ist. Blitz und Donner sind beides die Folgen der elektrischen Entladung der Atmosphäre, nur erfolgt die optische Erscheinung des Lichts schneller als die akustische des Donners. Ganz analog dazu scheint Harrys Erotik ebenso zum einen die Ursache seines gesellschaftlichen Außenseitertums, wie zum andern des Erfolgs seiner Dichtung. Da seine charakteristische Eigenschaft seine Sinnlichkeit, die charakteristische Eigenschaft der Sinnlichkeit aber die subjektive Einsamkeit ist, verfällt er durch seine außerordentliche Sinnlichkeit einer außerordentlichen subjektiven Einsamkeit. Es ist, als ziehe ihn seine vereinsamende Subjektivität: Amor und Psyche, vom gesellschaftlichen Leben ab. Ihm ist dann fast, als werde ihm der Lebenssaft abgesaugt, und er fühlt sich wie ein geistig Beschränkter.
Manchmal kommt es ihm vor, als wäre er sexuell in dem Sinn zu verklemmt, als dass er die Bedürfnisse seiner Sinnlichkeit oder Libido auf freie und natürliche Weiße äußern könnte. Es ist aber keine Verklemmtheit, die auf irgendeiner unbewussten Angst oder Scham beruhte, sondern so, dass seine Sinnlichkeit und Sexualität so eng mit seinem Geist und Bewusstsein verbunden und gleichsam damit verfilzt sind, dass man es auch buchstäblich darein ,verklemmt' nennen könnte. Natürlich ist es dieser innigen Verfilztheit wegen dann auch wieder schwer, sie zum Ausdruck zu bringen, so dass es nach außen hin als sexuelle Verklemmtheit erscheint. Dann kann die Schwierigkeit, sie zu äußern, sogar fast wieder zu einer Art Angst führen.
Womöglich verstärkt wird dies noch als Folge sexueller Selbstbefriedigung: „Wollen wir nun“, so Otto Rank von der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, „die mit nachhaltigen psychischen Wirkungen geübte masturbatorische Befriedigung der Genitalzone in ihren nicht-neurotischen Folgeerscheinungen für die Psyche, insbesondere mit Rücksicht auf die spätere Ausprägung einzelner auffälliger Charaktereigentümlichkeiten, würdigen“, so sei unter anderem „auf die offenkundigen Züge von Schüchternheit, Gesellschaftsscheu und Errötungsneigung der Masturbanten hinzuweisen, die sich leicht aus ihrem Schuldbewusstsein und dem autoerotischen Sexualleben ergeben, das kaum Libido zur Herstellung einer positiven Gefühlsbeziehung zur Außenwelt verfügbar lässt.“ Ein Schriftsteller aber darf sich nicht seiner Subjektivität ganz überlassen, er muss alles schreiben können, und sollte es ihm noch so übel dabei werden.
Vielleicht ist es unabhängig davon aber auch eine gewisse Lebensschwäche von Hause aus. Es erinnert an seinen Vater Samson, der oft genauso unbeholfen und blöde dahockt. Oder ist diese Lebensschwäche selbst schon eine Folge indivieduell erworbener Sucht? Wie dem auch sei, er kompensiert es mit der Literatur. Das Primäre ist aber nicht die Literatur, sondern der Sex. Das Gleiche dürfte für Tonio Kröger gelten: Der Abgrund von Ironie, Unglaube, Opposition, Erkenntnis, Gefühl, der ihn von den Menschen trennt, stammt nicht aus der Literatur, sondern primär aus der abgründigen Sinnlichkeit, und seine Literatur selbst stammt aus dieser Tiefe. Versetzt seine Sinnlichkeit und Einsamkeit ihn doch in den Stand einer Erkenntnis, die nach Ausdruck verlangt, – auch wenn es dann gerade wieder diese Erkenntnis ist, die ihn von normaler Menschlichkeit trennt. Es ist ein Teufelskreis, bei dem man nicht sagen kann, was als erstes kommt: die Erkenntnis oder die Sinnlichkeit. Die Folge jedenfalls ist Verstummung. Die einzige Art des Entäußerns, die ihm bleibt, ist die Dichtung: seine Lyrik und poetische Prosa, beides Ausdruck seiner Einsamkeit, Stimme seiner sinnlichen Verwüstung.
Er selbst scheint sich darüber nicht ganz im Klaren. Ein arger Wahn kömmt in mir auf – schreibt er 1823 am Moses Moser –, ich fange an, selbst zu glauben, dass ich geistig anders organisiert sei und mehr Tiefe habe als andere Menschen. Es ist aber seine abgründige Sinnlichkeit.
Dagegen ist er unter gleichgearteten Freunden der gesprächigste Mensch von der Welt. Dann sind es die gemeinsamen Leidenschaften und Laster unter seinesgleichen, die dem Austausch immer neue Nahrung geben. Dabei scheint sein Fall so untypisch auch wieder nicht, ist doch die Liebe das A und das O der Welt! Ecce homo! jeder von uns ist Subjekt; und jedes Subjekt ist ein sinnliches Subjekt. Daher gibt es kaum etwas Objektiveres als das Subjekt. So ist er in seinem subjektiven Eros durchaus wieder objektiv und universell. Man kann ihm über Amor und Psyche nichts vormachen, da ist er mindestens so beschlagen wie Freud.
Doch bleiben solche Erotomanen und Klitoromaninnen in ihrer angestammten Einsamkeit befangen, obwohl gerade sie der zärtlichen Zuwendung am meisten bedürften. Das ist die Tragik der hypertrophierten Sinnlichkeit. Das ist die Tragik der großen Erotiker in der Welt: Grenouille in Süskinds Parfum!
Nun aber, das hatten wir schon: Die Natur kennt einen Notbehelf. Kann der Hans seine Grete nicht kriegen, und wird der subjektive Trieb nicht auf natürliche Art befriedigt, dann kommt es zu einer libidinösen Ausweichreaktion: der sexuellen Selbstbefriedigung oder Ipsation. Der von Spinoza beschriebene von der Vorstellung einer äußeren Ursache begleitete Kitzel, genannt Liebe, braucht zu seiner Befriedigung die äußere Ursache dann erst gar nicht mehr. Der von der Vorstellung einer äußeren Ursache begleitete Kitzel muss durch das, was ihn auslöst, nicht unbedingt auch befriedigt werden. Das angeborene, genetisch determinierte Bedürfnis nach Lust löst sich von seinem ursprünglichen Ziel, verselbständigt sich und gewinnt ein dynamisches Eigenleben.
Die letzte und innerste Instanz für unsere eingefleischte Lust ist die Phantasie. Realisiert ist das Lustpotenzial des Individuums durch Millionen und Milliarden einzelner Zellen und Moleküle, Neurotransmitter und Hormone, die beim Sex verfügbar werden und den Cocktail der Lust mixen. Offenbar herrscht eine intime Liaison zwischen der Alchemie der Lust und unserer Phantasie. Die Phantasie hat, vermittelst kleiner und kleinster Nervenströme, einen direkten inneren Zugang zu den Zellen des Belohnungssystems und vermag, das molekulare Konstrukt manövrierend, unsere innersten Empfindungen nach Maßgabe der Phantasie zu steuern. Erst so wird der physiologische Reiz mit dem Bilde verknüpft, das unser Geist sich von dem Sexualobjekt macht.
Ist die Phantasie aber schon so vorzüglich dazu geeignet, unsere Lust zu erregen, so ist sie der gleichen Logik nach auch dafür gut, die Erregung gleich vollends auch zu befriedigen. Die Phantasie, eine notwendige Bedingung des Sexualtriebs, wird zugleich auch zur hinreichenden Bedingung seiner Befriedigung. Mit einem Wort, die Lust in der Phantasie verselbständigt sich. Das Subjekt genügt in der Lust ipsistisch sich selbst.
Das aber verschärft nur noch seine Einsamkeit. Die sich selbst verstärkende rückgekoppelte Testosteron-Falle, eine Eskalationsspirale ohne Absicherung, wird zur Falle eines hedonistischen Solipsismus – ein positiv mit sich selbst rückgekoppelter, sich selbst verstärkender Regelkreis ipsistischer Vereinsamung und sexuellen Elends. Das ist die Erfahrung seiner Jugend. Das Lustsubjekt schmort im eigenen Saft. Denn, so Choderlos de Laclos in Gefährliche Liebschaften: Etwas wissen Sie aber nicht, nämlich dass die Einsamkeit die Glut der Begierde ins Ungeheure schürt.