Читать книгу Harry hardcore II - Der junge Heine - Freudhold Riesenharf - Страница 5
30: Béatrice
ОглавлениеOb seine geliebte Béa ahnt, welch hedonistisches Monster sie neben sich duldet? Die Schöne und das Biest: Sie wird zu seiner dame de lettres. Als junges Mädchen, meint sie einmal, habe sie sich nicht vorstellen können, und könne es eigentlich immer noch nicht, wie man etwas so Dickes wie ein Buch schreiben könne – ein Grund mehr, warum er, um ihrer Bewunderung willen, dereinst Bücher schreibt. Je öfter sie sich treffen, je näher er ihr kommt, desto weniger genügen ihm die bloßen Worte. Je mehr er auf gleicher Wellenlänge schwingt und ihrer lieben Stimme lauscht, desto mehr verlangt es ihn, sie auch körperlich zu umfangen. Sie aber merkt nichts davon oder tut, als ob sie nichts davon merkte, oder ignoriert es einfach um ihrer ungetrübten Freundschaft willen.
Sie wird zu seiner Dame des Herzens. Er beginnt von ihr zu träumen. Kastor und Pollux, die beiden skabrösen Dioskuren, sind längst passé, abgetan, erledigt, wenn auch von den Mädchen vielleicht nicht vergessen, und die Kampfzone wieder leer. Einmal spielt sie in einem Märchenspiel in der Gemeinde mit, in dem sie laut Libretto von einem Mitspieler aus der Gruppe geküsst werden soll. Sie hat so viel Vertrauen zu Harry, und ist ihm so nah, dass sie sich rührend bei ihm beklagt: der Mitspieler deute den Kuss nicht nur an, sondern nütze die Regieanweisung aus und küsse sie wirklich auf den Mund; was sie sich durchaus verbitten möchte. Offenbar will sie aber auch nicht so spielverderberisch sein, es jenem offen zu sagen.
Harry ist richtig stolz, dass er an solch intimen Herzensangelegenheiten teilhaben darf und sie ihn, was sie keinem andern sagen würde, solcher Geständnisse würdigt, und überlegt, ob er den Jungen zur Rede stellen soll, – wird sich der ungebührlichen Prätension aber schnell bewusst. Béa ist ein großes Mädchen und weiß selber, wie sie sich in einer solchen Situation zu verhalten hat. Sein Recht über sie ist nicht derart, dass er das Recht hätte, dem andern das Recht zu bestreiten. Selber schuld, warum gibt sie ihm, ihrem Busenfreund, nicht dieses Recht? Denkt sie nicht daran, wie ihr intimes Geständnis sein eigenes Begehr nach einem Kuss wecken muss? Würde sie mit ihm so poussieren, wie er wollte, hätte sich das mit Jérôme längst erledigt.
Ein andermal sagt sie über einen seiner nächsten Freunde: „Der Walter wird immer hübscher!“ Das kann er unterschreiben, der Mann ist ein Paradebeispiel von männlicher Schönheit. Das will er neidlos zugeben – und erwehrt sich doch nicht des eifersüchtigen Bedauerns, dass sie das nicht von ihm selber sagt. Könnte sie nicht wenigstens, um ihn zu trösten, hinzusetzen: Aber du bist mir trotzdem lieber? Die wunderliche Sittlichkeit der Frauen: Wie kann sie das so adäquat empfinden – und dabei trotzdem neutral bleiben, ohne sich sofort in den Freund zu verlieben? Wäre er an ihrer Stelle ... Er lebt – freudianisch gesprochen – nach dem Lustprinzip, die Frauen nach dem Realitätsprinzip.
Ein andermal wieder zeigt sie ihm eine Tuschzeichnung von ihrer Freundin Berthe – derselben, die er einmal wie ein Westernheld küsste – vor einem malerischen Hintergrund am öffentlichen Düsselstrand, ihre weibliche Sanduhrfigur, an der Pollux herumgefummelt hat, im Badekostüm so leichtgeschürzt, dass ihn spontan ein Echo alter Leidenschaft umflackert; damit revanchiert er sich für ihr unbekümmertes Kompliment für Walter. Berthe hat einem begabten Kunststudenten an der Akademie Modell gestanden. Béa hat bestimmt – so geschwätzig die Frauen sind, und so hinterlistig sie ihn dabei anblickt – von Harrys Überfall auf sie erfahren, damals, als er noch ein dummer Junge war, das hat eine Leukippostochter der andern bestimmt nicht verschwiegen. Sie tut aber so, als wäre ihr Name Hase und sie wüsste von nichts, oder als wäre es vorbei und vergessen, und kommt mit keiner peinlichen Anspielung darauf zurück.
Hübsch! kommentiert er, scheinheilig auf die Umgebung verweisend.
Und Berthe? fragt sie, wobei sie ihn listig anschaut.
Berthe auch! gibt er beschämt zu und fühlt, wie ihm das Blut in den Kopf steigt. Sie hat ihn durchschaut. Soll er ihr gestehen, wie sehr er in Berthe verschossen war? Nein, das weiß sie wohl selber, oder will es gar nicht so genau wissen, und er will sie auch nicht daran erinnern, besonders sie nicht. Und auch daran nicht, wie selig er war, als sie beide in der Bolkerstraße einmal mit seinem Namen auf den Lippen hinter ihm her gerannt sind. Am liebsten hätte er noch immer beide zusammen, Berthe und Béa, geliebt. Am liebsten hätte er sich mit beiden zusammen im Rasen des Freibads gewälzt, in einem Arm Berthe, im andern Béa, und hätte mal mit der einen, mal mit der andern poussiert. Warum um alles auf Erden ist das nicht möglich?
Haben sie dasselbe mutatis mutandis nicht auch mit Kastor und Pollux gemacht? Ja, wieso kann er mit ihnen nicht so in die Büsche gehen, wie er es sich mit Hanni ausphantasiert hat, und mit beiden liederlich sein? Warum geht es nicht, dass er mit ihnen nackt wie bei Carracci auf dem Lotterbett liegt, beide an seiner Brust, die knackigen Leukippostöchter mit ihrer jungmädchenhaften Sanduhrfigur, liebreizende Odalisken des Orients, bezaubernde Konkubinen, und mit ihnen Unzucht trieb, wie er es einmal auf einer Abbildung auf seinem Söller gesehen? Warum gibt es dergleichen nur in der Literatur und Kunst und niemals real auf Erden?
Fürwahr, er fühlt sich zwischen Béa und Berthe hin und her gerissen wie bei Rousseau Saint-Preux zwischen Claire und Julie: Frauen! Frauen! Geliebte, aber gefährliche Geschöpfe, die die Natur nur zu unserer Strafe schmückte, die ihr straft, wenn man euch trotzt, die ihr verfolgt, wenn man euch fürchtet, deren Hass und Liebe gleich schädlich ist, und die man ungestraft weder sucht noch flieht! – Schönheit, Zauber, Reiz, Sympathie, Wesen oder unbegreifliches Hirngespinst, Abgrund von Schmerz und von Wonne! Schönheit, furchtbarer den Sterblichen als das Element, das dich geboren werden ließ, wehe dem, der deiner betrügerischen Ruhe sich überlässt! Du bist es, die die Unwetter erzeugt, die das Menschengeschlecht quälen. O Béa! o Berthe! wie teuer verkauft ihr mir jene grausame Freundschaft, deren ihr euch gegen mich zu rühmen wagt! … Dazu Rousseaus Fußnote: Der arme Philosoph scheint mir zwischen zwei hübschen Frauen in einer drolligen Verlegenheit zu sein. Man sollte meinen, er wolle weder die eine noch die andere lieben, damit er alle beide lieben könne.
So haben seine Tagträume etwas Promiskuitives, Verhurtes, schier Pornographisches an sich. Wie kann er nur denken, fragt er sich, mit zwei Frauen zugleich Sex zu haben? Ist das erhört? Ist das nicht schon im Kopf verboten? Ist seine Phantasie schon so verdorben, dass sie die beiden Liebsten zu Huren und ihn zu einem Hurenbock macht? – Aber so ist es wohl, seiner ausbündigen inwendigen Sinnlichkeit entspräche in der Außenwelt das Leben eines ungehemmten Don Juans. Das ist aber nicht tunlich, solange die Frauen nicht mitmachen. Er hat Probleme, die bürgerliche Fasson zu wahren, und erschöpft sich in ipsistischen Phantasien.
Im indischen Kamasutra der Arche Noä gibt es die Abbildung eines Inders beim Verkehr mit zwei Frauen, beide so lieblich wie Béa und Berthe. In Heimkehr XV aus dem Buch der Lieder reimt er sich einen flotten Vierer mit seinen schönen Konkubinen Jette, Julia, Kunigunde zusammen, eine zünftige Ménage-à-quatre, auch wenn er sich am Ende in kritischer Traumzensur selber verspottet. Dass er Liebe genoss, ist physisch zu nehmen:
Da droben auf jenem Berge,
Da steht ein feines Schloss,
Da wohnen drei schöne Fräulein,
Von denen ich Liebe genoss.
Sonnabend küsste mich Jette,
Und Sonntag die Julia,
Und Montag die Kunigunde,
Die hat mich erdrückt beinah.
Doch Dienstag war eine Fete
Bei meinen drei Fräulein im Schloss;
Die Nachbarschaftsherren und -damen,
Die kamen zu Wagen und Ross.
Ich aber war nicht geladen,
Und das habt ihr dumm gemacht!
Die zischelnden Muhmen und Basen,
Die merkten's und haben gelacht.
Berthe ist ihm so gut wie verschollen, nachts aber träumt er sich Béatrice in die Arme, und wie er ihre weißen jungfräulichen Glieder umfängt. Wo gäbe es eine solche Möglichkeit? Die Goi seiner Schule veranstalten einen Faschingsball, er selber macht dabei mit. Schon Wochen vorher malt er sich aus, wie er, während die andern Schüler auf die offizielle Aula eingeschränkt blieben, Béa durch eine heimliche Lücke der Absperrung in das abgedunkelt dahinter leer liegende Schulhaus entführt. Er könnte sie in einen der zufällig offen stehenden Räume lotsen, oder auch gleich auf dem dunklen Flur bei ihr liegen. Da würde er sie männlich umfangen und sie ihres leichten Kostüms entkleiden und sich selig an ihren weißen Brüsten ergehen. So verhurt sind seine Träume ... Aber dann ist der Faschingsball vorbei, nichts dergleichen ist geschehen, er hat – vorausgesetzt, sie ist überhaupt erschienen – nichts davon gewagt, ist immer brav innerhalb der offiziellen Absperrung geblieben, und der Status quo ist nach wie vor unverändert.
Einmal gegen frühmorgens hat er einen Pollutionstraum, in dem er sie wie ein weißes Reh mit nackten Gliedern auf seinem Schoße hält. Er liebkost sie von oben bis unten, hat aber wie oft in seinen Träumen das Problem, in sie einzudringen. Das ist für seine Träume, mehr als einen, typisch: Er spürt eine unerklärliche Hemmung, die Frauen, die er im Arm hat, wirklich zu penetrieren. Entweder es liegt daran, dass er noch nicht genau weiß, wie das geht, oder eine Art träumerischer Selbstkritik hindert ihn, sich in unbewusster Illusion zu erlauben, was ihm im Wachzustand realistisch versagt bleibt. Es ist, als seien die bewussten Mechanismen der sexuellen Selbstbefriedigung außer Kraft gesetzt: Nicht das Bewusstsein beherrscht das Unterbewusstsein, sondern das Unterbewusstsein beherrscht das Bewusstsein. So bleibt die Unentschiedenheit bestehen, bis es ihm kommt und er sich alibihalber auf ihren weißen Leib ergießt: Béatrice – Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden, meine Sünde, meine Seele. Aber alles nur in der Phantasie, nur als Traumabenteuer. Er gesteht das Erlebnis einem Freund und beklagt seine mangelnde Wirklichkeit.
Sei doch froh! bemerkt dieser. Er hat Harrys Bedauern, dass es nur eine Illusion und nicht die Wirklichkeit war, wohl verstanden, will ihm aber abgebrüht zu verstehen geben, dass dies immerhin besser sei als nichts. Wäre der Freund erfahrener, würde er vielleicht sogar darauf verweisen, der geträumte Orgasmus an Béas Busen sei womöglich intensiver und befriedigender gewesen, als hätte er sie wirklich körperlich besessen. Harry will Béa aber nicht nur in effigie besitzen. Er stilisiert sein Traumbild ins Faustisch-Mythologische und verkauft für eine Nacht mit ihr seine Seele, an deren Unsterblichkeit er sowieso nicht mehr glaubt:
Im süßen Traum, bei stiller Nacht,
Da kam zu mir, mit Zaubermacht,
Mit Zaubermacht, die Liebste mein,
Sie kam zu mir ins Kämmerlein.
Ich schau sie an, das holde Bild!
Ich schau sie an, sie lächelt mild,
Und lächelt, bis das Herz mir schwoll
Und stürmisch kühn das Wort entquoll:
„Nimm hin, nimm alles, was ich hab,
Mein Liebstes tret ich gern dir ab,
Dürft ich dafür dein Buhle sein
Von Mitternacht bis Hahnenschrei.“
Da staunt' mich an gar seltsamlich,
So lieb, so weh, und inniglich,
Und sprach zu mir die schöne Maid:
„Oh, gib mir deine Seligkeit!“...
Ich aber wollt in Lust vergehn,
Ich hielt im Arm mein Liebchen schön;
Sie schmiegt sich an mich wie ein Reh,
Doch weint sie auch mit bitterm Weh.
Feinsliebchen weint; ich weiß, warum,
Und küss ihr Rosenmündlein stumm. –
„O still, Feinslieb, die Tränenflut,
Ergib dich meiner Liebesglut!“
Das opake Verhältnis beginnt sich zu lichten, als sie von einer Reise nach Paris zurückkommt, wo sie in einer auberge de la jeunesse Federico kennengelernt hat, einen spanischen Studenten der Ingenieurskunst, der sich ferienhalber ebenfalls dort befunden. Sie ist herzlich engagiert. Harry nimmt es mit nüchterner Männlichkeit zur Kenntnis. Da er in seinem Furor philologicus außer Latein auch Spanisch im Wahlfach hat, sitzen sie beide nebeneinander in einer Bank. Nach ein paar Monaten fängt er an, den Don Quijote im kastilianischen Original aus der Arche Noä zu lesen, muss aber erkennen, dass seine Fähigkeiten dazu noch nicht reichen. Er zäume das Pferd immer von hinten auf, bemerkt Béa lachend gegenüber Betty. Sie kriegt nicht mehr mit, wie er später, genügend avanciert, den fast tausendseitigen Band in kleinen und kleinsten täglichen Portionen liest. Zumal die Nähe des cervantinischen Kastilianisch zum klassischen Latein Ciceros, in dem er Champion ist, bildet einen Genuss eigener Art.
Sein verliebtes Liebchen plant eine Fahrt nach Madrid, um ihren Romeo in seinem angestammten Ambiente zu besuchen. Harry würde sie gern dabei begleiten. Es ist ihm bewusst, dabei nur das fünfte Rad am Wagen zu sein, aber er ist an Entsagung gewöhnt, und ihre Freundschaft ist so robust, und Béa so freimütig, ihm zu erklären, dass er sich von der Reise keine erotischen Abenteuer erwarten darf. Jeder andere an seiner Stelle hätte die Flinte ins Korn geworfen, Vernunft walten lassen und sich nicht zwischen zwei Liebende wie zwischen zwei mahlende Mühlsteine gedrängt. Nicht so der junge Poet. Er gibt nicht so leicht auf und betrachtet es als eine besondere Herausforderung an seine Männlichkeit, wie er in der entfernten spanischen Metropole zusammen mit seiner Geliebten und ihrem Liebsten verweilen und dennoch seine männliche Würde bewahren würde: Ja, Daulnoin hat völlig Recht, es ist äußerst gefährlich, sich mit einer Person wie der Kleopatra in ein näheres Verhältnis einzulassen. Ein Held kann dadurch zugrunde gehen. Aber auch nur ein Held. Der lieben Mittelmäßigkeit droht hier, wie überall, keine Gefahr! Es soll eine Feuertaufe für seine Männlichkeit sein, eine heilsame Lektion und wahre éducation sentimentale; danach wäre er von seiner Leidenschaft für Béa geheilt und für alle Zeiten gegen die Pocken des Herzens geimpft.
Daraus wird aber nichts. Betty, die vis-à-vis der Anfechtungen, die ihm drohen, größere Bedenken hat als er selbst, erlaubt es nicht. Sie hat noch die Erziehungshoheit und zerbricht sich, wie alle solche, seinen Kopf. Er muss akzeptieren, wie sie ihn aus Sorge um ihn daran hindert, ihn seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen. Er bleibt auf Erfahrungsentzug zu Hause, während Béa allein ihrer pelrinage d'amour nachgeht.
Bei der Rückkehr ist sie womöglich noch verliebter als zuvor. Sie ist so aufrichtig und offen, und ihre Freundschaft zu ihm so robust, dass sie auf seine lockere Anspielung hin sogar zugibt, mit Federico geschlafen zu haben. Sie, die sich einmal den Kuss Jérômes verbat, hat dem wahren Geliebten alles erlaubt. Wie das denn so sei? will er mit beiläufiger Nonchalance wissen. Oh, so schön, sagt sie, so süß. Er kann es ihr, nicht nur in seinen Pollutionsträumen, nachfühlen. Glücklicher Federico! Könnte sie es nicht auch ihn einmal, nur so zum Spaß, zum Abschied, versuchen lassen? Aber Béa ist nicht so amoralisch. Die Frauen sind überhaupt nicht so amoralisch.
Einmal lesen sie einen berühmten, schon betagteren französischen Philosophen, der mit seiner Lebenspartnerin, gleichfalls eine renommierte Autorin, in einer lockeren Beziehung freier Liebe lebt. Sie könne sich nicht vorstellen, meint Béa, dass er noch immer mit ihr schlafe. Was meint sie damit? Worauf spielt sie an? Dass er ihr bei ihrem Alter schon überdrüssig sei? Hofft sie, mit ihrem Spanier würde es anders?
Warum sie ausgerechnet in Federico verliebt sei, fragt er ein andermal, was so Besonderes an ihm wäre? Oh, er sei einfach nur lieb, sagt sie. Sie könne ihn gar nicht anders beschreiben, als dass er einfach nur lieb sei. So wollen, merkt er sich, die Frauen von einem Mann eigentlich nicht mehr und nicht weniger, als dass er einfach nur lieb ist. Das Genie, auf das er sich soviel zugute hält, ist da überhaupt gar nicht nötig.
Ein andermal erzählt sie ihm, Federico habe geweint, als sie in Paris voneinander schieden. Geweint? Er denkt an Schillers Don Carlos, und wie aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht kommt, der König habe geweint: ,Der König geweint?' Gewiss muss ein Mann eine Frau wirklich lieben, wenn er um sie weint. Könnte er selbst um Béa weinen? Wieviel hat er um Giselle geweint! Aber um welche Frau hat er eigentlich nicht geweint?
Als sie einmal längere Zeit nichts aus Madrid hört, spürt er ihre Liebesangst, die l'angoisse d'amour. Er tut sein Möglichstes, sie zu beruhigen.
Sie will, dass Federico, der außer Spanisch nur Englisch und Französisch spricht, nach Deutschland übersiedelt; als Ingeniero sollte er keine Probleme haben, eine Stelle zu finden. Harry zählt die Tage, die ihm mit Béa noch bleiben. Als er sie wieder zu Hause besucht, hantiert Federico bereits in der Küche, ein wackerer, nüchterner, sympathischer Técnico, der ihm als Brautgabe aus Madrid die Partitur eines Gitarrenkonzerts mitgebracht hat. Jetzt dauert es nicht mehr lang, bis Béa aus seinem Ereignishorizont verschwindet.
Er sieht sie zum letzten Mal. Die philosophischen Diskussionen enden, wo das Leben beginnt. Lukrez, Lamettrie, Lamarck, Geoffroy Saint-Hilaire und die modernen Naturalisten kehren zurück ins Regal. Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum. Sie heiraten und ziehen an einen anderen Ort. Er erfährt nicht einmal mehr, ob und was sie studiert. Einmal begegnet er in der Stadt zufällig Berthe. Ihr Gesicht kommt ihm etwas strenger und herber vor als früher, und an ihre Sanduhrfigur unter ihrer Kluft wagt er erst gar nicht mehr zu denken. Einmal beim Tanz im Gemeindehaus, lange nach seinem Kuss, hat er sie gefragt, was sie denn nun im Leben so treibe. Das will er jetzt nicht mehr wiederholen. Auch nach ihrem Liebesglück fragt er nicht. Sie erwähnt, dass Béa, mit der sie noch in Verbindung steht, gern etwas von ihm hören möchte, und will ihm ihre Anschrift geben, damit er ihr schreiben kann. Er spielt aber den sentimentalen Muffel und wiegelt ab. Sie ist doch glücklich! sagt er, wie um zu bedeuten, dass er sie dabei so wenig stören wolle wie Saint-Preux seine geliebte Julie.
Es war aber nur ein Wort, das ihn anflog, weil es ihm noch von Berthes Geliebtem Pollux her in den Ohren schwirrt – damals in den Bergen, wo er, als Giselle in sein Leben trat, noch in sie beide, die Leukippostöchter, verliebt war. Unter uns gesagt, einer schönen Frau schreiben, scheint mir ebenso töricht, als wenn ich mit einer Strassburger Pastete in Korrespondenz treten wollte. Jedes Ding in der Welt will auf seine eigene Weise genossen sein. Jene schönen Augen, deren Glanz unser Herz erfreut, und jene Trüffelpastete, deren Duft uns begeistert – sie verlieren gar sehr in der Ferne. –
Nur eins seiner Traumbilder noch gedenkt Béas Vermählung:
Was treibt und tobt mein tolles Blut?
Was flammt mein Herz in wilder Glut?
Es kocht mein Blut und schäumt und gärt,
Und grimme Glut mein Herz verzehrt.
Das Blut ist toll, und gärt und schäumt,
Weil ich den bösen Traum geträumt:
Es kam der finstre Sohn der Nacht
Und hat mich keuchend fortgebracht.
Er bracht mich in ein helles Haus,
Wo Harfenklang und Saus und Braus,
Und Fackelglanz und Kerzenschein;
Ich kam zum Saal, ich trat hinein.
Das war ein lustig Hochzeitsfest;
Zu Tafel saßen froh die Gäst.
Und wie ich nach dem Brautpaar schaut –
O weh! mein Liebchen war die Braut.
Das war mein Liebchen wunnesam,
Ein fremder Mann war Bräutigam;
Dicht hinterm Ehrenstuhl der Braut,
Da blieb ich stehn, gab keinen Laut.
Es rauscht Musik – gar still stand ich;
Der Freudenlärm betrübte mich.
Die Braut, sie blickt so hochbeglückt,
Der Bräut'gam ihre Hände drückt.
Der Bräu'gam füllt den Becher sein
Und trinkt daraus, und reicht gar fein
Der Braut ihn hin; sie lächelt Dank –
O weh! mein rotes Blut sie trank.
Die Braut ein hübsches Äpflein nahm,
Und reicht es hin dem Bräutigam.
Der nahm sein Messer, schnitt hinein –
O weh! das war das Herze mein.
Sie äugeln süß, sie äugeln lang,
Der Bräut'gam kühn die Braut umschlang,
Und küsst sie auf die Wangen rot –
O weh! mich küsst der kalte Tod.
Wie Blei lag meine Zung im Mund,
Dass ich kein Wörtlein sprechen kunnt.
Da rauscht es auf, der Tanz begann;
Das schmucke Brautpaar tanzt voran.
Und wie ich stand so leichenstumm,
Die Tänzer schweben flink herum; –
Ein leises Wort der Bräut'gam spricht,
Die Braut wird rot, doch zürnt sie nicht. –