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4. Der Staat

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Der Philosoph hat sich also um die Wahrheit an sich zu bemühen, ungeachtet des Geredes der Leute. Ist doch die Wahrheit nicht widerlegbar. Nun stellt sich die Frage, warum denn die Wahrheit gesucht werden muss. Als Antwort darauf ist ein Blick auf den Dialog Der Staat (oder übers Gerechte) angezeigt, wird doch hier der Lebens- und Seinsbezug der Wahrheit an der Frage der Gerechtigkeit evident. Der Staat gilt als Hauptwerk Platons, in dem er der Frage nach Wesen und Wirkung der Gerechtigkeit hinsichtlich der Menschen und der Verstorbenen im Staatswesen nachgeht. Da nun die Wahrheit die Seele der Menschen veredeln kann, ist sie von der „wahren Lüge“ als Unwahrheit zu unterscheiden, die sowohl von den Göttern als auch den Menschen verabscheut wird.

„Die ‚wahre Lüge‘ wird also nicht nur von den Göttern, sondern auch von den Menschen verabscheut.“40

Und umgekehrt gilt, dass die Philosophen die Wahrheit lieben, die mit dem Seienden zusammenfällt.41 Diesen veritativen Gebrauch des Seienden, also das in Wahrheit Seiende, führt nun Platon weiter aus. Ist doch Wahrheit mit der Weisheit und dem Ebenmaß verwandt.42 Platon wird indes nicht müde, der Wahrheit noch weitere Attribute zuzuschreiben, die in ihrer engen Verknüpfung vom Wahren als dem erkennbar Wirklichen und dem Wahren als dem metaphysisch Seienden vor allem in Platons Gleichnissen zum Tragen kommen. So eröffnet das Sonnengleichnis einen besonderen Blick auf Platons Wahrheitsverständnis: So wie den Dingen durch das Sonnenlicht ihre Sichtbarkeit verliehen wird, so verleihen ihnen die Wahrheit und die Idee des Guten letztlich ihre Erkennbarkeit, die dem „lichten Auge der Seele“ vermittelt wird.43 Der Begriff „Wahrheit“ erweist sich hier in der etymologischen Bedeutung von „Unverborgenheit“ (als ἀλήθεια = a-ltheia im wahrsten Sinne des Wortes), mit der Folge, dass die Wahrheit selbst nicht das Gute, wohl aber mit diesem verwandt ist.

„Das ist es also, was dem Erkannten Wahrheit verleiht und was dem Erkennenden das Vermögen (des Erkennens) gibt: verkünde es nur, das sei die Idee (Urgestalt) des Guten. Denke sie dir als die Ursache des Wissens und der Wahrheit, die wir erkennen. So schön aber diese beiden, Erkenntnis und Wahrheit, sind, so wirst du es doch recht halten, wenn du die Idee des Guten für etwas hältst, das noch schöner ist als diese beiden. So wie es dort richtig war, Licht und Gesicht als etwas Sonnenhaftes anzuerkennen, aber unrichtig, sie für die Sonne selbst zu halten, so ist es auch hier richtig, diese beiden, Wissen und Wahrheit, als etwas Guthaftes anzuerkennen, aber unrichtig, eines von ihnen für das Gute zu halten. Nein, man muß das Wesen des Guten noch höher einschätzen.“44

Aus dieser überschwänglichen Schönheit heraus schildert Platon nun im nachfolgenden Liniengleichnis, wie unterschiedlichen Wissensstufen auch unterschiedlichen Seinsstufen entsprechen, die mit je unterschiedlichem Wahrheitsgehalt angereichert sind. So kommt Platon zu der Einsicht, dass auch den menschlichen vier Seelenzuständen, nämlich Vermutung (eikasía = εἰ ϰασία), Glauben (pístis = πίστις), Verstandesgewissheit (diánoia = διάνόια) und Vernunfteinsicht (nóêsis = νόησις) auch ein ebenso hohes, aufsteigendes Wahrheitsverständnis zukommt, an dem die Seele Anteil hat.45 In seinem wohl bekanntesten Gleichnis, dem Höhlengleichnis, greift Platon nun diese Einsicht auf und will sie auch für das politische Gemeinwesen nutzbar machen.46 Die Höhle ist der normale Lebensort der ungebildeten Menschen. In Unwahrheit und Unwissenheit fristen sie dort ihre nachthaften Tage. Nur das schrittweise Aufdecken von Wahrheit, für den Menschen mit Mühe und Anstrengung verbunden, vermag hier eine Klärung und Lösung von den Fesseln des dunklen Unverstandes zu bringen. Dies gelingt nur über eine Umlenkung der Seele, welche ihr eine Fahrt zum wahren Sein eröffnet. So sagt Sokrates zu Glaukon:

„Bist du nun einverstanden, daß wir untersuchen, auf welche Weise man zu solchen Männern kommt und wie man sie ans Licht hinaufführt, so wie man von einigen erzählt, sie seien aus dem Hades zu den Göttern aufgestiegen? »Natürlich bin ich einverstanden«, sagte er. Das wäre nun freilich nicht bloß ein Umwenden wie das einer Scheibe beim Spiel, wie es scheint, sondern das Umwenden einer Seele aus einem gleichsam nächtlichen Tage zum wirklichen Tage, der Aufstieg zum wirklichen Sein, den wir eben als die wahre Philosophie bezeichnen wollen.“47

Diese wahre, unverborgene Philosophie führt nun die Seele des Menschen hin zur Idee des Guten, die sich im Erkennbaren als Herrscherin der Wahrheit und der Vernunft für alle Belange des Lebens zeigt.48 Indes stellt Platon fest, dass solch ein Leben aus der Wahrheit heraus für den Philosophen im Alltagsleben gefährlich ist, denn man würde ihn gewiss auslachen

„und von ihm sagen, er komme von seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurück und es lohne sich nicht, auch nur versuchsweise dort hinaufzugehen. Wer aber Hand anlegte, um sie zu befreien und hinaufzuführen, den würden sie wohl umbringen, wenn sie nur seiner habhaft werden und ihn töten könnten.“49

Dennoch muss der Philosoph als Seelenführer diese Gefährdung auf sich nehmen und sich um der Wahrheit willen in das alltägliche Geschehen des Gemeinwesens einbringen. Denn seine Wahrheitsschau eröffnet einen tieferen und schärferen Blick für die Wirklichkeit, zum Wohle des Staates:

„Denn seid ihr einmal daran gewöhnt, so werdet ihr tausendmal besser sehen als die Bewohner dort und werdet erkennen, was alle die Bilder sind und wovon sie die Bilder sind, weil ihr über das Schöne und Gerechte und Gute die Wahrheit geschaut habt.“50

Die Wahrheit mit den lichten Augen der Seele gesehen zu haben erhebt somit den Philosophen über das irdische Leben hin zu dem Bereich der Ideen des Guten, die den solcherart Wissenden zu wahren Urteilen über Sein und Schein führt. Von dieser hohen Wahrheitskenntnis unterscheidet Platon dann noch die bloße unkundige Meinung und Vorstellung (dóxa = δόζα), die den der Wahrheit Unkundigen nur der lächerlichen Redekunst preisgibt.51 So kann festgehalten werden: Nur der philosophisch Kundige und Geübte ist in der Lage, mithilfe seiner Seelenkraft die Wahrheit in ihrer Schönheit zu erkennen.

Platon und Christus

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