Читать книгу Der Frühlingsschläfer - Friederike Gahm - Страница 5

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Na, sagt mein Alter Ego verdächtig freundlich, wie fühlst du dich? Ich versuche es mit Ignorieren, aber mein Alter Ego ist hartnäckig. Mies, brumme ich schließlich. Mein Alter Ego schweigt befriedigt. Es ist so zufrieden, dass es sich sogar ein Siehst-Du verkneifen kann. So benimmt man sich nicht, fährt es nach einer Weile fort und zieht vorwurfsvoll die Augenbrauen hoch. Ich widerspreche nicht, was es mir natürlich als Zustimmung auslegt. Was gedenkst du zu tun, erkundigt es sich. Ich bleibe stumm. Du könntest doch, schlägt mein Alter Ego spöttisch vor, deinen Sinn fürs Dramatische austoben. Du könntest zum Beispiel auf die Beerdigung gehen, in Schwarz gekleidet, sodass deine blonden Haare, auf die du so stolz bist, voll zur Geltung kommen, und reuig am offenen Grab niedersinken. Du wärst sicher rührend ergreifend, glaubst du nicht? Hör auf, sage ich böse. Mein Alter Ego lächelt erfreut und schweigt. Ich habe ihn schließlich nicht umgebracht, knurre ich, oder willst du mir das vielleicht vorwerfen? Nein, entgegnet mein Alter Ego ganz sanft. Ich kann auch nichts dafür, wenn dieser Mensch wie ein Irrer Auto fährt und sich beim Überholen den Schädel einrennt, verteidige ich mich unwillig. Oder bin ich vielleicht gefahren? Nein, sagt mein Alter Ego immer noch sehr freundlich, so riskant würdest du natürlich nie fahren. Du bist eine vorzügliche Autofahrerin, fährst rücksichtsvoll und defensiv, beachtest die Verkehrszeichen - es sei denn du hast schlechte Laune, so wie gestern zum Beispiel. Ich sehe aus dem Fenster und versuche unbeteiligt zu fragen, ob dies eine Diskussion über meine Fahrkünste sei. Leider nein, antwortet mein Alter Ego. Ich sehe weiterhin aus dem Fenster und stelle fest, dass der Wald langsam einen zarten Grünschimmer bekommt, es wird endlich Frühling. Genau, sagt mein Alter Ego, es wird Frühling, und Norbert ist tot. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nichts dafür kann, fahre ich meinen Quälgeist an. Natürlich, bestätigt er, natürlich, aber du kannst etwas für Silvester.

Unzweifelhaft kann ich für Silvester an sich nicht verantwortlich gemacht werden. Hätte ich irgendeinen Einfluss auf die Existenz dieses Tages, so würde ich ihn ersatzlos aus dem Kalender streichen, denn er verdirbt mir regelmäßig die Gemütlichkeit der Nachweihnachtszeit. Kurz vor dem Jahresletzten macht sich eine sehr eigenartige und unerfreuliche Stimmung in mir breit, die sich am Ultimo zu ihrer Höchstform entwickelt. Sie setzt sich zusammen aus einer gewissen Unzufriedenheit mit dem, was war, und aus einem bisschen Angst vor dem, was wird. Hinzu kommt der mahnende Zeigefinger der Vergänglichkeit, der zwar täglich drohen möchte, doch nur am Jahresende die ihm gebührende Wichtigkeit zugestanden bekommt. Unbehaglich werden diese Gefühle allerdings erst dadurch, dass man sie mit Jubel, Trubel, Heiterkeit paaren muss, denn an Silvester ist Stimmung angesagt.

Vielleicht würde ich diesem Datum etwas weniger skeptisch entgegensehen, wenn ich aus der Erinnerung einige gelungene Silvesterfeiern aufzählen könnte. Das ist leider nicht der Fall. Bereits in meiner Kindheit, wo sich der fragliche Tag wenigstens dadurch auszeichnete, dass ich bis Mitternacht aufbleiben durfte, fehlte es bei mir an innerer Fröhlichkeit. Der Abend des Jahresletzten lief stets sehr zeremoniell im Hause meiner Großeltern ab und begann mit einem Karpfenessen. Zwar war meine Großmutter eine hervorragende Köchin, doch gelang es auch ihr nicht, meinen Geschmack an diesem grätigen Ungeheuer in Blau zu wecken. Ich mogelte mich daher durch das Festessen, indem ich meinen Hunger an Kartoffeln stillte, die auf meinem Teller kleine Inseln in einem Buttersee bildeten, und heuchelte möglichst glaubhaft Begeisterung für den Fisch, den ich vorsichtshalber so ungeschickt von Haut und Gräten befreite, dass nicht mehr allzu viel zum Essen übrig blieb. Dabei verhielt ich mich unauffällig-manierlich, um keine Aufmerksamkeit auf mich oder meinen Teller zu lenken. Diese Anstrengung ließ sich relativ einfach überstehen, wenn ich an den Nachtisch dachte, der zum Glück ebenso unvermeidlich zu Silvester gehörte wie der lästige Karpfen. Er war eine raffinierte Mischung aus Orangensaft, Wein, Eiern und Sahne, zu herrlich, um nur als Orangencreme bezeichnet zu werden. Wenn die Schüssel mit dem ersehnten Inhalt endlich auf den Tisch kam, machte ich dem Karpfen in Gedanken eine lange Nase; ich löffelte mein Dessert mit aller Hingabe, um den Genuss völlig auszukosten. Jedes Jahr stieß es erneut auf Verwunderung, dass ich - sonst eine recht mäßige Esserin - nach dem schweren Hauptgang noch so viel Süßes verzehren konnte.

Dieser kulinarische Höhepunkt hätte von mir aus das Ende dessen sein können, was man Silvester nennt. Leider fing es aber gerade danach erst richtig an, seine reiche Palette an Nuancen der Langeweile zu entfalten; nach dem Essen begann die zähe Warterei bis Mitternacht. Mein Großvater versuchte vergeblich, die Zeit durch Fernsehen zu verkürzen. Jede einzelne Minute beharrte auf ihrem Recht. Und so warteten wir - zunächst zusammen mit dem Zigeunerbaron, später als Zaungäste einer Silvesterparty, auf der sich alle beneidenswert glänzend amüsierten. Ich hätte ohne Zögern das Taschengeld mehrerer Wochen geopfert, um einmal an einem solchen Fest teilzunehmen. Natürlich war diese Idee illusorisch, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich in einem rauschenden Abendkleid auf einen Phantasieball zu denken, dessen Kulissen viel prächtiger waren als die dürftige Fernsehdekoration. Meine Träumereien wurden nicht oft unterbrochen. Hin und wieder stand meine Großmutter auf, um für Nachschub an Wein zu sorgen oder irgendwelche Knabbereien aufzufüllen. Ihr Kommen und Gehen hätte ich wohl kaum bemerkt, wenn sich nicht meine Mutter jedes Mal genötigt gefühlt hätte, der alten Dame wortreich ihre töchterlichen Dienste für derartige Gänge zu offerieren. Mich bezog sie in die Angebote ein - mit hochgezogenen Augenbrauen, dass ich nicht von selbst darauf gekommen war. Ob diese Pflichtübungen meiner Mutter tatsächlich eine Hilfe waren, bezweifle ich, aber sie schaffte es dadurch, eine Unruhe zu verbreiten, die meiner Stimmung den Rest gab.

Kurz vor Mitternacht erschien endlich das Zifferblatt einer Uhr auf dem Bildschirm, überdimensional und hässlich. Man durfte aufatmen; die Prozedur war bald überstanden. Während ich hoffnungsvoll den Sekundenzeiger beobachtete, kam im Wohnzimmer allgemeine Betriebsamkeit auf. Zunächst wurde das Licht angeknipst, meine Großmutter holte ein vorbereitetes Tablett mit Sektgläsern herbei, mein Großvater verglich den Zeigerstand der großen, ehrwürdigen Standuhr im Wohnzimmer mit der nüchternen Fernsehuhr, und mein Vater bekam die Sektflasche in die Hand gedrückt, begleitet von dem alljährlichen Ratschlag meiner Mutter, sofort mit dem Entkorken zu beginnen, damit der Knall genau auf die Sekunde erfolge. Mein Vater grunzte eine Antwort, ließ sich bei der Zeremonie nicht reinreden, zelebrierte sie mit einer Kunstpause, bevor er endlich anfing, den Draht gemächlich aufzuzwirbeln. Dieser Moment war immer wieder spannend, auch wenn ich aus Erfahrung wusste, dass der Korken exakt auf den letzten Schlag, den die alte Standuhr in dem Jahr von sich geben sollte, aus der Flasche schießen würde.

Dann ließ man die Gläser klingen, wünschte sich Glück und schien allseits sehr erleichtert, dass man nun wieder 365 Tage Zeit hatte, bis es galt, die nächste Silvesterfeier in Angriff zu nehmen. Während draußen die ersten Leuchtraketen am Himmel aufstiegen und die Glocken das neue Jahr einläuteten, entwickelte sich eine schüchterne Fröhlichkeit. Ich nippte langsam an meinem Sekt, den ich fast so gern mochte wie die Orangencreme; ganz allmählich kroch eine wohlige Müdigkeit in mir hoch. Der ungewohnte Alkohol sprudelte meine Silvesternöte hinweg; der Jahreswechsel war überstanden. Ich meinte, plötzlich einen Zipfel Glück erwischt zu haben und fühlte eine beschwingte Feierlichkeit angesichts des Neuen, das soeben begonnen hatte. Die Erwachsenen unterhielten sich lebhaft über dies und das. Ich beobachtete sie aus meiner schillernden Seifenblase heraus und schnappte nur vereinzelte Wortfetzen auf.

Wenn die erste Stunde des neuen Jahres vorbei war, gingen wir gewöhnlich nach Hause. Wir wohnten in einem Stuttgarter Vorort, nur wenige Minuten von meinen Großeltern entfernt, und der Rückweg durch die klare, kalte Januarnacht war nur kurz, leider viel zu kurz. Wenngleich Spaziergänge von mir normalerweise unwillig absolviert wurden, hätte ich in der Neujahrsnacht gern mehrere Kilometer zurückgelegt. Unterwegs hoffte ich, dass niemand etwas sagen würde, um nicht die merkwürdig mystische Stimmung zu stören, die diese Nacht auszustrahlen schien. Vielleicht lag es an der ungewohnten nächtlichen Stille, gepaart mit meiner Müdigkeit, dass mir alles so geheimnisvoll erschien; vielleicht wirkten die Sterne nur deshalb so leuchtend, weil ich sie sonst zu einem Zeitpunkt betrachtete, an dem die Umgebung noch viel heller war; vielleicht war es auch bloß der Sekt, der mich besonders empfindsam machte. Jedenfalls fühlte ich auf dem Heimweg, dass die Nacht und ich eine unerklärliche Einheit bildeten. Ich war ganz allein mit ihr, und sie gehörte ausschließlich mir, bis von außen etwas in diese Harmonie einbrach und sie zerstörte. Schon irgendeine überflüssige Bemerkung genügte, und alles war vorbei. Wenn ich Glück hatte, beendete erst das Anschalten der Hausflurlampe meine Euphorie, dieses einzigartige Gefühl, dieses absolute Liebesempfinden - so bedingungslos, dass es nicht lange währen konnte. Bis zum letzten Augenblick blieb es vollkommen. Es existierte oder existierte nicht und war in seiner Kompromisslosigkeit von jedem äußeren Einfluss zerstörbar. Ich versuchte, diesen Zustand in mir zu bewahren, um ihn vor dem Einschlafen noch einmal ganz für mich allein zu erleben. Es gelang nie.

Wenn ich im Rückblick die Silvestererlebnisse einem bestimmten Jahr zuordnen will, ist mir dies unmöglich. In der Erinnerung scheint sich alles an einem einzigen langen Abend abgespielt zu haben, irgendwann Ende der sechziger Jahre. Verschiedene Fernsehprogramme gehen ineinander über, verschiedene Sänger kämpfen wie ein Mann gegen unendliche Minuten, verschiedene Tänzer verschmelzen zu einem Riesenballett. Auch weiß ich nicht zu sagen, wie viele dieser so genannten Feiern ich miterlebt habe. Vielleicht waren es fünf, vielleicht sechs; auf jeden Fall waren es zu viele.

Der Frühlingsschläfer

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