Читать книгу Der Frühlingsschläfer - Friederike Gahm - Страница 7

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Sagenhaft, meldet sich mein Alter Ego zu Wort, sagenhaft, wie du vom Thema ablenken kannst. Darf ich mir trotzdem die Frage erlauben, was diese Reminiszenzen sollen? Ich bin ehrlich empört. Du hast doch von Silvester angefangen, verteidige ich mich. Mein Alter Ego schüttelt verärgert den Kopf. Ich habe Norbert und Silvester erwähnt, sagt es. Von Walter war nie die Rede. Erlaube mal, protestiere ich, da besteht doch ein unmittelbarer Zusammenhang. Du kannst nicht ernstlich behaupten, das eine Silvester hätte mit dem zweiten nichts zu tun. Es war doch geradezu Voraussetzung. Das eine Silvester ist immer Voraussetzung für das nächste, bemerkt mein Alter Ego spöttisch. Unsinn, kontere ich, du weißt ganz genau, dass ich das nicht zeitlich, sondern inhaltlich meine. Ohne die Ereignisse des ersten Silvesters, wäre das zweite und vor allem seine Folgen so nie eingetreten. Ach so, entgegnet es mir gedehnt, du stellst also gerade logische Abhängigkeiten fest. Wenn ich recht verstehe, soll das heißen, du hättest nicht getreten, wenn du nicht zuvor getreten worden wärest? Genau so ist es, stimme ich zu. Sehr interessant, mein Alter Ego klingt zynisch. Du hast wohl soeben ein neues Naturgesetz entdeckt: Tritte bewirken Gegentritte - eine moralische Variante des physikalischen Grundsatzes actio et reactio. Soll ich Beifall klatschen? Plötzlich wird sein Tonfall schneidend. Du hast einiges übersehen bei deiner Scheinlogik. Erstens muss niemand einen erhaltenen Tritt wieder austeilen, zweitens darf er nicht jemanden treten, der ihm nichts getan hat, und drittens ist es völlig unzulässig, zehn Tritte für einen erlittenen austeilen zu wollen. Reicht das, um deine vermeintliche Kausalität zu widerlegen, fragt es, immer noch sehr erbost. Ich fühle mich zu Unrecht angegriffen und wende ein, dass ich mein Verhalten keinesfalls entschuldigen, sondern nur erklären wollte. Mein Alter Ego zeigt sich nicht im geringsten beeindruckt. Alles Erklärbare ist entschuldbar. Wer erklärt, heischt nach Verständnis, und Verständnis ist Entschuldigung, fährt es ungerührt fort. Sei also wenigstens ehrlich! Ich denke nach und kann nicht von der Hand weisen, dass Erklärung und Entschuldigung grundsätzlich viel miteinander zu tun haben. Trotzdem, beharre ich, will ich in diesem konkreten Fall mit der Erklärung keine Entschuldigung herbeiführen, sondern nur eine objektive Beurteilung meines Verhaltens ermöglichen. Sonst entstünde ja ein völlig verzerrtes Bild. Mein Alter Ego seufzt. Natürlich, schnauft es, nur eine objektive Beurteilung, die bei jedem Menschen auf Verständnis stoßen wird, und schon sind wir wieder bei der Entschuldigung. Ich bin ziemlich zermürbt von dem Hin und Her. Bei wem sollte ich mich denn entschuldigen wollen, stoße ich ratlos hervor. Vielleicht erinnerst du dich doch lieber einmal an das richtige Silvester, schlägt mein Alter Ego etwas besänftigt vor.

Das richtige Silvester war genau ein Jahr später. Abgesehen von meiner mittlerweile chronischen Silvesterabneigung, stand es auch sonst unter ungünstigen Vorzeichen. Ich war aus meinem Elternhaus ausgezogen, um in Tübingen mit dem Jurastudium anzufangen. Nicht nur das provinzielle Tübingen war eine herbe Enttäuschung, auch das Studium lief nicht so an, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir waren über tausend Studenten im ersten Semester, ich kannte kaum jemanden in dieser anonymen Masse und fühlte mich entsprechend fremd. Zu allem Unglück hatte ich mir in der ersten bürgerrechtlichen Klausur ein „Mangelhaft“ eingehandelt, das ich noch nicht verdaut hatte. Bisher hatte ich mit Fünfern wenig Bekanntschaft gemacht und fühlte mich in meiner Eitelkeit gekränkt. Misserfolg will gelernt sein, besonders wenn man ihn als ungerecht empfindet. Mir blieb unklar, was ich falsch gemacht haben sollte; es schien in diesem sonderbaren Fach weder ein Richtig noch ein Falsch zu geben. Unzureichende Begründung, stand unter meiner Arbeit, obwohl ich mich acht DIN-A4-Seiten darin versucht hatte. Der knappe Kommentar war niederschmetternd und genauso aussagekräftig wie gar keiner. Alles schien gegen mich zu sein in dieser engen, unzugänglichen Stadt. Tübingen wollte mich nicht. Ich suchte das Tor, durch das ich Einlass finden würde, ohne zu wissen, wo ich mit meiner Suche anfangen sollte.

Froh, dieser unbequemen Situation über Weihnachten zu entrinnen, fuhr ich zu meinen Eltern, die inzwischen in eine andere Stadt gezogen waren. Aber dort wartete die nächste Enttäuschung. Das neue Elternhaus zeigte kein vertrautes Gesicht; es war fremd. Zwar hatte ich nach wie vor ein eigenes Zimmer, zwar standen dort auch meine früheren Möbel, aber es war nicht mein Zimmer. Auch als ich meinen umfangreichen Kleinkram ausgepackt und eingeräumt, als der Teddybär wieder gutmütig-dick auf dem Bett thronte, änderte sich nichts daran. Der neue Raum war nicht mein Zimmer. Er war viel kleiner als mein Zimmer, bei weitem nicht so sonnig und wirkte mit seiner weißen Raufasertapete nüchtern und sachlich.

Es ist nicht verwunderlich, dass auch Weihnachten unter diesen Umständen sehr zu wünschen übrig ließ. Wenigstens stapelten sich im Wohnzimmer keine Kisten mehr, aber ansonsten war alles noch vollkommen provisorisch. Von Feierlichkeit keine Spur! Im Fenster standen keine Kerzen, gegen die ich zum ersten Mal nichts vorzubringen gehabt hätte, denn an diesem Weihnachten hätten sie keine Gardinen gefährden können. Es gab kein Festessen. Es gab nicht einmal einen Tannenbaum. Die Geschenke überreichten wir uns im Glanz der elektrischen Beleuchtung. Weihnachten war eigentlich kein Weihnachten. Ich war sonderbar wütend, ratlos und verstört. Wo war mein Zuhause? War es diese Tübinger Studentenbude mit ihren zusammengewürfelten Sperrmüllmöbeln, war es mein so genanntes Elternhaus hier in Frankfurt? Oder hatte es sich einfach in Nichts aufgelöst?

Das unvermeidliche Silvester passte ausgezeichnet in diese Stimmung; mir grauste mehr denn je vor dem Tag. Meine Eltern waren zu Freunden nach Mainz eingeladen; ich selbst kannte in der neuen Umgebung natürlich niemanden. Damit stand fest, dass ich das bevorstehende Jahresende allein mit mir verbringen würde. Angesichts der trüben Gesamtlage fand ich mich nicht einmal die schlechteste Gesellschaft. Ich konnte ungeniert vor mich hin muffeln, notfalls - wie viele Silvester praktiziert - fernsehen, endlich aus Erfahrung wissend, dass ich als bloße Beobachterin des munteren Treibens nicht das Geringste verpasste. Dieses Mal waren allerdings meiner Phantasie von vornherein die Flügel gestutzt, denn in Ballträumereien würde ich mit Sicherheit nicht verfallen. Eine derartige Silvestergestaltung würde nicht nur triste sein, sie war obendrein gefährlich. Sie würde gewisse vorjährige Vorfälle minutiös zurückholen, die ich endlich aus meinen Gedächtnis verbannt zu haben glaubte. Da mir keine Alternative einfiel, beschloss ich, Silvester dieses Mal einfach ausfallen zu lassen. Ich würde den Tag mit totaler Nichtbeachtung strafen. Neujahr könnte ich eventuell trotzdem feiern - gegen Neujahr gab es nichts einzuwenden. Vielleicht konnte ich endlich den nächtlichen Spaziergang machen. Vielleicht käme dabei sogar mein früheres Neujahrsglück wieder. Vielleicht. Es war eine gute Idee, Silvester einfach nicht stattfinden zu lassen. Zum ersten Mal sah ich gelassen zu, wie sich andere mit Knallbonbons und Feuerwerkskörpern eindeckten, kam mir selbst sehr abgeklärt vor. Einen Tag bevor es so weit war, wurde meine Strategie durch einen Telefonanruf zunichte gemacht. Die Mainzer Freundin meiner Mutter rief an und richtete mir aus, ihre Tochter samt Ehemann würden mich herzlich zu sich nach Hause einladen. Schließlich könnte ich Silvester doch nicht ganz allein verbringen. Aus der Traum! Ich sagte zu.

In einer halben Stunde geht es los, rief meine Mutter aus dem Bad. Ich lag auf meinem Bett, las und gab vor, nichts gehört zu haben. Zwei Minuten später stand sie in der Tür. Du bist ja noch nicht einmal umgezogen, stellte sie mit leicht erhobener Stimme fest. Bedauernd klappte ich mein Buch zu. Eigentlich war es nur ein Schmöker; trotzdem war ich im Moment sehr daran interessiert, wie er wohl ausging. Ich rollte mich gemächlich vom Bett, um mich zum Kleiderschrank zu begeben. Meine Mutter wurde zusehends ungeduldig.

Ich öffnete die Schranktür, gab vor, die Kleiderauswahl zu erwägen. In Wirklichkeit überlegte ich, ob mir ein gut inszenierter kleiner Krach vielleicht einen ruhigen Abend bescheren könnte. Ich brauchte nur noch ein bisschen herumzutrödeln, und meine Mutter würde aus der Haut fahren. Der Zeitpunkt war von der sich mehr und mehr vertiefenden Falte zwischen ihren Augenbrauen so genau abzulesen wie von einer Uhr. Die Sache hatte allerdings einen Haken; mein Vater war ausnahmsweise auch zu Hause und folglich in die Rechnung mit einzubeziehen. Seine Reaktionen waren schwer vorauszusagen. Ich verstand mich nicht auf diese Kunst, wusste nur, dass man ihn besser nicht an der Nase herumführt. Der dramaturgische Effekt Krach entwickelte sich durch ihn zur unbekannten Größe; schlimmstenfalls konnte er sogar die Formen einer ernsthaften Auseinandersetzung annehmen. Dieses Risiko erschien mir so hoch, dass ich lieber versprach, in zehn Minuten fertig zu sein. Zieh dir etwas Hübsches an, sagte meine Mutter, schon wieder versöhnt, ich habe gehört, es soll auch ein sehr netter junger Mann eingeladen sein. Damit verschwand sie. Ich hielt die Luft an. Auch das noch! Mir hatte die herzliche Mainzer Bekannte davon natürlich nichts erzählt. Nette junge Männer, von Müttern angepriesen, erwecken schon an normalen Tagen mein Unbehagen; nette junge Männer an Silvester ließen dieses Unbehagen in entschiedene Abneigung umschlagen. Ich holte mit Bedacht einen älteren Faltenrock aus dem Schrank und zog dazu eine weiße Bluse an. Der Spiegel zeigte mir eine unauffällige, langweilige graue Maus. Ich grinste sie zufrieden an. Das war genau die richtige Aufmachung für nette junge Männer.

Natürlich war meine Mutter von meinem Anblick nicht entzückt. Da ich vorsichtshalber erst kurz vor der Abfahrt wieder in Erscheinung trat, verpuffte ihr Protest. Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht, murmelte sie resigniert. Letztes Jahr hast du stundenlang vorm Spiegel gestanden und dieses Jahr nun wieder das andere Extrem. Man weiß nie, woran man bei dir ist. Ich nahm ihr übel, dass sie das vergangene Silvester erwähnen musste. Schlecht gelaunt stieg ich ins Auto.

Nach einer knappen Stunde Fahrt kamen wir in Mainz an. Mein Vater kannte den Weg und kurvte zielstrebig um zahlreiche Ecken einer Häusersiedlung. Vor einem Eckreihenhaus, das genauso aussah, wie alle Häuser in dieser Straße, hielt er an. "Albrecht und Waltraud Schmiedel" stand auf einem blanken Messingschild. Bestimmt wird es jede Woche geputzt, dachte ich gehässig; meine Laune hatte sich nicht gebessert. Noch bevor jemand von uns dazu kam zu klingeln, ging die Tür auf. Offensichtlich war unsere Ankunft schon bemerkt, vielleicht sogar beobachtet worden. Großes Begrüßungshallo im Flur, Albrecht nahm die Mäntel ab, Waltraud die Blumen. Das ist also eure Tochter, sagte sie zu meinen Eltern, und betrachtete mich von oben bis unten. Ich fand sowohl die Bemerkung als auch den Musterungsprozess überflüssig. Wir wurden ins Wohnzimmer geführt und setzten uns. Albrecht verschwand, kam aber umgehend wieder; in der einen Hand balancierte er ein Tablett mit Gläsern, in der anderen hielt er eine Sektflasche - es war ja Silvester.

Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass zu Sekt ein ganz bestimmtes Geplauder gehört, das sich vor allem durch besondere Inhaltslosigkeit auszeichnet. Und wir hielten uns daran. Ich spielte mit meinem Glas, einem barocken Machwerk, dessen Scheußlichkeit durch einen breiten Goldrand gekrönt wurde. Dabei musterte ich nun meinerseits die Mainzer Freundin, wenn auch nicht so unverhohlen, wie sie es zuvor mit mir getan hatte. Im Moment strahlte sie über ihr ganzes rundes Gesicht, weil sie von irgendwelchen Wunderwerken ihrer Tochter erzählte. Immer dasselbe! Wahrscheinlich stieß meine Mutter in das gleiche Horn, sobald ich außer Hörweite war. Waltraud war blond, wobei wohl ein Friseur nachgeholfen hatte, blauäugig, war sie vielleicht auch blöd? Rein äußerlich passte sie jedenfalls genau in das Frauenschema des Dritten Reiches; in dieser Zeit musste sie jung gewesen sein. Ihre Kleidung verriet Spießigkeit: das übliche Modell für die vollschlanke, reifere Dame, das auch durch teuren Schmuck nicht exklusiver wird. Meine Mutter nahm sich daneben wohltuend vornehm aus, obwohl sie ihr Besuchsgesicht aufgesetzt hatte und angestrengtes Interesse zur Schau stellte. Diese Beflissenheit fand ich nicht nur unnötig, sondern sie ärgerte mich geradezu angesichts der selbstzufriedenen Freundin. Immerhin registrierte ich mit einiger Befriedigung, dass meine Mutter wie eine der wenigen Damen aussah, die diese Bezeichnung auch tatsächlich verdienen.

Albrecht war mir auf Anhieb wesentlich sympathischer als seine matronenhafte Frau. Vor allem seine Augen gefielen mir; Ihr Ausdruck verriet, dass er öfters zweifelte, und zwar nicht nur an anderen. Er wirkte auf mich intellektuell - vielleicht weil er groß und schlaksig war, vielleicht weil er eine spitze Nase hatte, vielleicht wegen seiner Glatze, von zerzaustem Haarkranz umgeben, vielleicht auch, weil er nicht still sitzen konnte. Wie mochte er es mit dieser gutbürgerlichen Hausfrau aushalten? Waltraud und Albrecht waren das gegensätzlichste Ehepaar, das ich je kennen gelernt hatte.

Nach ausgiebiger Betrachtung der Gastgeber nahm ich das Wohnzimmer aufs Korn. Es war durch einen breiten Durchgangsbogen zum Essteil architektonisch interessant angelegt. Leider kam diese großzügige Einteilung vor lauter Möbeln nicht zur Geltung. In Gedanken fing ich an umzuräumen. Als Erstes wollte ich ein eichenes Monstrum von einem Bücherschrank entfernen, damit man sich in der Essecke überhaupt bewegen konnte; den ovalen Tisch ließ ich nach dieser Änderung durchgehen; die kleine Kommode war nicht übel, wenn sie allein vor der Wand stand. Völlig indiskutabel erschienen mir hingegen die Polstermöbel, plüschiger Protz, von einem marmornen Couchtisch noch verschlimmert. Weg damit! Auch mit einem überdimensionalen Gummibaum, für mich der Inbegriff deutschen Wohnzimmermiefs, machte ich kurzen Prozess. Die Gardinen waren erträglich, während die Streifentapete unter keinen Umständen bleiben durfte. Das Gleiche galt für ein Ölbild, das natürlich über dem Sofa hing. Nachdem ich so weit gediehen war, musste die Sitzecke konsequenterweise neu gestaltet werden. Diese innenarchitektonische Übung blieb mir jedoch erspart, da Albrecht aufstand und verkündete, er wollte mich jetzt, wenn es recht wäre, zu seiner Tochter fahren. Natürlich war es recht, denn langweiliger als bisher konnte es kaum werden. Ich trank mein Glas aus und verabschiedete mich.

Mein Auto steht schon in der Garage, sagte Albrecht. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir den Zwerg von meiner Frau nehmen? Dabei zeigte er auf einen winzigen giftgrünen Fiat. Natürlich hatte ich keine Einwände. Wir falteten uns beide in das Auto, und ich überlegte, wie wohl Waltraud ihre zahlreichen Pfunde darin unterbrachte. Albrecht startete.

Während der Fahrt erzählte er dies und das; er hatte eine sehr humorvolle Art. Weil er Jurist war und weil er so anders war als Waltraud, fasste ich nach einem Weilchen Mut und berichtete von den Schwierigkeiten meines Studium. Die Fünf verschwieg ich lieber, denn man konnte nicht wissen, was meine Mutter während meiner Abwesenheit von sich geben würde. Sicher verwandelte sie mich im schmiedelschen Wohnzimmer gerade in ein juristisches Wunderkind. Albrecht hörte sich meine Nöte in aller Ruhe an, lachte dann, aber kein überhebliches, sondern ein sehr verständnisvolles Lachen. Lassen Sie sich deshalb bloß keine grauen Haare wachsen, meinte er. Ich glaube, diese Schwierigkeiten hat außer einem Genie jeder, oder sind Sie vielleicht ein Genie? Ich lachte auch. Dann wurde er ernsthaft und zählte seine Anfangsprobleme auf. Es klang vertraut; ich war erleichtert, dass es mir nicht schlechter ging als anderen.

Wir bogen in ein anderes Wohngebiet ein. Es unterschied sich kaum von dem, wo Waltraud und Albrecht wohnten. Zwar waren die einzelnen Häuser etwas neuer, aber ansonsten genauso stereotyp. So, sagte Albrecht und bremste vor einer dieser austauschbaren Behausungen, hier sind wir auch schon; Gisela und Klaus wohnen im Erdgeschoss. Dann mal viel Spaß! Er hupte, ich stieg aus. Wieder ging die Haustür auf, ohne dass ich geklingelt hatte, wieder eine Begrüßung und die Garderobenprozedur im Flur. Gisela musterte mich genauso, wie es zuvor ihre Mutter getan hatte. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, in einem Film mitzuspielen, den ich irgendwann schon einmal gesehen haben musste. Klaus beendete die ungemütliche Situation, indem er vorschlug, das nähere Kennenlernen lieber ins Wohnzimmer zu verlegen. Wieder betrat ich ein fremdes Wohnzimmer, aber dieses Mal stand schon jemand dort, nämlich der angekündigte nette junge Mann.

Mein Name ist Norbert Steinhoff, sagte er. Ich sah einen blauen Anzug, so auffallend blau, dass ich nichts anderes wahrnahm. Kornblumen, dachte ich, diese Farbe haben nur Kornblumen. Meine Mutter würde beim Anblick dieser Intensität bestimmt nicht mehr ohne Weiteres von einem netten jungen Mann reden. Nette junge Männer tragen graue Anzüge oder dunkelblaue mit dezenten Krawatten. Ich blickte auf einen bunten Schlips und lächelte erfreut. Der blaue Mann war nicht sehr groß; seine Augen waren nicht einmal ganz in gleicher Höhe mit meinen. Er wirkte stämmig. Wenngleich man ihn nicht als dick bezeichnen konnte, schien er schwer zu sein. Als er mir die Hand drückte, schmerzte es. Ich reagierte mit fast ebenso kräftigem Gegendruck.

Wir setzten uns. Klaus bat Norbert, mich ein Weilchen allein zu unterhalten. Er wollte mit Gisela in der Küche das Abendessen richten. Norbert platzierte sich neben mich auf das Sofa. Ich sah ihn mir genauer an. Er hatte ein weiches Gesicht; kleine Nase, empfindsamer Mund, wenig Kinn. Wäre die hohe Stirn nicht gewesen, hätte man es als kindlich bezeichnen können. Seine Haare waren hellblond und sehr dünn. Wahrscheinlich würde er in spätestens fünf Jahren eine Glatze haben. Wenn ein Mann absolut nicht mein Typ war, dann war es Norbert. Nicht dass ich feste Vorstellungen von einem Traummann gehabt hätte, aber größer als ich und schlank musste er schon sein, markante Züge haben und natürlich volles Haar. Norbert betrachtete mich nachdenklich. Ich senkte den Blick. Hoffentlich konnte er keine Gedanken lesen. Er hatte sehr sonderbare Augen. Sie waren ungewöhnlich hell und klar und blickten mit einer Offenheit in die Welt, als hätten sie noch nie einen schlechten Gedanken verbergen müssen. Schön konnte man sie eigentlich nicht nennen, aber entwaffnend freundlich. Sie schauten nicht nur so, sie waren durch und durch freundlich und überzogen das ganze Gesicht mit ihrer Freundlichkeit. Ich verglich sie in Gedanken mit meinen Augen. Groß und blau, hatten sie mir schon so viele Komplimente eingebracht, dass ich inzwischen selbst davon überzeugt war, sie seien schön. Ich sah sie mir gern im Spiegel an. Manchmal spielte ich mit ihrem Ausdruck. Ich ließ sie freundlich wirken oder ärgerlich; ich beherrschte alle Nuancen zwischen strahlenden und vernichtenden Blicken. Du kannst einen so kalt ansehen, hatte meine Mutter einmal gesagt, dass man friert. Ich genoss diese Fähigkeit, mit den Augen streicheln oder schlagen zu können, und machte häufig davon Gebrauch, indem ich nichts sagte, sondern nur schaute. Besonders gegenüber Männern waren diese Argumente sehr wirkungsvoll.

Erneut betrachtete ich mir Norberts Augen und versuchte, Hass oder Wut hineinzudenken. Ich probierte es mit Strenge und Empörung. Es war nicht vorstellbar; diese Augen blieben hartnäckig freundlich.

Während ich meinen Gedanken nachhing, hörte ich ihm halb aufmerksam zu. Er stellte sich etwas näher vor, erzählte, dass er in Mainz Medizin studiert und soeben mit dem Famulieren begonnen hätte. Seine Stimme klang dünn und etwas belegt, beinahe schon heiser. Manchmal strahlen heisere Männerstimmen einen fast erotischen Reiz aus; bei Norbert ließ die Heiserkeit eher an eine Erkältung denken. Ich finde Stimmen nicht unwichtig. Klangvoll und tief können sie mich sehr faszinieren und sogar in ihren Bann ziehen. Norberts Stimme klang in erster Linie unmännlich. Außerdem fiel mir auf, dass sich norddeutscher und rheinischer Akzent bei ihm mischten. Als ich nach dem Grund fragte, antwortete er, er sei ein gebürtiger Holsteiner, den es an die Mosel verschlagen hatte. Seine Familie wohnte schon seit zehn Jahren dort, wobei die Familie nur aus den Eltern und ihm selbst bestand. Noch so ein verwöhntes Einzelkind, sagte ich. Er lachte. Mit einem Eifer, der mich unangenehm berührte, führte er mich in seine Familienverhältnisse ein. Ich bin eine eher distanzierte Natur; vor schnellen Vertraulichkeiten schrecke ich zurück. Den Mann neben mir auf dem Sofa kannte ich seit ein paar Minuten. Wie konnte er gleich seine ganze Lebensgeschichte vor mir ausbreiten, die zudem genauso uninteressant war wie er selbst? Ich wünschte mir, dass Gisela und Klaus endlich ihre Küchenvorbereitungen beendeten und sich wieder zu uns gesellten. Norbert fuhr unbeirrt fort, von sich zu berichten.

Dabei bemerkte ich, dass er - es war wohl auf den rheinischen Spracheinfluss zurückzuführen - das Sch wie ein Ch aussprach. Besonders verfremdend wirkte sich diese Eigenart auf das Wort "Menschen" aus, das dadurch zu "Männchen" wurde. Obwohl ich den Gleichklang inhaltlich durchaus sinnvoll fand, störte er mich akustisch, reizte mich geradezu. Ich dachte, sonderbar, dass ausgerechnet dieser Mensch, der auf mich wie die personifizierte Freundlichkeit wirkt, ungewollt solche Zynismen von sich gibt. Nein, korrigierte ich mich im Stillen, ungewollten Zynismus kann es nicht geben, denn er lebt gerade von seiner bösen Absicht. Nicht die falsche Aussprache war zynisch, sondern meine Interpretation.

Norbert unterstrich seine Worte mit den Händen. Es waren kurze, kräftige Hände mit eckigen Nägeln und nicht sehr gepflegter Nagelhaut. Ob er später Chirurg werden wollte? Die beiden Chirurgen, die ich kannte, hatten auch solche Hände. Die feingliedrige, elegante Chirurgenhand existiert wahrscheinlich nur in Arztromanen. An Norberts rechtem Ringfinger steckte ein großer Herrenring; golden und protzig prangten darauf seine Initialen. Im Bedarfsfall würde er sicherlich auch als Schlagring gute Dienste tun. Der Ring war ebenso unmöglich wie der Anzug und die Krawatte. Eigentlich war der ganze Norbert unmöglich, sah man einmal von seinen Augen ab, den freundlichen Augen. Ich wunderte mich nicht mehr, warum er Waltraud gut gefiel. Im Gegenteil, er hätte ihr Sohn sein können mit seiner vollendeten Spießigkeit. Wahrscheinlich stammte er aus kleinen Verhältnissen - der einzige Sohn sollte es natürlich einmal besser haben - und studierte unter finanziellen Opfern seiner Eltern Medizin. Vielleicht war der scheußliche Ring das Examensgeschenk? Wenn ich zu Hause bin, unterbrach Norbert meinen regen Gedankenfluss, sitze ich am liebsten in der Bibliothek und lese oder schaue auf die Mosel. Das Haus meiner Eltern liegt etwas oberhalb, weißt du, und man kann deshalb an diesem Platz so schön träumen. Bibliothek, dachte ich, Haus mit Moselblick, das klang eigentlich nicht nach Ärmlichkeit. Vielleicht war Norberts Vater ein neureicher Bauunternehmer. In der Bibliothek standen wahrscheinlich repräsentative Klassikerausgaben, am laufenden Meter gekauft, und dahinter versteckten sich die Pornoheftchen. Immerhin war neureicher Mief besser als kleinbürgerlicher.

Nicht dass ich Geld als allein selig machend betrachtete, aber es schien doch gewisse Garantien für eine angenehme Lebensweise mit sich zu bringen. Ich wäre nicht soweit gegangen zu behaupten, dass Geld glücklich macht, aber es machte wohl weniger unglücklich, und vielleicht sogar ein bisschen freier. Man konnte zum Beispiel reisen, ohne dass das Portemonnaie die Grenzen festsetzte, man konnte sich bei Kaufentscheidungen ausschließlich nach dem Geschmack richten, ohne zu einem bezahlbaren Kompromiss gezwungen zu werden, man konnte solchen Freiraum bewusst und mit Verstand genießen, ohne zum gelangweilten Nimmersatt zu werden. Es kam nur auf die Intelligenz an. Maßhalten ist immer nur eine Frage der Intelligenz.

Norbert erschien mir plötzlich nicht mehr so indiskutabel wie zu Anfang. Der Ring an seinem Finger war schließlich nicht festgewachsen, und ordentliche Anzüge gab es in jedem Herrengeschäft zu kaufen. Bei Lichte besehen hatte er sogar einen entscheidenden Vorteil: Ich würde mit Sicherheit keine Gefahr laufen, mich in ihn zu verlieben. Ich setzte ein Lächeln auf, das das altmodische Adjektiv liebreizend erfüllen sollte, und machte Samtaugen. Nach Norberts Miene zu urteilen, gelang mir beides. Er tat mir fast ein bisschen Leid. Jetzt hätte ich gern etwas mehr von der Mosel gehört und sogar von ihm, aber leider kam Klaus in diesem Moment zurück und ließ sich zufrieden in einen Sessel fallen. Na, Norbert, meinte er, die Damenwelt hängt offensichtlich an deinen Lippen. Als Alleinunterhalter hast du jetzt bestimmt Hunger. Keine Sorge, das Essen steht fertig im Ofen. Gisela brachte eine Flasche Wein und bestand darauf, dass wir alle miteinander anstoßen sollten. Wir ließen die Gläser klingen. Sie schien mir inzwischen freundlicher gesonnen, jedenfalls hatte sie ihren Musterungsprozess abgeschlossen und fragte, wie ich Mainz fände. Ich hatte von der Stadt noch so gut wie nichts gesehen, nur als Begrüßung das angestrahlte Kurfürstenschloss von der Rheinbrücke aus. Durch die Beleuchtung schien die Silhouette aus purem Gold zu sein - ein wahrer Bilderbuchanblick, den ich mit gutem Gewissen würdigen konnte, ohne nur höflich zu sein. Wir unterhielten uns über dies und das, wurden alle langsam etwas vertrauter miteinander. Klaus klopfte an sein Glas. Meine Damen und Herren, der Abend ist offiziell eröffnet, verkündete er mit der hochoffiziellen Miene eines Zeremonienmeisters. Darf ich die verehrten Herrschaften zu Tisch bitten? Damit zog er einen Vorhang auf, der bisher die Essecke vom Wohnzimmer abgeteilt hatte.

Als wir mit dem Essen anfingen, war es schon kurz vor neun. Wir hatten alle Hunger. Zuerst kam eine selbstgemachte Zwiebelsuppe auf den Tisch, mustergültig überbacken, dann gab es Filetgulasch in exotischer Soße mit Reis, dazu mehrere Salate. Zum Schluss brachte Klaus ein riesiges Käsebrett und entkorkte eine Flasche französischen Rotwein. Meine Lobeshymnen waren ohne jegliche Heuchelei; die Gastgeber hatten weder Kosten noch Mühe gescheut, und das Essen war wirklich gelungen. Natürlich zog es sich entsprechend in die Länge, zumal irgend jemand das Thema Politik angeschnitten hatte und wir sofort in einen hitzigen Disput verfielen. Klaus und Gisela vertraten die Linke, Norbert erwies sich als stark konservativ, ich hingegen bemühte mich, die Fahne der Liberalen hochzuhalten. Erst beim Käse wurden wir kompromissbereiter, denn zum vollen Magen gesellt sich meistens auch eine wohlige Trägheit. Beim Kaffee blickte ich zufällig auf meine Uhr und stellte erstaunt fest, dass vom alten Jahr nur noch eine halbe Stunde übrig war. Wir nutzten diese Zeit zum Tischabdecken und Aufräumen, entwickelten sogar plötzlich eine ziemliche Betriebsamkeit, um bis zwölf Uhr fertig zu sein. Wir schafften es. Fünf Minuten vorher herrschte Ordnung, der Vorhang zur Essnische wurde zugezogen, und wir saßen wieder im Wohnzimmer. Niemand war mehr müde. Klaus schaltete das Radio an. Der Countdown lief bereits, dann kam der Gong. Mitternacht! Offensichtlich war es doch möglich, Silvester ohne Warten zu verbringen.

Wir prosteten uns mit Sekt zu und wünschten einander ein glückliches neues Jahr. Norbert nutzte die Gelegenheit, um mir einen Kuss zu geben. Kein Kribbeln, nichts Aufregendes, gar nichts! Ich dachte an ein albernes Teenager-Verslein: Der Kuss ist der Ausdruck eines Eindrucks durch Aufdruck mit Nachdruck, und erwiderte ihn automatisch. Nach dem Anstoßen gingen wir vor die Tür - Ablaufschema der vergangenen Silvesterfeiern, auch der letzten. Ich zuckte zusammen. Das Nibelungenlied fiel mir ein. Ich han aus alten mären.…, begann eine Stimme in mir herunterzuleiern. Drachenblut, dachte ich, Drachenblut. Norbert fragte, an was denkst du? Ich lächelte ihn an. An Silvester; an Silvester und an Drachenblut, entgegnete ich wahrheitsgemäß. Meine Antwort erheiterte ihn. Ich wusste nicht, warum.

Die Nacht war wunderbar klar. Ich war verliebt in den Sternenhimmel, meine einzige beständige Liebe. Eigentlich war es unter diesem Himmel nicht wichtig, ein bestimmtes Zuhause zu haben. Zuhause - eine Hilfskonstruktion für die, denen die Unendlichkeit zu groß ist? War sie für mich auch zu groß? Im Moment konnte ich verneinen, aber wie oft würde ich mit einem kläglichen Ja antworten? Norbert legte den Arm um mich. Du siehst so träumerisch aus, sagte er. Ich beendete mit Bedauern meinen geistigen Höhenflug und bemühte mich, ein nüchternes Gesicht zu ziehen. Ich träume nie, behauptete ich kühn, ich bin nur ein bisschen müde. Kleine Realistin, neckte Norbert und zog mich am Haar. Und klein bin ich schon gar nicht, fuhr ich streitlustig fort, denn wenn ich mich ertappt fühle, erwacht sofort mein Kampfgeist. Du hast noch fast gar nichts von dir erzählt, flüsterte er, und dabei möchte ich gern alles von dir wissen. Hoffentlich bist du nicht enttäuscht, konterte ich bewusst flapsig. Norbert lachte. Ich konnte an meiner Äußerung nichts Komisches finden. Die Wahrheit ist selten komisch.

Peng, machte der Knallfrosch, den Klaus angezündet hatte. Hui, widersprach zischend eine Leuchtrakete etwas weiter entfernt und endete mit lauten Krach, bevor sie endlich ihren Goldregen freigab. Klaus hatte sich auf Knallfrösche spezialisiert. Peng, peng, peng, beharrten sie rechthaberisch auf ihrer Meinung, obwohl sie nur armselig am Boden herumhüpften und nicht einmal zum Himmel aufsteigen konnten. Einer sprang wütend gegen einen geparkten Audi. Peng! Bitte nicht ausgerechnet an mein Auto schießen, rief Norbert zu Klaus hinüber. Aha, registrierte ich, das ist also sein Auto. Es schien hell zu sein. Die genaue Farbe konnte ich im Dunkeln nicht ausmachen. Es sah ziemlich neu aus, und ich fand es recht groß für einen frischgebackenen Mediziner. Wahrscheinlich hatte der Vater etwas locker gemacht. Meine Vorstellungen von einem wohlsituierten Elternhaus festigten sich.

Wir gingen wieder hinein. Die plötzliche Wärme machte träge und unsere Unterhaltung schleppte sich mühsam dahin. Nach den paar Stunden kannte man sich noch nicht gut genug, um miteinander schweigen zu können. Wir redeten Belangloses. Klaus, der vollkommene Gastgeber, hatte dieses Tief einkalkuliert und versuchte, uns durch ein vorbereitetes Quiz aufzumuntern. Es ging um Fremdworte. Ich kramte hilfesuchend in meinem Schullatein und kam ganz gut über die Hürden. Gisela gab vor, bei Pleonasmus passen zu müssen. Wahrscheinlich wollte sie die Endrunde Norbert und mir überlassen. Großes Gelächter bei Stalagmiten und Stalaktiten. Die Eselsbrücke war offensichtlich allen bekannt. Bei Staphyle war ich ratlos und gab auf. Norbert wusste auch hier weiter. Das Zäpfchen im Hals, sagte er. Mit großem Applaus kürten wir ihn zum Fremdwort-Ass des Abends. Klaus improvisierte einen Tusch und überreichte dem Sieger drei Marzipanschweinchen als Trophäe. Norbert verbeugte sich nach allen Seiten nahm die Auszeichnung in Empfang, bestand aber darauf, den Preis mit dem zweiten Sieger zu teilen. Gisela brachte ein Küchenmesser. Erbarmungslos schnitt Norbert das mittlere Marzipanschweinchen der Länge nach durch. Drei Glücksschweine sagte er und sah mir in die Augen, das ist genug Glück für uns beide. Mir fiel auf, dass er uns gesagt hatte. Ich schwieg und biss in mein Marzipan, um das geteilte Schweinchen von seiner Halbheit zu erlösen.

Das Telefon klingelte. Waltraud ließ ankündigen, dass meine Eltern gleich kommen wollten, um mich abzuholen. Ich trank meinen Sekt aus. Deine Adresse! Norbert hielt mir sein Notizbuch hin, du musst mir noch deine Adresse aufschreiben. Während ich mich in das Büchlein eintrug, fragte er auf einmal sehr leise, ob ich schon einen Freund hätte. Ich sah auf. Warum, wollte ich wissen. Weil ich dich sehr mag, antwortete er. Nein, sagte ich endlich und bemühte mich um einen unverbindlichen Tonfall, ich habe keinen Freund. Norbert sah erleichtert aus. Darf ich dich einmal in Tübingen besuchen, erkundigte er sich sofort. Ich konnte mir denken, wie er ein Ja auslegen würde. Ich konnte mir auch denken, dass ich Hoffnungen wecken und vielleicht wieder zerstören würde. Ich wusste es sogar. Das abweisende Tübingen tauchte vor mir auf. Mein Zögern war nur kurz, zu kurz, um bemerkt zu werden. Ich nickte wortlos und schrieb ihm zusätzlich die Telefonnummer meiner Wirtsleute auf. Ruf vorher an, bat ich ihn schon im Stehen und glaubte, meiner Zusage dadurch etwas von ihrer Endgültigkeit zu nehmen. Ich zog meinen Mantel an, bedankte mich bei Gisela und Klaus für die viele Mühe, die sie sich gemacht hatten. Es war mein schönstes Silvester, sagte ich, ohne zu übertreiben. Man sah, dass sie sich darüber freuten. Norbert bestand darauf, mich nach draußen zu begleiten. Ich wollte mich allein von dir verabschieden, flüsterte er vor der Tür und küsste mich. Ich küsste ihn zurück. Im Schein der Hauslaterne sah ich, wie er strahlte. Wenn er sich nur nicht so freuen würde, dachte ich. Dann näherten sich Autoscheinwerfer. Adieu, sagte ich schnell und ging vom Haus auf die Straße zu. Das Auto hielt, meine Mutter öffnete von innen die Tür. Ich melde mich bald, rief Norbert mir beim Einsteigen hinterher, bald. Wir fuhren los, er winkte.

War er das, wollte meine Mutter natürlich sofort wissen. Wie ist er denn? Ich murmelte ein Ja und fügte hinzu, ich hätte einen sehr netten Abend verbracht. Wie war es bei euch, erkundigte ich mich, um weitere Fragen vorerst zu verhindern. Ziemlich langweilig, antwortete sie. Ich gähnte so laut, dass man es auch vorne im Auto hören konnte. Du musst aber müde sein, meinte mein Vater. Ich bestätigte eilig, dass ich wirklich todmüde sei, kroch in meiner Ecke in mich zusammen und gab vor, vor mich hin zu dösen. Eine Weile herrschte Ruhe, dann nahm meine Mutter ihren Faden wieder auf. Ich atmete tief und gleichmäßig. Schläfst du, hörte ich sie leise fragen. Ich schwieg beharrlich und beobachtete zwischen den Wimpern hindurch, wie sie sich zu mir herumdrehte. In diesem Moment beschleunigte mein Vater den Wagen, um auf die Autobahn aufzufahren. Meine Mutter sah wieder nach vorne. Dann hörte man nur noch das Fahrgeräusch.

Ich starrte in die Nacht hinaus und begann nachzudenken. Es war offensichtlich, dass Norbert Feuer gefangen hatte. Es war genauso offensichtlich, dass eine entsprechende Gegenreaktion bei mir nicht zu befürchten stand. Ich war noch bei keinem ersten Kuss so gleichgültig geblieben wie bei seinem. Weiterhin stand fest, dass meine Studentenfreiheit keineswegs so herrlich war, wie ich es erwartet hatte. Im Gegenteil, ich fühlte mich in dem fremden Tübingen sehr allein und sehnte mich nach jemandem, der da war, wenn man ihn brauchte. Manchmal beneidete ich Kommilitoninnen, die schon einen Trauring trugen. Heirat oder zumindest eine feste Partnerschaft schien kein schlechter Ausweg aus meiner Lage. Norbert, überlegte ich weiter, war für eine solche Beziehung durchaus nicht ungeeignet. Er wirkte anständig und verlässlich. Die kleinen äußerlichen Geschmacklosigkeiten könnte ich ihm wahrscheinlich ohne große Schwierigkeiten austreiben. Er stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus und würde in Kürze Arzt sein, also einen relativ angesehen und einträglichen Beruf ausüben. So besehen, war er nicht nur eine gute, sondern sogar eine sehr gute Partie. Und man durfte nicht vergessen, dass er sich schon nach einem Abend in mich verliebt hatte. Natürlich würde ich meinerseits Verliebtheit vortäuschen müssen, aber Schauspielen wäscht Drachenblut nicht ab. Verwundbar würde nur Norbert sein, verwundbar und von mir abhängig. Das Ergebnis meiner Bilanz sah günstig aus. Es war eindeutig, wer bei diesem Spiel die besseren Karten in der Hand hielt. Am Neujahrsmorgen, kurz vor drei, beschloss ich, Norbert zu heiraten.

Der Frühlingsschläfer

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