Читать книгу Der Frühlingsschläfer - Friederike Gahm - Страница 8

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Als wir zu Hause ankamen, war ich tatsächlich müde - müde und sehr zufrieden. Ich sagte meinen Eltern gute Nacht und verschwand in meinem Zimmer. In dieser Nacht schlief ich sehr schnell ein. Ich träumte von Norbert. Wir waren zusammen irgendwo an der Nordsee und gingen am Fuß einer Düne spazieren. Es war ein stürmischer, grauer Tag; die Landschaft wirkte trostlos. Wir redeten nichts und gingen immer weiter an der endlosen Sanddüne entlang. Auf einmal erkannte ich oben auf der Düne in weiter Ferne eine Handvoll Menschen. Sie kamen uns entgegen, wurden größer und größer, und ich sah, dass alle sehr vergnügt waren. Sie waren bunt angezogen; ihre Kleider wehten lustig im Wind, als sie auf der Düne tanzten. Ich wäre gern bei ihnen gewesen, aber Norbert ergriff meine linke Hand. Als sich die Gruppe genau über uns befand, hielten plötzlich alle wie auf Kommando in ihren Bewegungen inne und blickten zu uns herab. Sie schienen mich zu kennen und riefen mir etwas zu. Im Heulen des Windes konnte ich jedoch nichts verstehen. Norbert hielt meine Linke jetzt so fest, dass es weh tat. Die Gestalten über uns fingen an, mir zuzuwinken. Sie schwenkten ihre Arme und bedeuteten mir, zu ihnen zu kommen.

Da riss ich mich mit aller Gewalt los und rannte so schnell ich konnte die Düne hoch, ohne mich noch einmal umzudrehen. Oben angekommen, blickte ich erleichtert hinunter. Norbert sah sehr klein aus. Als ich erwachte, wunderte ich mich über den merkwürdigen Traum.

Einige Tage später, am Dreikönigstag, fuhr ich zurück nach Tübingen. Ich brach erst abends auf. Trotzdem wälzte sich ein langer Blechwurm über die Autobahn. Es nieselte leicht, die Sicht war schlecht. Ich hatte Angst vor Glatteis. Nach über drei Stunden Fahrt tauchte schließlich das Ortsschild von Tübingen auf. Meine Schultern waren verspannt, die Augen taten von den grellen Scheinwerfern des Gegenverkehrs weh; ich freute mich auf die Entspannung und auf ein Glas Rotwein. Da war schon die Abzweigung von der Hauptstraße, die Telefonzelle, noch eine Linkskurve, das Einmanövrieren in die Parklücke. Ich schaltete den Motor aus, räkelte und streckte mich, schloss einen Moment die Augen, genoss es angekommen zu sein.

Natürlich hatte ich wieder viel zu viel Gepäck, um es auf einmal ausladen zu können. Ich musste mehrere Male gehen, bis das Auto leer war. Als ich endlich die Haustür aufschloss, hatte sich auf dem Treppenabsatz ein beachtliches Durcheinander von Taschen und Tüten angesammelt. Ich bemühte mich, meine Siebensachen möglichst unbemerkt in mein Zimmer weiterzutransportieren, weil mir nicht danach war, freundlich nichts sagende Begrüßungsformeln mit meinen Wirtsleuten auszutauschen. Aber Oma Kuch war wachsam. Schon öffnete sich ihre Tür um einen fast unsichtbaren Spalt. Aus dieser Spähposition pflegte sie meine wenigen Besucher zu inspizieren, wobei sich ihr Augenmerk ausschließlich auf solche männlichen Geschlechts richtete, über die sie später ihr Urteil verkündete. Anfangs hatte ich mich darüber geärgert, bis ich nach ein paar Wochen einsah, dass es offensichtlich die einzige Abwechslung im Leben der alten Frau war. Von diesem Zeitpunkt an störte mich ihr unsichtbares Auge nicht mehr. Vergebens hoffte ich an diesem Abend, dass es bei dem Türspalt bleiben würde. Nach kurzer Sondierung der Lage öffnete sich die Tür vollständig. Oma Kuch wollte mich nicht nur herzlich begrüßen, sondern mir auch noch ein gutes neues Jahr wünschen. Und drei Anrufe seien in den letzten Tagen für mich eingegangen - immer derselbe junge Mann. Sie sah mich neugierig und ein bisschen vorwurfsvoll an, weil ich nicht mit einem Wer-war-es-Denn? reagierte. Ich habe den Namen aufgeschrieben, sagte sie. Der Zettel liegt auf Ihrem Schreibtisch. Ich bedankte mich, murmelte etwas von Kopfschmerzen und dass ich sehr müde sei von der Fahrt. Enttäuscht zog sie sich zurück.

Ich schleppte die zahlreichen Tüten eiligst in mein Zimmer, um nicht noch weiteren Familienmitgliedern zu begegnen, und schloss die Tür. Es war kalt. Ich drehte die Heizung voll auf und ging ins Bad, um auch dort für Wärme zu sorgen. Den Mantel ließ ich vorsichtshalber an. In der Badezimmertür stehend betrachtete ich mein Reich. Ein eigenes Bad, das war für Tübinger Verhältnisse luxuriös, aber das Zimmer erschien mir noch abstoßender als bei der Abreise. Jetzt würde ich wieder jeden Tag über die Perserteppich-Imitation gehen - wie viele Schritte? Ich starrte angewidert auf das Muster, sah hinüber zu meiner Arbeitsecke, wie kahl sie wirkte, blickte auf den abgeschabten grünen Sessel, die hölzerne Stehlampe daneben, wie ein Galgen, an dem man versehentlich einen Lampenschirm gehenkt hatte. Hatte ich meine Lesestündchen dort nicht sogar als gemütlich empfunden? Meine Bücher, meine Platten, die Plakate und Grafiken an der Wand; was machten sie hier? Was machte ich hier? Ich fror und ging zum Heizkörper. Langsam wurde er warm. Ich presste meine Hände dagegen. Die Wärme tat mir gut. Ich begann, den Tüteninhalt in die verschiedenen Schränkchen und Kommoden zu verteilen. Als ich damit fertig war, sah das Zimmer etwas besser aus, und mir war nicht mehr so kalt. Ich zog den Mantel aus. Auf dem Regal lagen Zigaretten. Ich zündete mir eine an. Der Rauch kräuselte sich in der Luft; es roch nach meinen Zigaretten. Ich holte ein Weinglas aus der Ecke, die ich zur Küche umfunktioniert hatte, ein großes, glattes Kristallglas. Es war sehr teuer gewesen, und ich besaß nur zwei Stück davon. Ich füllte es halb mit Wein. Ich knipste die grelle Deckenleuchte aus und die Galgen-Lampe an; wenn sie brannte, sah sie wie eine normale Lampe aus. Aus dem Radio kam leise Musik. Ich setzte mich in den abgeschabten Sessel. Der Rotwein hatte eine schöne Farbe. Er war trocken und gut.

Am anderen Morgen stand ich früh auf. Als ich meine Sachen für die Vorlesung zusammenpackte, sah ich den Zettel auf meiner Schreibplatte liegen. Ich sah ihn mir an. Norbert Steinhoff, Telephon 2.,3. und 6. Januar - ruft wieder an, stand darauf in krakeliger Sütterlinschrift. Ich hätte Schwierigkeiten gehabt, die paar Zeilen zu entziffern, wenn ich nicht schon gewusst hätte, was sie enthalten würden. Der Zettel war an drei Seiten ausgefranst und gerade so groß, dass die Nachricht auf das Papier passte. Ich lebte in einem sparsamen Haushalt. 2. und 3. Januar, hatte ich ihm nicht gesagt, dass ich keinesfalls vor dem Wochenende zurückfahren wollte? Ich schüttelte den Kopf und trank meinen Kaffee - schwarz, ungesüßt und wie immer schon halb kalt.

Nach der Vorlesung ging ich in die Stadt, um einzukaufen. Der Wind erschien mir eisig. Es fielen vereinzelte Schneeflocken, zu wenige, um liegen zu bleiben. Auf dem Kopfsteinpflaster blieb nur schwarze Nässe zurück. Ich beschränkte meine Einkäufe auf das Nötigste und flüchtete in die Bibliothek. Dort war es warm; der große, hohe Lesesaal roch nach Büchern. In endlosen Reihen standen sie bescheiden Rücken an Rücken, jederzeit bereit, ihre Traumreiche aufzublättern, Vergangenheit und Zukunft in Gegenwart zu verwandeln, ihren Leser zu entführen, wohin er nur wollte. Unaufdringlich boten sie ihre Dienste an, nie beleidigt, wenn man ihre stumme Einladung abwies. Oft griff ich mir einfach eines aus dem Regal, ohne den Titel vorher angesehen zu haben, und machte Wort für Wort eine Expedition ins Unbekannte - langweilig erschien mir keines. Einige wollten zum Nachdenken anregen, andere unterhalten, wieder andere Wissen vermitteln; manchmal waren sie sachlich, manchmal schwärmerisch, aber immer respektierten sie die Freiheit ihres Lesers, sich ihnen wieder zu entziehen. An einem grauen Wintertag in Tübingen gab es keine angenehmere und tröstlichere Gesellschaft als die ihre. Als ich mich von ihnen trennte, war es draußen schon dunkel.

Auf der Heimfahrt fiel mir auf, wie leer sich mein Magen anfühlte. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Zu Hause briet ich mir Spiegeleier mit Speck. Während ich aß, musste ich mir schuldbewusst eingestehen, dass ich den ganzen Tag nichts gearbeitet hatte - nur gelesen und geträumt. Ich stopfte eilig den letzten Bissen von meinem Brötchen in den Mund, ging mir die Hände waschen, setzte mich an meinen Arbeitsplatz, kramte endlich meine Unterlagen aus der Aktentasche und breitete sie aus. Nur eine Zigarette wollte ich mir noch genehmigen, bevor es losgehen sollte. Leider bin ich in solchen Verzögerungstaktiken äußerst erfinderisch. Draußen klingelte das Telefon. Ich hörte Oma Kuch antworten. Kurz darauf klopfte es. Froilein, es isch für Sie, schwäbelte sie. Ich ging in den Flur und nahm den Hörer entgegen. Sie stellte sich an einen Schrank in Hörweite und machte sich eifrig darin zu schaffen. Demnach war mit Sicherheit nicht meine Mutter am Apparat. Ich drehte ihr den Rücken zu, das Gesicht zur Wand, und meldete mich, wobei ich verdrossen den grünen Samtüberzug anstarrte, der das Telefon verschönern sollte.

Guten Abend, sagte Norbert, endlich habe ich Glück. Hallo, entgegnete ich leise, bemüht, geistesabwesend zu klingen, damit er nicht etwa glaubte, ich hätte auf seinen Anruf gewartet. Er berichtete, dass er schon mehrfach versucht hatte, mich erreichen. Ich bin gestern erst zurückgekommen, erwiderte ich, habe aber eine Notiz vorgefunden, dass du angerufen hast. Du scheinst nette Vermieter zu haben, meinte er. Hoffentlich sind sie nicht böse, weil ich so oft gestört habe. Ich verneinte und schielte nach Oma Kuch. Sie hatte ihr Räumen inzwischen eingestellt und stand bei offenen Schranktüren angestrengt lauschend da, denn sie hörte nicht mehr gut. Ich blickte wieder in Richtung Wand, sprach noch ein bisschen leiser, erzählte irgend etwas - von der Fahrt, vom schlechten Wetter, vom Tagesverlauf. Nur keine Pause, Pausen sind peinlich. Was hast du gerade gemacht, fragte Norbert, als mir nichts mehr einfiel. Gelernt, behauptete ich, und du? Ich habe an ein gewisses Mädchen gedacht und gehofft, da es endlich zu Hause ist, antwortete er. Schweigen. Mir fiel schon wieder nichts mehr ein. Ich sagte schließlich: Es wird sehr teuer, wenn wir so lange telefonieren. Und wenn schon, lachte Norbert, das ist es mir wert. Warum fiel mir denn nichts ein? Hast du immer noch Lust, mich zu besuchen, sagte ich schließlich übergangslos. Er schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn er ließ sie unbeantwortet und stellte gleich die Gegenfrage. Wann? Ich murmelte etwas von ziemlich viel Arbeit im Moment und erkundigte mich, wie es bei ihm im Februar aussähe. Vielleicht am ersten Dienstag, schlug ich vor. Dienstags habe ich nur bis zehn Vorlesung. Willst du so gegen elf zu mir kommen? Ja, sagte er, ja. Ich beschrieb ihm den Weg. Autobahn Karlsruhe, dann Richtung Stuttgart bis zum Vaihinger Kreuz, ab dort immer der Beschilderung nach. Du musst am Bahnhof vorbei stadtauswärts fahren. Die Straße führt nach Rottenburg, erläuterte ich. Nach dem ersten Bahnübergang siehst du links eine Neubausiedlung. Dort biegst du ein. Der Vorort heißt Kilchberg. Es ist einfach zu finden, schloss ich meine Erklärungen. Ja, sagte Norbert und fügte leise hinzu, ich freue mich sehr. Ich freue mich auch, erwiderte ich schnell. Abschiedsworte hier und dort, ich hängte ein. Dankeschön, rief ich in Richtung des immer noch geöffneten Schrankes und verschwand in meinem Zimmer, bevor Oma Kuch mich in ein Gespräch verwickeln konnte.

Meine Zigarette hatte sich inzwischen in Asche aufgelöst. Ich zündete mir eine neue an und ging auf und ab, den Aschenbecher in der Hand. Ich hatte nicht erwartet, dass er so schnell anrufen würde. Normalerweise ließ man den anderen bei diesem Spiel erst ein bisschen zappeln. Die Kunst besteht darin, genau den Zeitpunkt abzupassen, in dem das Interesse noch wach ist, aber sich der Zweifel bereits regt. Würde er anrufen oder nicht? Norbert hatte diese Spielregeln außer Acht gelassen. Warum? Ich dachte an sein Gesicht, als wir uns am Neujahrsmorgen voneinander verabschiedet hatten. An Spielregeln hält sich nur, wer spielt. Diese Erkenntnis berührte mich unangenehm. Mein Zimmer erschien plötzlich eng und überheizt. Der Rauch störte mich. Ich öffnete ein Fenster. Kalte Abendluft drang herein und verscheuchte meine Unruhe. Normalerweise müsste ich mich über Norberts Reaktion freuen, sagte ich mir. Lauter als gewöhnlich ließ ich den Rollladen herunter und nahm mir vor, mich zu freuen.

Man sagt, schaltet sich mein Alter Ego ein, dass frische Luft die Denkfähigkeit fördert. Aber die Denkfähigkeit allein macht es nicht, fügt es nachdenklich hinzu. Es ist verwunderlich, wie manche Leute den Kopf voller Gedanken haben und doch gedankenlos bleiben. Gedankenlose Gedankenfülle. Es lacht leise vor sich hin. Man kann fast nicht glauben, dass es möglich ist, beides geradezu meisterlich unter ein und derselben Schädeldecke zu vereinen. Angriffslustig fixiert es mich. Ich übe mich im Mut zur Pause. Plötzlich wird mein Alter Ego verbindlich und freundlich. Was du eben rekonstruiert hast, interessiert mich sehr, bemerkt es übergangslos. Es ist außerordentlich unterhaltsam. Eigentlich hast du jetzt verdient, deinerseits eine Geschichte zu hören. Ich will dir eine erzählen, etwas Romantisches, etwas fürs Herz, etwas von der Liebe. Du bist doch romantisch, oder? Es sieht mich lauernd an. Ich murmele etwas, das nach Zustimmung klingen soll. Sehr schön, meint mein Alter Ego zufrieden.

Nach einer kurzen Pause fängt es an zu erzählen: Es war einmal ein junger Mann, dem widerfuhr eines schönen Tages das, was man Liebe auf den ersten Blick nennt. Er lernte ein junges Mädchen kennen, und als es ihn anblickte, wusste er: sie oder keine! Ich kann nicht beurteilen, ob sie wirklich so hübsch war, wie sie ihm erschien. Wichtig ist nur, dass gerade sie ihm über alle Maßen gefiel. Während des ganzen Abends konnte er kaum die Augen von ihr wenden. Er versuchte, sich ihre Gesichtszüge einzuprägen, aber immer, wenn er meinte, ihr Gesicht vor sich zu sehen, und wenn er woanders hinblickte, zerflossen ihre Konturen, und er konnte sich nur noch ihre schönen Augen vorstellen. Sie schienen ihn von überall her anzuschauen. Er sah sie sogar, als er seine eigenen Augen für den Bruchteil einer Sekunde schloss. Den Verlauf des Abends erlebte er nur verschwommen. Die Unterhaltung plätscherte an ihm vorbei. Er registrierte, dass er ziemlich viel redete, ohne zu wissen, was. Er fühlte sich wie im Traum und befürchtete aufzuwachen, ohne sie um ein Wiedersehen gebeten zu haben. Aus Angst, sie könnte ablehnen, traute er sich nicht, sie danach zu fragen, obwohl sie sehr freundlich zu ihm war und alle Anzeichen dafür sprachen, dass sie nicht nein sagen würde. Erst als sie schon im Gehen begriffen war, brachte er endlich seine Frage heraus. Ob er sie einmal besuchen durfte? Sie lächelte ihn an und schien nachzudenken. Er bereute fast schon, gefragt zu haben, da sagte sie ja, und er sollte einfach vorher in Tübingen anrufen. Sie schrieb ihre Adresse in sein Notizbuch. Beim Abschied gab sie ihm einen Kuss. Bis zum übernächsten Tag schaffte er es, der Versuchung zu widerstehen, die von seinem Telefon ausging. Dann gab er nach. Er wählte. Eine brüchige Frauenstimme teilte ihm freundlich mit, sie wäre noch nicht zurück. Er geduldete sich bis zum nächsten Tag. Dieselbe Antwort. Er nahm sich vor, das Wochenende abzuwarten; erst am Montag versuchte er es wieder. Sie war immer noch nicht da. Am Dienstag hieß es endlich, dass sie zwar inzwischen zurückgekommen, momentan jedoch außer Haus wäre. Er wartete bis zum Spätnachmittag. Dann probierte er es nochmals. Aus dem Hörer tutete ihm das Besetztzeichen entgegen. Er wählte erneut; die Nummer kannte er längst auswendig. Immer noch besetzt. Ob sie telefonierte? Er versuchte, etwas zu lesen und nicht auf die Uhr zu sehen. Eine halbe Stunde hielt er durch, dann griff er wieder zum Telefon. Dieses Mal war die Leitung frei. Wieder meldete sich die alte Frau. Ja, sagte sie, einen Moment, bitte. Es krachte an seinem Ohr. Wahrscheinlich hatte sie den Hörer hingelegt. Stille. Dann hörte er ihre Stimme. Sie klang leiser als er sie in Erinnerung hatte, fast schüchtern. Er versuchte herauszuhören, ob sie sich über seinen Anruf freute. Ihre Stimme verriet nichts. Ohne zu zögern, erzählte sie vielerlei, aber nichts von dem, was er gern hören wollte. Du fehlst mir, hätte er gern gesagt, und wann sehen wir uns, aber er blieb stumm. Jetzt, wo er endlich mit ihr telefonierte, wusste er plötzlich nichts mehr zu sagen. Wenn sie etwas wissen wollte, antwortete er mit nichtssagenden Phrasen. Er hatte Mühe, ihr zuzuhören. Dann sagte auch sie nichts mehr. Es war immer noch kein Wort über ein Wiedersehen gefallen. Er musste jetzt die Initiative ergreifen, sonst wäre es zu spät. Plötzlich fragte sie in das Schweigen hinein, hast du immer noch Lust, mich zu besuchen? Er war so erleichtert, dass er die Antwort vergaß und stattdessen gleich nach einem Termin fragte. Sie schlug den ersten Dienstag im Februar vor. So spät, dachte er, fast noch ein ganzer Monat. Er war enttäuscht und bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. Sie ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern redete gleich weiter. Er hörte, ohne zuzuhören. Sie erwähnte eine Ortschaft namens Vaihingen, Bahnhof, Neubausiedlung. Ja, sagte er, und tat so, als hätte er aufgepasst. Er überlegte, wie er ihr noch sagen konnte, dass er sich freute. Oder war das nicht angebracht, wenn man sich das erste Mal wiedersah? War er zu ungeduldig? Da war der Satz schon heraus. Ich freue mich. Wer verliebt ist, trägt sein Herz auf der Zunge. Ich freue mich auch, entgegnete sie. Das übertraf alle seine Erwartungen. Er verabschiedete sich hastig, damit es das Letzte bliebe, was sie sagte. Er war glücklich. Als er den Hörer eingehängt hatte, musste er seine Freude abreagieren. Er ging zum Plattenspieler und legte seine Lieblingsplatte auf, die Rhapsodie in Blue. Er drehte die Lautstärke bis zum Anschlag auf. Schon immer wollte er einmal das Vibrieren dieser Musik spüren. Heute leistete er es sich, keine Rücksicht zu nehmen. Sollten sich die Nachbarn doch beschweren. Ich freue mich auch, hatte sie gesagt. Was war schon ein knapper Monat?

Mein Alter Ego schweigt. Auch ich sage nichts. Hat dir meine Geschichte nicht gefallen, fragt es nach einiger Zeit und fügt scheinheilig hinzu, du kannst ehrlich sagen, was dich gestört hat. War sie vielleicht nicht realistisch genug oder gar zu realistisch? Hatte sie zu viel Herz oder zu wenig? Bei Liebesgeschichten ist es oft schwierig, das richtige Maß zu finden. Mein Alter Ego nickt mir erwartungsvoll zu. Nun, sagt es aufmunternd, nun? Ich kontere erbost, dass es sich seine dummen Spielchen sparen könne. Nanu! Es tut erstaunt, ich dachte, du magst Spiele, oder habe ich dich vorhin in diesem Punkt falsch verstanden? Spielst du vielleicht nur gern, wenn du weißt, dass du gewinnen wirst, erkundigt es sich. Das hat nichts mit Gewinnen und Verlieren zu tun, entgegne ich lauter als beabsichtigt. Mir geht lediglich dein plumper Geschichtentrick auf die Nerven. Auf die Nerven, echot mein Alter Ego ungläubig, wie interessant. Auf die Nerven? Ja, beharre ich, genau, auf die Nerven! Dann lass dich bei deinen weiteren Reminiszenzen nicht stören, sagt es und verschwindet. Bist du beleidigt, weil ich auf deine Geschichte geschimpft habe, frage ich hinter ihm her. Es antwortet nicht. So hat es sich bisher noch nie verhalten.

Der Frühlingsschläfer

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