Читать книгу Der Frühlingsschläfer - Friederike Gahm - Страница 6

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Als meine Großeltern nicht mehr lebten, änderte sich die Silvesterprozedur. Der erste Jahreswechsel, der anders zu werden versprach und auch wirklich ganz anders wurde, gab sich besonders verheißungsvoll. Ich war inzwischen neunzehn Jahre, stand unmittelbar vor dem Abitur und war außerdem unsterblich in einen meiner Lehrer verliebt. Er unterrichtete nicht nur mittelhochdeutsche Minnelyrik in meiner Klasse, sondern hatte auch noch den selben Vornamen wie der Dichter Walther von der Vogelweide - nur ohne h. Diesen kleinen Stilbruch übersah ich großzügig. Er war Anfang dreißig, groß und schlank, unverheiratet und ohne Konkurrenz in einem Lehrerkollegium, in dem die wenigen Vertreter des männlichen Geschlechts bereits kurz vor der Pensionierung standen. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass ich mich in ihn verliebte und mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit versuchte, ein Tête-à-tête einzufädeln; verwunderlich ist vielmehr, dass meine phantasievollen Bemühungen schließlich Erfolg hatten und Walter bei einem Glas Wein, fernab von Schule, Kollegen, Eltern und sonstigen Störfaktoren meinte, er sei ebenfalls in mich verliebt. Zu diesem Geständnis ließ er sich an einem Spätherbsttag hinreißen. Der Himmel war aus blauer Seide; ich hatte das Glück entdeckt. Aber mein himmelblaues Glück blich ziemlich schnell aus. Es wurde fleckig. Ich weigerte mich, die Wandlung zur Kenntnis zu nehmen. Unter üblichen Bedingungen wäre ich des Flirts wahrscheinlich längst überdrüssig gewesen, aber hier spielte der Reiz des Verbotenen mit. Jedes Treffen baute sich auf einem fein gesponnenen Lügennetz auf, vor jedem Telefonanruf galt es, ungeahnte Hindernisse zu überwinden, jeder tiefe Blick während des Unterrichts brachte den Nervenkitzel mit sich, ob ihn noch ein Dritter bemerken würde. Nichts war selbstverständlich; Langeweile und Gewohnheit bekamen keine Chance. Das Leben war aufregend wie nie. Außerdem erhielt ich indirekten Zugang zum Lehrerzimmer, denn mein Angebeteter war redselig und ließ sich bereitwillig aushorchen. Ich war über allen Lehrerklatsch bestens informiert und betrachtete meine Schulumgebung mit der freundlichen Herablassung der Wissenden.

Zu Beginn der Weihnachtsferien lud Walter mich zu einem gemeinsamen Silvester ein. Mein Glück war sofort wieder von ungetrübtem Himmelblau. Wir würden bei ihm zu Hause feiern, dachte ich, träumte von Zärtlichkeit und von Minne. Es überraschte mich sehr, als sich herausstellte, dass er mit mir zu einem Silvesteressen gehen wollte - offensichtlich ganz ohne die üblichen Bedenken, gemeinsam etwas vor den Augen der gefürchteten Öffentlichkeit zu unternehmen. Diese Ankündigung übertraf alle Erwartungen. Ich versuchte mir vorzustellen, dass wir wie jedes normale Liebespärchen zusammen tanzen würden, und war ganz sicher, dass alle meine bisherigen Silvesterträumereien kläglich waren, verglichen mit dem, was nun kommen sollte. Die Zeit schlich. Am liebsten hätte ich einige Tage aus dem Kalender gestrichen. Weihnachten, sonst das glänzende Ereignis des Jahres, verblasste vor dem Bevorstehenden. Weder Gabentisch noch Tannenbaum gelang es, mich vollkommen in ihren Bann zu ziehen. Selbst der spannende Moment, als meine Eltern ihre Päckchen auswickelten, die ich zuvor wie immer stundenlang eingepackt und verziert hatte, büßte gehörig an Reiz ein. Weihnachten war nur noch Nebensache. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ihm etwas anderes den Rang abgelaufen. Weihnachten war erwachsen geworden.

Die Tage danach vergingen wesentlich schneller. Ich dachte lange über eine offizielle Silvestergestaltung nach, die elterlichen Bedenken standhalten konnte. Leider war mein Vorzeigefreund, den ich vor allem als Alibi für meine anderweitigen Verabredungen missbrauchte, zum Jahresende verreist und hatte diese Tatsache auch noch überall herumerzählt. Ich musste mir also etwas Neues einfallen lassen. Es schien mir ratsam, möglichst nahe bei der Wahrheit zu bleiben, und so konstruierte ich eine Party, die bei jemandem aus meiner Klasse stattfinden sollte. Fortuna war mir wohlgesonnen; wider Erwarten gaben sich meine Eltern mit meinen recht fragmentarischen Informationen zufrieden und hakten nicht weiter nach. Ich konnte ungestört zur Detailplanung übergehen. Einen ganzen Nachmittag verbrachte ich in der Stadt, um einen symbolträchtigen Talisman zu finden, den ich Walter um Mitternacht geben wollte. Dabei strapazierte ich die Geduld mehrerer Verkäuferinnen, durchlitt die Qual der Wahl und kaufte schließlich einen winzigen Elefanten aus Jade, für den ich willig einen unverschämten Preis bezahlte. Natürlich musste rechtzeitig überlegt werden, was ich am bewussten Abend anziehen würde. Ich probierte alle in Frage kommenden Möglichkeiten durch. Nach vielem Hin und Her fiel meine Wahl auf das edelste Kleid, das ich besaß, ein Seidenes. Es war dem Anlass angemessen. Diese Entscheidung wurde allerdings durch das Fehlen einer passenden Strumpfhose gefährdet, sodass ich schließlich meine letzten Ersparnisse zusammenkratzen musste, um ein besonders hauchdünnes Paar zu erstehen.

Während dieser minutiösen Vorbereitungen befand ich mich in ständiger Euphorie, durchlebte sämtliche Stadien der Vorfreude und genoss die Weltumarmstimmung aller Verliebten. Schon waren die vier Tage nach Weihnachten vorüber, ein nieseliger, grauer Silvestermorgen zog vorbei, und es war soweit: Ich konnte anfangen, mich zum Ausgehen fertig zu machen. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, nicht zu früh mit dem Anziehen anzufangen, war ich viel zu früh fertig und sortierte immer wieder den Inhalt meiner Handtasche im Kampf gegen die letzte halbe Stunde. Sie verstrich langsam, aber sie ging vorbei. Und dann war es wirklich Zeit aufzubrechen. Endlich. Ich verabschiedete mich von meinen Eltern unter sehr vagen Andeutungen, wann mit meiner Rückkehr zu rechnen sei. Mein Vater, normalerweise in diesem Punkt auf größte Genauigkeit bedacht, zeigte sich ungewohnt großzügig - es war ja Silvester.

Draußen schlug mir ein nasskalter Wind ins Gesicht, aber es regnete nicht mehr. Wir hatten uns in Walters Wohnung verabredet, denn er hielt es für zu riskant, mit dem Auto in der Nähe meines elterlichen Domizils, sozusagen vor der Höhle des Löwen, zu warten. Ich sah das natürlich ein, wie ich alles einsah, was Walter sagte. Sicherheitshalber machte ich sogar einen Umweg, ging ein Stückchen in Richtung Straßenbahnhaltestelle, schlug erst an der nächsten Ecke einen Haken und eilte meinem eigentlichen Ziel entgegen. Walter wohnte in einem abgelegenen, kleinen Nachbarvorort, zu dem es keine öffentliche Verkehrsverbindung gab. Das bedeutete für mich eine reichliche halbe Stunde Fußweg, denn an ein Taxi war nach Anschaffung der teuren Strumpfhose nicht zu denken. Obwohl ich sehr schnell ging, fast rannte, kroch die Kälte schon nach kurzer Zeit in mir hoch. Meine dünnen Lackschuhe bestanden aus vielen kunstvoll verschlungenen Riemchen, waren sehr elegant und für das Waschküchenwetter denkbar ungeeignet. Auch der Hauch von einer Strumpfhose war nicht als Bekleidung für einen Winterspaziergang gedacht. Die Zehen wurden erst feucht, dann steif, und an meinen Beinen piksten unzählige kleine Nadeln.

Die Nacht war dunkel; Sterne und Mond versteckten sich hinter einer beinahe lückenlosen Wolkendecke. Ich war froh, dass die schlecht beleuchtete Landstraße wenigstens einen asphaltierten Fußweg hatte, sonst wäre ich wesentlich langsamer vorangekommen. Unterwegs begegnete ich niemandem. Nur wenige Autos fuhren vorbei. Eines hielt sogar an, und ein älterer Herr fragte, ob er mich irgendwohin mitnehmen könnte. Er schaute mitleidig-verwundert auf meine Schuhe, meinte es wohl gut, aber angesichts der Einsamkeit war mir seine Hilfsbereitschaft suspekt. Ich bekam es mit der Angst zu tun, lehnte das Angebot hastig ab. Er schüttelte den Kopf und fuhr weiter. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was meine Eltern sagen würden, wenn sie mich bei meiner abendlichen Wanderung sähen, und setzte meinen Weg unverdrossen fort. Endlich sah ich die Lichter des nächsten Ortes, noch weitere fünf Minuten, und ich stand vor Walters Wohnungstür. Bevor ich auf den Klingelknopf drückte, brachte ich meine Haare so weit in Ordnung, wie das mit steif gefrorenen Fingern möglich ist. Dann erst klingelte ich.

Walters Begrüßung fiel lauwarm aus. Er nahm kaum Notiz von mir, bot mir endlich einen Whisky an. Ich nahm ihn pur, um mich aufzuwärmen und um eine gewisse Niedergeschlagenheit zu bekämpfen, die mich plötzlich befallen hatte. Da saß ich nun in einer Sofaecke, hatte nicht einmal einen Begrüßungskuss bekommen, nippte an meinem Whisky, dachte an Minnelyrik und hatte nur eine dünne Zigarette, um mich daran festzuhalten. Walter plauderte vor sich hin, erzählte von dem Lokal, wo wir gleich hinfahren würden - ein verschwiegenes, kleines Landhaus, wo keine bekannten Gesichter zu befürchten waren. Es klang viel versprechend, sogar sehr viel versprechend. Langsam tauten meine Zehen und Finger auf; langsam wurde mir wohler; langsam kam sogar die Freude auf den Abend wieder. Plötzlich lachte Walter auf und berichtete, wie sich seine Geschwister über die sonderbare Wahl des Restaurants gewundert, aber angesichts seiner Lage volles Verständnis gezeigt hatten. Ich würgte schnell den Whisky hinunter, den ich gerade im Mund hatte, um mich nicht daran zu verschlucken. Diese rege Anteilnahme der Geschwister - ein Bruder und eine Schwester waren hin und wieder erwähnt worden - ließ wohl darauf schließen, dass sie an unserer Silvesterfeier teilhaben wollten. Mir verschlug es die Sprache. Ich wagte weder zu fragen, ob meine Folgerung richtig sei, noch mein Erstaunen über diesen neuen Aspekt zu zeigen, sondern war nur bemüht, meine Enttäuschung zu verstecken, sie zusammen mit einem besonders großen Schluck hinunterzuspülen. Auf einmal verbreitete der Whisky keine wohlige Wärme mehr, sondern brannte im Magen. Ich stellte fest, dass es eine ziemlich billige Sorte war.

Walter merkte von alldem nichts; er suchte die Eintrittskarten. Er suchte immer irgendetwas, was mich nicht mehr wunderte, seit ich das Chaos in seiner Wohnung kennen gelernt hatte. Auf den wenigen Sitzgelegenheiten stapelten sich Bücher, unkorrigierte Hefte, Schallplatten; über der Sessellehne lümmelte eine Hose; der Tisch war von schmutzigem Geschirr, zwei randvollen Aschenbechern und mehreren Bananenschalen beansprucht; hinter einem wunderschönen alten Meißen Wandteller klemmten Kontoauszüge. Es sah genauso aus, wie man das von einem Junggesellen-Haushalt erwartet. Ich fand diese Unordnung genial, zog allerdings in meinen eigenen vier Wänden eine gewisse Systematik vor. Walter suchte immer noch, hatte mittlerweile das Badezimmer erfolglos abgegrast und dehnte seinen Aktionsradius auf die Küche aus. Er war viel zu beschäftigt, um mich zu beachten oder gar zu beobachten. Ein freudiger Ausruf nach geraumer Weile verriet, dass das Gesuchte endlich aufgetaucht war; es hatte in einer Küchenschublade gelegen. Wo war nun wieder das Jackett? Erneute Sucherei. Zu Walters großer Überraschung hing es ordentlich im Kleiderschrank; damit hatte er nicht gerechnet. Inzwischen war die Zeit nicht stehen geblieben. Walter, der Suchende, stellte es überrascht-entsetzt fest und trieb zur Eile. Er drückte mir meinen Mantel in die Hand, viel zu beschäftigt, um mir hineinhelfen zu können, weil er die Jagd nach Haus- und Zündschlüssel antreten musste. Nach weiteren hektischen fünf Minuten saßen wir endlich im Auto.

Die Fahrt dauerte länger, als ich erwartet hatte. Walter bemühte sich, die Zeit, die er mit Suchen verbummelt hatte, wieder aufzuholen, und traktierte seinen alten Volkswagen auf das Äußerste. Obwohl ich diesen Fahrstil von ihm schon gewöhnt war, sträubten sich mir mehrfach die Haare, zumal er von der Senderwahl im Radio, der Suche nach einer vollen Zigarettenschachtel und sonstigen Nebensächlichkeiten wesentlich stärker in Anspruch genommen war als vom Straßenverkehr. Er redete ohne Unterlass, ohne etwas zu sagen, war von krampfhafter Munterkeit erfüllt, erzählte lebhaft von seinen Geschwistern. Mein Verdacht, dass in Kürze eine Familienfeier stattfinden würde, erhärtete sich drastisch. Offensichtlich sollte ich vorab in groben Zügen in die Familienverhältnisse eingeweiht werden. Walter berichtete von den Anfangsschwierigkeiten seines Schwagers im Westen, von Arbeits- und Wohnungssuche, und mir fiel erst in diesem Zusammenhang wieder ein, dass alle gerade im Herbst über Prag aus der DDR gekommen waren: die Schwester mit Mann und einjährigem Kind, der Bruder ohne weiteren Anhang. Ich ertappte mich bei dem unfreundlichen Gedanken, dass ich Verwandte, die im Osten geblieben wären, vorgezogen hätte, erschrak fast im selben Moment pflichtschuldig über meinen Egoismus und bemühte mich, das Ganze positiv zu betrachten. Beim Anzünden einer Zigarette durchfuhr mich plötzlich eine ganz neue Idee, die mich so faszinierte, dass ich mir fast die Finger verbrannte. Vielleicht hatte Walter diese Familienversammlung initiiert, weil er gewisse ernste Absichten hegte und mich allen vorstellen wollte; vielleicht war er vorhin bei der Begrüßung so merkwürdig erschienen, weil er ganz einfach nervös war? Je länger ich über diese Erklärung nachdachte, desto plausibler erschien sie mir. Meine Gleichgültigkeit an den geschilderten deutsch-deutschen Problemen verwandelte sich schlagartig in rege Anteilnahme. Während ich mir noch sehr phantasiereiche Variationen über den weiteren Verlauf des Abends ausmalte, bogen wir auf den Parkplatz des Restaurants ein. Ah, sie sind schon da, sagte Walter und zeigte auf ein geparktes Auto. Ich war nun gar nicht mehr enttäuscht, dass sich mein Annahme tatsächlich bewahrheitete, sondern eher aufgeregt und sehr gespannt darauf, alle kennen zu lernen.

An der Garderobe standen drei Personen, die den Eindruck machten, als wüssten sie nicht genau, wo sie hingehörten. Ihre Kleidung schien vom vorletzten Winterschlussverkauf zu stammen. Es konnte sich nur um die eben noch so unerwünschten Ostflüchtlinge handeln. Ich setzte mein herzlichstes Lächeln auf, um wortlos meine hässlichen Anfangsgedanken wieder wettzumachen. Der Bruder hieß Bernd, war einiges älter und etwa einen halben Kopf größer als Walter; seine Schwester Ulrike sah ihm ziemlich ähnlich, trug aber eine Brille, die ihre Augen überdimensional vergrößerte; Schwager Thomas schließlich wirkte trotz seiner schwarzen Haare genauso grau und linkisch, wie ich mir damals als echtes, arrogant-gedankenloses Wirtschaftswunderkind einen DDR-Bürger vorstellte. Alle drei redeten sehr sächsisch und waren offensichtlich erleichtert, dass Walter endlich da war, um die Tischbestellung zu regeln. Auch ich war erleichtert, denn ich fühlte mich in meiner Erwachsenenrolle noch ganz und gar nicht wohl, und die Unsicherheit der anderen ließ meine Selbstsicherheit beträchtlich wachsen. Verstohlen musterte ich die drei, fast enttäuscht, dass sie nicht exotischer aussahen. Alles östlich der Mauer war mir gleichbedeutend mit Sibirien und wurde mit entsprechendem Desinteresse abgetan. Zu Hause kam das Thema DDR nur einmal im Jahr auf, nämlich an Weihnachten, wenn mein Vater zum Zeichen des Gedenkens Kerzen ins Fenster stellte. Ich empfand diese Geste als Gefühlsduselei; sie erschien mir peinlich und angesichts der leicht entflammbaren Gardinen nicht ungefährlich. Alle Jahre wieder verfielen mein Vater und ich in eine längere Diskussion über Sinn und Unsinn dieser Aktion. Am vergangenen Heiligabend war das obligate Streitgespräch erstmals ausgefallen, da das Kerzenlicht nicht hinter meinen Schleier aus Verliebtheit dringen konnte. Solchen Leuten wie diesen drei galt also die Kerzendemonstration. Ich dachte, warum eigentlich nicht? Walter hatte inzwischen einen Kellner gefunden und löste mit ihm zusammen das Tischproblem. Kurz darauf wurden wir in das gut besetzte Restaurant geführt. Es war mit Luftballons und bunten Girlanden geschmückt; eine kleine Kapelle spielte. Alles sah genauso aus, wie bei den Fernseh-Silvesterfeiern, aber dieses Mal feierte ich mit.

Wir bekamen einen Tisch mitten im Lokal zugewiesen. Kaum saßen wir, da glaubte Walter, einige Tische vor sich die Mutter einer Mittelstufenschülerin zu erkennen. Wir standen wieder auf, wechselten die Plätze mit Ulrike und Bernd. Walter saß nun mit dem Rücken zu der vermeintlichen Gefahr. Wir vertieften uns in die Speisekarte. Die Menüfolge klang vielversprechend - kein Karpfen bedrohte meine Silvesterstimmung. Ich hatte Hunger und freute mich auf das Essen. Walter blätterte unschlüssig in der Weinkarte herum, schien nicht recht bei der Sache zu sein, schaute auffallend oft und lange in eine bestimmte Richtung, las in der Karte weiter, sah wieder hoch. Was ist los, frotzelte sein Schwager, sitzt dort vielleicht dein Direktor? Walter lachte gezwungen und entgegnete, es sei nicht ganz so schlimm. Aber er war sich absolut sicher, dass das harmlos aussehende Pärchen zwei Tische weiter die Eltern einer Problemschülerin waren, die ihn erst vor zwei Wochen in der Sprechstunde besucht hatten. Er schlug vor, an einen anderen Platz, möglichst in Ecklage, umzuziehen. Der Kellner wurde gerufen, musste jedoch zu seinem Bedauern mitteilen, dass kein anderer Tisch für fünf Personen frei war. Um Walter zu beruhigen, wandte ich ein, dass diese Eltern mich noch nie gesehen hätten und somit auch die Zusammenhänge nicht kennen konnten. Die anderen pflichteten mir bei, er jedoch zeigte sich von meiner Argumentation nicht überzeugt, reagierte unwillig. Die Mutter der Mittelstufenschülerin schien ihm nun doch das kleinere Übel zu sein. Wir nahmen unsere ursprüngliche Sitzordnung wieder ein. Thomas sächselte vergnügt, ob sich Walter nicht sicherheitshalber unter den Tisch setzen wollte. Alle lachten, nur Walter nicht. In diesem Moment kam die Vorspeise, und das Thema Sitzordnung wurde nicht weiter vertieft.

Die Mahlzeit verlief schweigsam. Die Unterhaltung bestand im Wesentlichen aus Kommentaren zu den einzelnen Gerichten, beschränkte sich auf ausgezeichnet, sehr gut und sonstige Beifallsbekundungen. Ich sah zu den umliegenden Tischen; dort amüsierte man sich besser. Nach der ersten Flasche Wein lockerte sich die Stimmung endlich. Die Schwester erzählte von ihrem Baby. Walter zollte diesen Berichten patenonkelhafte Aufmerksamkeit. Ich fühlte mich verpflichtet, weibliches Interesse zu mimen, wenngleich ich Kleinkinder eher als schreiende Störenfriede betrachte. Selbstverständlich hob sich der Knabe, von dem gerade die Rede war, entscheidend von seinen Altersgenossen ab; selbstverständlich legte er für einen Einjährigen erstaunliche Intelligenz an den Tag und war in jeder Hinsicht überdurchschnittlich. Ich hörte gelangweilt weg.

An den anderen Tischen war man mit dem Essen bereits fertig und ging zum Tanzen. Bei uns stand noch die Nachspeise aus, dann wäre der offizielle Teil überstanden, dachte ich. Endlich wurde das Dessert serviert. Die Teller leerten sich löffelweise, wurden wieder abgeräumt. Wir saßen unverändert an unserem Tisch, auf dem jetzt nur noch Gläser standen. Ich wartete und wartete. Alle schienen auf ihren Stühlen angewachsen zu sein. Thomas machte endlich einen Anfang und führte seine Frau aufs Parkett. Ich schöpfte neue Hoffnung. Walter rührte sich nicht; mir riss der Geduldsfaden. Ich fragte vorsichtig, ob wir nicht auch tanzen wollten. Walter brummte, er habe keine Lust. Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben, und wagte ein leises warum nicht? Es blieb unbeantwortet in der Luft hängen. Walter unterhielt sich angeregt mit seinem Bruder. Ich schien nicht vorhanden zu sein, obwohl ich zwischen den beiden saß. Vielleicht war ich aus Glas, unsichtbar und zerbrechlich; vielleicht würde ich zu Scherben zerfallen, wenn ich mit den Knöcheln auf den Tisch schlug. Ich probierte es aus. Leider zerfiel ich zu nichts, sondern blieb sitzen. Vielleicht träumte ich und würde gleich aufwachen, es wäre Silvestermorgen und ich würde mich den ganzen Tag auf einen schönen Abend freuen. Aber nein, auch das nicht, ich wusste genau, dass ich nicht träumte. Ich wollte es nur nicht glauben.

Die Kapelle machte eine Pause. Thomas und Ulrike kamen vom Tanzen zurück. Er sah gar nicht mehr grau und linkisch aus, sondern wirkte sehr verliebt und glücklich, und sie schien trotz ihres hässlichen Kleides viel besser in den vergnügten Trubel zu passen als ich mit meinem teuren Seidenen. Na, ihr Trantüten, sagte Thomas und sprach es natürlich „Draandüden“ aus, ihr wollt wohl den ganzen Abend hier herumsitzen und dummes Zeugs reden. Mit einem Lächeln in meine Richtung meinte er, er hätte sich westdeutsche Mädchen anders vorgestellt, als er noch drüben wohnte. Aber ich sei wohl schon so oft zum Tanzen gewesen, dass ich keine Lust mehr dazu hätte. Ich schluckte und lächelte zurück - bloß nichts anmerken lassen! Ich war froh, als die Musik wieder einsetzte. Die beiden verschwanden, um weiterzutanzen. Walters Bruder war wohl mittlerweile aufgefallen, dass der Abend für mich recht langweilig sein musste. Ich finde, es ist eine Schande, wandte er sich an mich, wenn man neben so einem hübschen Mädchen sitzt, und nicht tanzt. Damit nahm er meine Hand und zog mich in Richtung Tanzfläche davon. „Eviva España“, spielte die Kapelle zum wiederholten Male. Bernd tanzte zwar nicht gut, aber immerhin, er tanzte. Er machte überhaupt einen netten Eindruck. Walter ist wohl nicht in Form heute, sagte er tröstend und fand Silvester einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt für solche Formtiefs. Ich wusste nichts zu erwidern. Bernd überging mein Schweigen taktvoll und fuhr mit seiner Plauderei fort. Die Tanzpause kam viel zu schnell. Wir kehrten an unseren Tisch zurück. Walter saß unverändert dort, hatte allerdings inzwischen eine volle Flasche Wein vor sich stehen; er war nie sehr zurückhaltend, was den Alkohol anging, aber an diesem Abend trank er besonders viel.

Erneut setzte das ein, was man Unterhaltung nennt. Dieses Mal ging es um irgendwelche Anverwandte und Bekannte, mit denen ich nichts anzufangen wusste. Der eine war gestorben, noch ganz jung, die andere war schon lange verheiratet und hatte inzwischen drei Kinder. Ich langweilte mich, wie ich es bei den vorangegangenen Silvesterfeiern getan hatte. Aber dieses Mal war es nicht die vertraute Langeweile. Dieses Mal war es schlimmer. Früher hatte ich mich in freundlicher Umgebung gelangweilt; hier geschah es im kalten Nichts. Früher hatte ich mich wenigstens in meine Träume flüchten können; hier gab es nichts mehr zu träumen. Früher konnte ich mich geben, wie ich war; hier musste ich mich zusammennehmen und meine ganze Konzentration darauf verwenden, dass ich ebenso amüsiert aussah, wie die anderen. Meine Gesichtsmuskeln schmerzten vor Anstrengung. Ich wusste endgültig, dass etwas in die falsche Richtung lief, aber warum? Ein Blick auf die Uhr - kurz nach elf. Noch fast eine ganze Stunde durchhalten, lächeln, durchhalten, fast sechzig Minuten, wie viele Sekunden?

Thomas, den die Familienneuigkeiten als angeheiratetes Mitglied wohl auch nicht allzu sehr interessierten, forderte mich zum Tanzen auf. Ich hatte keine Lust mehr, traute mich aber auch nicht abzulehnen und ging mit; vielleicht würde wenigstens die Zeit schneller verstreichen. Ich tanzte so schlecht wie noch nie. Meine Füße vollführten irgendwelche Schritte, die Musik nahm ich gar nicht wahr. Ich stolperte hinter meinem Tänzer her, dessen Vorstellungen von westdeutschen Mädchen dadurch wohl restlos erschüttert wurden. Und plötzlich verstand ich zum ersten Mal, was es bedeutet, wenn einem das Herz stehen bleibt. Es war keine dumme Redensart. Mein Herz hörte tatsächlich auf zu schlagen. Alles in mir war leer, taub und tot - ein sekundenlanger Tod. Walter, der die ganze Zeit nicht ein einziges Mal mit mir getanzt hatte, dieser Walter schwebte vergnügt mit seiner Schwester an mir vorbei. Mit äußerster Willensanstrengung schaffte ich es wegzusehen. Ich wusste, ich durfte nicht hinschauen, sonst würde ich schreien, in Tränen ausbrechen oder sonst etwas Unkontrolliertes tun. Irgendwie machte ich weiter, irgend etwas in mir ließ mich einen Fuß vor den anderen setzen, irgendwann saß ich wieder am Tisch. Dann gab es plötzlich lauten Jubel. Es war Mitternacht. Man wünschte mir ein gutes neues Jahr, viel Glück für das bevorstehende Abitur, man stieß an, man küsste sich. Walter küsste mich auf die Wange, aber das war nicht mehr ich, die er jetzt anlachte. Es musste sich um irgendein anderes Mädchen handeln. Dieses Mädchen küsste ihn zurück, gab ihm ein Päckchen, das ich irgendwann schon einmal gesehen haben musste; dieses Mädchen stand mit allen anderen auf und ging vor die Tür. Draußen war es sehr kalt ohne Mantel. Ich fror erbärmlich in meinem dünnen Kleid und stellte fest, dass das fremde Mädchen wieder verschwunden war. Es war weg. Da standen nur Walter, Bernd, Ulrike, an Thomas gekuschelt, und ich. Das war alles. Die Nacht war immer noch ungewöhnlich dunkel. Ob es noch Sterne gab; wo war mein Freund, der Mond? Vereinzelte Feuerwerkskörper knallten, ein bisschen buntes Licht, dann wieder die Dunkelheit. Wir gingen nach drinnen zurück. Ich sonderte mich von den anderen ab, ging in die Toilette und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah mich lächeln. Ich sah mir in die Augen; es waren tatsächlich meine großen, graublauen Augen. Sie blickten unbeteiligt zurück. Ich wartete auf Tränen; es kamen keine. Da zog ich mir die Lippen nach und ging wieder ins Restaurant.

Walter war gerade damit beschäftigt, die Schleife von seinem Päckchen zu reißen. Natürlich war er zu ungeduldig, um sie ordentlich aufzuknoten. Er rollte das Papier auf. Der Talisman fiel auf den Tisch. Walter nahm ihn in die Hand. Ein Elefant, sagte er, hübsch! Hat er irgendeine besondere Bedeutung? Nein, erwiderte ich schnell, nein, er hat mir nur gefallen. Hübsch, wiederholte Walter, und legte den Jadeelefanten zwischen die Papierabfälle. Er wirkte sehr klein, ein kleiner, nackter Elefant. Er würde dort liegen bleiben und mit dem Papier im Müll enden oder herunterfallen und dabei auf dem Steinboden zerbrechen, denn er war fragil gearbeitet. Er tat mir Leid.

Eine zweite Flasche Sekt wurde gebracht. Alle waren jetzt sehr angeregt, auch der Mann, der neben mir saß. Ich beteiligte mich lebhaft an der Konversation. Mein Gott, sagte Thomas, du bist ja auf einmal eine richtige Stimmungskanone! Ich lachte laut und erzählte einen schlüpfrigen Witz, weil ich solche Witze nicht mag. Thomas wusste auch einen. Ulrike lächelte säuerlich. Dem Mann neben mir fiel ebenfalls ein passender Beitrag ein. Erneutes Gelächter. Wir waren der lustigste Tisch im Lokal. Der Mann neben mir war in Hochform. Er hatte drahtige, rötlichblonde Haare und Sommersprossen. Seine Augen wirkten wässrig und wimpernlos. Ich fand ihn hässlich. Der Mann neben mir hatte den Vornamen Walter - wie der mittelalterliche Dichter und Sänger - nur ohne h.

Gegen zwei Uhr brachen wir auf. Ausgiebige Verabschiedung, Händeschütteln, dann stiegen wir in die Autos. Die Türen schlugen zu. Walter war immer noch sehr aufgeräumt. Das war ein richtig netter Abend, sagte er. Ich glaube, den drei neuen Westbürgern hat es auch gefallen. Und das Essen war doch toll, oder? Ja, antwortete ich, sehr toll, alles sehr toll. Walter verfiel in einen längeren Monolog, ich sah aus dem Fenster. Häuser zogen vorbei, nur wenige Fenster waren noch erleuchtet. Dann eine Allee, in wohltuender Monotonie, Pappeln rechts, Pappeln links, dann wieder ein paar Häuser. Ich sah weiter aus dem Fenster und merkte, wie ich Hass empfand. Nicht dass ich Walter gehasst hätte; mein Gefühl für ihn war einfach in nichts umgeschlagen. Ich wusste nicht einmal genau, wann, aber er war mir seit diesem Moment so gleichgültig, wie einem ein Mensch gleichgültig sein kann. Nein, ihm gegenüber konnte ich keinen Hass spüren. Ich hasste mich, hasste mich für meine kindische Verliebtheit, für meine romantischen Scheuklappen, für meine schafsgleiche Duldsamkeit, und vor allem hasste ich mich, weil es jemand geschafft hatte, mich zu demütigen. Ich überlegte, wie ich noch bis zum Abitur fast täglich den Anblick eines Mannes ertragen sollte, der mich jedes Mal, ohne es zu ahnen, an diese Niederlage erinnern würde. Wie viele Deutschstunden musste man in drei Monaten absolvieren? Wie oft würde man seiner Erinnerung in der Pause über den Weg laufen? Stumm versprach ich dem ersten Stern, den ich in dieser Nacht erblickte, mich nie wieder zu verlieben, nie wieder verwundbar zu sein. Jedes Mal, wenn ich Walter sehen würde, wollte ich in Drachenblut baden und alle Lindenblätter sorgfältig aus meiner Nähe schaffen. Ich dachte, dass man nicht Minnelyrik auswendig lernen musste, sondern das Nibelungenlied. Ich han aus alten mären wunders viel geseit… Als wir vor der Wohnung meiner Eltern ankamen, verabschiedete ich mich höflich-kühl und bedankte mich für den schönen Abend. Es klang nicht einmal ironisch.

Der Frühlingsschläfer

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