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b) Die (moderne) Ökumenische Bewegung seit dem 19. / 20. Jahrhundert
ОглавлениеWeltmissionskonferenz Edinburgh 1910
Als Beginn der modernen ökumenischen Bewegung im 20. Jahrhundert wird allgemein die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 angesehen. Sie ist bestimmt von dem Bewusstsein der Verantwortung für die Evangelisierung der Welt. Für den von dieser Missionskonferenz anhebenden ökumenischen Aufbruch gewinnen außerdem die Verpflichtung zu Frieden und sozialer Gerechtigkeit und die Suche nach der Einheit der Kirche in Entsprechung zum nizänischen Glaubensbekenntnis grundlegende Bedeutung. Während das missionarische Anliegen durch die Gründung des Internationalen Missionsrates 1921 in Lake Mohonk aufgenommen wird, wendet sich die – auf den 1914 geschlossenen Weltbund für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen zurückgehende – Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work) ab 1920 den sozialen und friedensethischen Fragen zu. Die erste Weltkonferenz dieser Bewegung findet 1925 in Stockholm statt. Das Problem der kirchentrennenden Lehrdifferenzen schließlich wird ab 1910 Gegenstand der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order), die 1927 in Edinburgh ihre erste Weltkonferenz abhält. Von Anfang an beteiligen sich neben vielen protestantischen Kirchen vor allem die Anglikanische Kirche und die Orthodoxen Kirchen an der ökumenischen Bewegung. Die Römisch-Katholische Kirche steht ihr hingegen abweisend gegenüber.
Gründung des ÖRK
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird 1948 in Amsterdam der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) gegründet. In ihm vereinigen sich die Bewegung für Praktisches Christentum und die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung. 1961 tritt dem ÖRK auch der Internationale Missionsrat bei. 1971 wird zudem der Weltrat für christliche Erziehung als Zweig des ÖRK gegründet. Der ÖRK fungiert bis heute als zentrales Organ der ökumenischen Bewegung und hält alle sechs bis acht Jahre Vollversammlungen ab (1948 in Amsterdam, 1954 in Evanston, 1961 in Neu Delhi, 1968 in Uppsala, 1975 in Nairobi, 1983 in Vancouver, 1991 in Canberra, 1998 in Harare, 2006 in Porto Allegre). Nach seiner auf der Vollversammlung 1961 in Neu Delhi ergänzten Basisformel versteht er sich als „eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Empfehlungen von Nairobi 327). Seine erste Aufgabe sieht der ÖRK gemäß der Formulierung auf der Vollversammlung in Nairobi 1975 darin, „die Kirchen aufzurufen zu dem Ziel der sichtbaren Einheit im einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft, die ihren Ausdruck im Gottesdienst und im gemeinsamen Leben in Christus findet, und auf diese Einheit zuzugehen, damit die Welt glaube“ (ebd.). Dieses Selbstverständnis kennzeichnet zugleich das Verständnis von Ökumene, das der ÖRK vertritt.
Glaube und Kirchenverfassung
Einen entscheidenden Impuls für die weitere Entwicklung der ökumenischen Bewegung setzt die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung bei ihrer Weltkonferenz in Lund 1952, indem sie die Zeit der „bloßen vergleichenden Kirchenkunde“ für beendet erklärt und eine christologisch fundierte Besinnung auf die anzustrebende Einheit der Kirchen fordert. Dies geschieht zum einen auf der ÖRK-Vollversammlung in Neu-Delhi 1961, auf der die konstitutiven Momente der anzustrebenden Einheit der Kirchen bedacht werden, zum anderen durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit den kirchentrennenden Differenzen im Sakraments- und Amtsverständnis, die zu den Konvergenzerklärungen über Taufe, Eucharistie und Amt führen. Sie werden auf der Vollversammlung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung 1982 in Lima verabschiedet und dienen seither als wichtiger Ausgangspunkt und als Orientierungsgröße für viele ökumenische Dialoge und Begegnungen.
Zweites Vatikanisches Konzil
Indem sich die Römisch-Katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 – 1965 der ökumenischen Bewegung öffnet, Beobachter zu den Vollversammlungen des ÖRK entsendet und ab 1968 Vollmitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK wird, gewinnt die ökumenische Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich an Reichweite. Im Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils ,Unitatis redintegratio‘ (UR; in: DH 4185 – 4192) wird mit der Lehre von der Hierarchie der Wahrheiten ein wichtiges Instrument zur Klärung von Lehrdifferenzen benannt und außerdem die Versammlung zum gemeinsamen Gebet um die Einheit ausdrücklich befürwortet. Das Dekret erklärt die Wiederherstellung der Einheit der Christen zu einer Hauptaufgabe (UR 1) und begreift die Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen Gebet für die Einheit der Christen als geistlichen Ökumenismus und als die Seele der ökumenischen Bewegung (UR 8). Daneben nennen UR und die Ökumene-Enzyklika von Papst Johannes Paul II. „Ut unum sint“ (DH 5000 – 5012) als Mittel zur Förderung der Einheit den theologischen Dialog und die praktische Zusammenarbeit. Entsprechend beteiligt sich die Römisch-Katholische Kirche an zahlreichen offiziellen bilateralen Dialogen auf internationaler und nationaler Ebene. Auch auf der Ebene des kirchlichen Lebens sind im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils viele Formen gemeinschaftlichen Miteinanders zwischen Rom und den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen ausgebildet worden. Besondere Bedeutung kommt den ökumenischen Gottesdiensten zu, die regelmäßig in vielen Gemeinden und auch zu besonderen Anlässen gefeiert werden. Ökumenische Themen und Begegnungen sind heute selbstverständlicher Bestandteil der Katholikentage und der Evangelischen Kirchentage. Der erste ökumenische Kirchentag ist 2003 in Berlin gefeiert worden.
Konziliarer Prozess
Neben der Arbeit an den kirchentrennenden Lehrunterschieden, die zwischen den verschiedenen Kirchen heute vornehmlich die Frage nach dem kirchlichen Amt betreffen, und dem liturgischen Bemühen um gemeinsame Formen gottesdienstlicher Feier spielt der nach der ÖRK-Vollversammlung in Vancouver 1983 angestoßene konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung eine wichtige Rolle in der ökumenischen Bewegung. Die weitreichende Übereinstimmung der Kirchen in ethischen Fragen ist dabei insbesondere in Europa und in Nordamerika entscheidend dafür, dass die Stimme der Kirchen in der Politik Gehör findet.
KEK und ACK
Die ökumenische Bewegung lebt aber nicht nur von den multilateralen internationalen Aktivitäten des ÖRK, sondern auch von einer Vielzahl regionaler oder nationaler Gremien und Verbünde. Auf europäischer Ebene spielt die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) eine wichtige Rolle, die unter den Bedingungen des Kalten Krieges zur Unterstützung der Kirchen hinter dem Eisernen Vorhang gegründet worden ist und sich für die Zusammenarbeit und Vernetzung der Kirchen in Europa einsetzt. Wichtig sind darüber hinaus nationale Organisationen wie in Deutschland die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK). Vor allem aber sind in den letzten Jahrzehnten die Ortsgemeinden vielfach entscheidende Träger des ökumenischen Strebens nach gemeinsamem Zeugnis und Dienst im Zusammenwachsen der getrennten Kirchen geworden.
Ziele
Angesichts der vielen ökumenischen Errungenschaften verdient das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Ökumene bezeichnet zu werden. Rückblickend lässt sich zugleich eine Verschiebung in der Gewichtung der ökumenischen Interessen verzeichnen. Während in den Anfängen das Streben nach Einheit dem globalen Ziel der Evangelisierung der Menschheit unterstellt wird, entwickelt sich die Aufgabe der Überwindung kirchentrennender Faktoren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend zum bestimmenden Ziel. Zahlreiche Dialoge zwischen den Kirchen dienen seither dem besseren wechselseitigen Verstehen und der Annäherung in kirchentrennenden Glaubensfragen. Im Zuge dieser Annäherungen unter den Kirchen sind allerdings auch die über Jahrhunderte gewachsenen theologischen, organisatorischen und kulturellen Barrieren zu Bewusstsein gekommen. Diese Barrieren zu überwinden ist eine komplexe Aufgabe, die auf verschiedenen Ebenen zu lösen ist. Neben dem Ausbau kirchlicher Kontakte, die dem Kennenlernen und Austausch der Kirchen in ihren unterschiedlichen kulturellen Kontexten dienen, ist die theologische Erkundung und Reflexion der verbindenden und trennenden kulturellen Prägungen und der Glaubensüberzeugungen ein wichtiger Faktor.