Читать книгу O du fröhliche, o du grausige - Friederike Schmöe - Страница 6

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Schneegriesel trieb über den Parkplatz. Bella lehnte an ihrem Mini und rauchte. Im Bioladen gingen die Lichter aus. Nur noch ihr Wagen stand da und ein E-Auto mit der Aufschrift: »Mittel fürs Leben«. Meine Güte, dachte Bella. Tief inhalierte sie den Rauch. Was für eine Wohltat nach Stunden in dem stickigen Raum voller Knalltüten. Sie war bis zuletzt geblieben, um noch kurz mit dem Arzt zu sprechen. Dr. Wolfram Brandenburg, Impfgegner, kein schlechter Rhetoriker. Ihr sollte es recht sein. Sie war gegen alles geimpft worden, ihre Generation hatte sogar noch eine ordentliche Portion Pockenvakzin verabreicht bekommen. Sie war 50 geworden, ihr Geburtstag vor ein paar Wochen hatte es ihr vor Augen geführt, es hatte geklappt, sie war einfach nicht totzukriegen, Zigaretten und Impfungen hin oder her. Jedenfalls nicht so leicht. Sie steckte Nebenwirkungen genauso weg wie Krankheiten. Gleich im Rachenraum abtöten, die Bakterien, dachte sie, nahm einen letzten Zug. Warf die Kippe weg. Die Glut erlosch zischend in einer Schneepfütze.

Wolters schickte natürlich immer sie zu diesen Terminen. Impfgegner und -befürworter zusammen in einem Bioladen, zwischen Regalen voller schlapper Lauchstangen, Flaschen mit Schwarzkümmelöl und veganen Weihnachtsplätzchen. Was sollte dabei wohl rauskommen? Angekündigt war das Ganze als Infoveranstaltung. Beigewohnt hatte sie einer verbalen Keilerei. Die Impfbefürworter ließen es sich nicht nehmen, eine eigene Abordnung zu schicken. Hier galt es einmal mehr, das Vaterland zu verteidigen. Bella stieg in den Wagen. In ihr machte sich das deutliche Gefühl bemerkbar, dass ihre verbleibende Lebensspanne zu kurz geworden war für Besprechungen, in denen aufgeblasene Egos die Messer wetzten.

Das Licht im Laden ging aus. Wendy Gleichsam, Bioladeneigentümerin, schlüpfte durch die Tür, sperrte sorgfältig ab und hastete durch den Griesel zu ihrem Elektroauto. Bella stöhnte leise, während sie über die beschlagenen Scheiben wischte. Sie kaufte hier ihren Kaffee und wollte das gerne weiterhin tun. Also besser nicht zu bissig über den heutigen Abend schreiben. Ihr Bioeinkaufserlebnis war sowieso kompliziert. Der Bioladen lag in der Neubausiedlung. Die Bewohner aus dem Dorf ließen sich hier nicht blicken und gaben schon gar kein Geld aus, um diesen »verteufelten Kram« zu unterstützen. Bioladen: Das war eine Sache für die Latte-Macchiato-Bewohner der Siedlung, die Neuen, die Zugezogenen, für die, die im Homeoffice arbeiteten. Patchworkfamilien mit der neuesten IT-Technik im Haus. Mit denen traf man nur in der Dorfschule zusammen. Allein das führte schon zu Fehden.

Ich habe keinen Nerv mehr für diesen Quatsch.

Siedlung – neu; Dorf – alt. So lautete das Naturgesetz der Gemeinde Silldorf zwischen Main und Autobahn, in nicht allzu ferner Nachbarschaft der Weltkulturerbestadt Bamberg. Bella und Diethard hatten, als ihre Tochter ein Baby war, hier gebaut. Das war fast 25 Jahre her. Sie waren ins Dorf hineingewachsen, quasi eine organische Bepflanzung desselben. Damals hatte es die Siedlung noch gar nicht gegeben. Mittlerweile herrschte eine Art subtiler Krieg zwischen Siedlung und Dorf, und die Auswirkungen sickerten bereits in die verschworene Dorfgemeinschaft hinein. Nach Jahren des Lebens und Lebenlassens wuchs Unmut und entschieden triviale Fragen, wer noch mit wem grillte und mit wem im »Dorfkrug« anstieß.

Seufzend startete Bella den Motor. Im Dorf würden sie jedes Wort, das sie in der Tageszeitung schrieb, daraufhin abtesten, ob sie vielleicht zu wohlmeinend mit dem Siedlungszeug umging: dem Bioladen, dem Impfgegner. Dr. Brandenburg hatte seine Praxis natürlich in der Siedlung. Seine Patienten kamen nicht aus dem Dorf. Soweit man wusste.

Sie fuhr langsam los. Die Straßen hier waren breiter und heller beleuchtet als im alten Dorf. Man leistete sich modernere Lampen, ganz klar. Hastig arbeiteten die Scheibenwischer gegen die wässrigen Flocken an. In den Fenstern blinkte Weihnachtsschmuck. Manche stellten auch beleuchtete Rehe in ihre Vorgärten. Bella fragte sich, was Weihnachten mit beleuchteten Rehen zu tun hatte.

Am liebsten würde sie gar nichts über den Abend schreiben. Wolters klarlegen, dass nichts von dem, was heute im Bioladen salbadert worden war, für die Allgemeinheit interessant genug wäre, um es in der Zeitung breitzutreten. Ihr Redakteur würde gespielt erstaunt die rechte Augenbraue hochziehen. Es war doch ein Thema. Alle Medien waren voll davon. Solidarische Gesellschaft. Impfpflicht und so. Bella empfand das Wort rein phonetisch schon als Zumutung. Aber wenn sie Wolters gegenüber meckerte, würde er sie auf lange Sicht erst recht in die Hausfrauenecke abschieben, Sparte »Rezept des Tages«. Diese Drohung geisterte bei jedem Telefonat mit Wolters durch die Leitung und blähte sich jedes Mal zum Monstrum auf, wenn sie als feste Freie nicht bei jedem Anruf aus der Redaktion Gewehr bei Fuß stand. Dabei hatte sie eine Familie zu versorgen. Den Mann, den Vater. Dazu ein Haus. Sie musste für Melanie bereitstehen, falls die ihre alte Mutter mal brauchte. Und jetzt schien auch noch Rolf bei ihr unterkriechen zu wollen. Beim Gedanken an ihren Bruder spürte sie die heftige Sehnsucht nach einem Bier. Nein, besser nach etwas Härterem.

Sie hatte Rolfs Anruf vor ein paar Tagen nicht ernst genommen. Doch das Schicksal würde sie ereilen, Bruderherz stand in den Startlöchern, sich einmal mehr bei ihr auszuheulen. Diesmal war ihm Ehefrau Nummer zwei abhandengekommen. Sie war von einem anderen schwanger. So was kam vor, aber für Rolf brach die Welt zusammen. Jennifer war 20 Jahre jünger als er und wollte ein Kind. Rolf wollte nicht. Also hatte sie Gegenmaßnahmen ergriffen. Und Rolf? Ihr Bruder, vier Jahre älter als Bella, wusste immer noch keinen anderen Rat, als bei seiner Schwester um Unterschlupf zu flehen. Sich die ramponierte Seele streicheln zu lassen. So wie früher. Als die kleine Schwester der einzige Rettungsanker gewesen war.

Bella schnaubte. Sie bog in den Flurbereinigungsweg, die inoffizielle Verkehrsverbindung zwischen Siedlung und Dorf. Offiziell war sie nur für Nutzfahrzeuge frei, die Einheimischen machten jedoch ausführlich von ihr Gebrauch. Zwei weitläufige Äcker trennten die beiden Wohngebiete, genannt »die Narbe«. Im Sommer wuchs hier Mais für die Biogasanlage der Siedlung. Jetzt im Winter machte die schwere, dunkle, von einer dünnen, halb gefrorenen Schneekruste bedeckte Erde ihrem Namen alle Ehre. Wulstig und hässlich präsentierte sich die »Narbe« im Licht der Scheinwerfer. Bella fragte sich, ob der Grund in nicht allzu ferner Zukunft auch noch als Baugebiet ausgewiesen würde, die Siedlung mithin noch näher an das Dorf heranrücken würde. Das gäbe unter Garantie Hauen und Stechen!

Ich habe das Ganze echt satt. Total satt.

Grantig wischte sie mit der Hand den Beschlag von der Windschutzscheibe. Die Lüftung arbeitete auf Hochtouren. Sie stellte das Radio an, 22-Uhr-Nachrichten.

Verdammt, sie hatte jetzt keinen Nerv für die Grässlichkeiten der Welt. In ihrer eigenen Umgebung gab es genug aufgeblähte Egos.

Eine Windbö knallte von der Seite gegen den Mini. Nicht mehr viel und ich hebe ab, dachte Bella missmutig. Sie nahm Gas weg und spähte angestrengt auf den Acker. Was um Himmels willen lag da? Hatte da einer Feuerholz verloren? Drei Meter neben der Straße? Sie trat auf die Bremse.

Fuck.

Bella würgte den Motor ab, sprang aus dem Auto, rannte. Schnee peitschte ihr ins Gesicht.

»Hallo? Hören Sie mich? Hallo?«

Am Rand der Scheinwerferkegel sah sie ein wachsweißes Gesicht voller dunkler Flecken, umrahmt von nassem dunklen Haar. Blut an der Schläfe. Blut im Schnee darunter. Schneegriesel auf der Kleidung. Der eine Arm seltsam verdreht, die Beine wie locker untergeschlagen.

Ich glaub das jetzt nicht.

»Hallo?« Bella hockte sich hin, tastete am Hals der jungen Frau nach dem Puls. War da was? Unmöglich festzustellen, vielleicht ja, vielleicht nein.

Die Andeutung eines Stöhnens entrang sich der Kehle der Frau.

»Scheiße!«, schrie Bella in die Dunkelheit. »Hören Sie, halten Sie durch, ich rufe den Notarzt.« Sie rannte zum Auto, riss ihr Handy aus der Mittelkonsole. Setzte den Notruf ab und schnappte dann eine Decke vom Rücksitz. Breitete sie über der Frau aus. Ihr Herz jagte. Das passierte jetzt ständig. Ein sekundenlanges hektisches Pumpern, dann war es vorbei. Bella starrte auf ihre zitternden Hände, bevor sie die eine kalte der Frau ergriff.

»Sie sterben jetzt nicht, kapiert? Das geht einfach nicht. Bald ist Weihnachten. Da wird nicht gestorben.«

Wieder ein Stöhnen. Der auffällige Schal stach ins Auge: rot mit bunten Punkten.

Zu lustig für das hier.

»So ist es brav. Gleich kommt ein Rettungswagen.«

Bella hielt die Hand der Frau, deren Gesicht ihr leidlich bekannt vorkam und dann doch wieder nicht. Wie konnte man jemanden wiedererkennen, der in einer Dezembernacht sterbend neben dem Flurbereinigungsweg zwischen zwei Äckern lag? Ganz am Rand der Lichtkegel glaubte sie, etwas Dunkles vorbeiflitzen zu sehen. Nur ein Zucken. Ein Tier?

Halte durch, Mädchen, betete Bella, Gott, wenn es dich gibt, tu was.

Als vom Dorf her Blaulicht durch die Nacht geisterte, keuchte die Frau einmal tief auf. Danach war es still, seltsam still, als hätte sich auch der Wind zurückgezogen.

O du fröhliche, o du grausige

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