Читать книгу Das magische Tor im Kaukasus - Friedhelm Schneidewind - Страница 10

Sechstes Kapitel Überraschende Begegnungen

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Der Prinz wartete, bis wir unsere Sachen aufgehoben hatten, dann ging er so schnellen Schrittes voran, dass wir keine Gelegenheit hatten, mit ihm zu sprechen. Wir verließen das Museum auf demselben Weg, auf dem wir es betreten hatten, gingen um das Palais herum und zum höheren Teil des Bauwerks auf ein schön geschnitztes Holztor zu, neben dem steif zwei Wachleute in Uniform mit Gewehren und Säbel standen. Als wir uns näherten, salutierten sie zackig und einer riss den linken Flügel des Tors auf, sodass wir hindurchtreten konnten. Prinz Dadian nickte ihm freundlich zu, dann führte er uns in einen schattigen Innenhof, in dem unter einer weit ausladenden Linde um einen mittelalterlichen Steintisch mehrere Stühle standen. „Bitte, nehmen Sie doch Platz!“, lud er uns ein, wartete, bis wir uns gesetzt hatten, und ließ sich dann auch nieder. Sogleich kamen mehrere Bedienstete, Männer und Frauen in Tracht, die auf den Tisch verschiedene Erfrischungen, Gläser, einen Wein- und einen Wasserkrug stellten.

Unser Gastgeber wartete, bis die dienstbaren Geister alles aufgebaut, unsere Gläser nach Wunsch gefüllt – nur Sofie und ich ließen uns Wein einschenken – und sich zurückgezogen hatten, dann hob er sein Glas und prostete uns zu.

„Gaumardschoss – oder, wenn es Ihnen lieber ist, sa sdorowje oder cheers oder auch prosit! Und nun lassen Sie uns zunächst die wichtigsten Fragen auf beiden Seiten klären, ehe wir uns unseren Gefangenen zuwenden und danach angenehmeren Dingen. Was führt Sie in unser schönes Land, dass Sie den Zorn der vier Attentäter auf sich gezogen haben?“

Auch wenn die Worte freundlich klangen, erkannte ich in den grauen Augen des jungen Offiziers Misstrauen und Zurückhaltung. Dieser Mann war klug und umsichtig und zugleich entschlossen im Handeln, wie sein Vorgehen im Museum bewiesen hatte. Und er war vorsichtig: Ein schneller Blick hatte mir gezeigt, dass an jedem Eingang, der vom Innenhof aus ins Gebäude führte, ein Soldat Wache stand. Das Tor, das nach außen führte, war wieder verschlossen, und ich hatte nicht vergessen, dass draußen zwei Posten standen. So freundlich der Prinz und so formlos diese Einladung war: Dies war ein Verhör, das schnell in eine Gefangenschaft münden konnte.

Ich stellte mein Glas ab und antwortete:

„Wir geben Ihnen gerne Auskunft und hoffen auch, dass Sie uns helfen können, die Vorgänge zu verstehen. Doch seien Sie bitte so freundlich, uns zunächst aufzuklären, in welcher Funktion Sie uns gerettet und nun so freundlich eingeladen haben.“

Der junge Mann griff nach einer Weintraube, rollte sie genüsslich im Mund umher, ehe er sie zerbiss und schluckte, nickte dann und setzte sich betont aufrecht hin.

„Ich bin Fürst Andria Dadiani, jüngerer Sohn des verstorbenen Fürsten von Mingrelien David Dadiani und der Fürstin Ekaterina. Mein Bruder Nikolaus war bis zu seiner Abdankung 1857 Herrscher dieses Fürstentums und ist nun Flügeladjutant von Zar Alexander II. Ich diene als Generalleutnant in der russischen Armee und bin dort bekannt als Andrej Dawidowitsch Dadian-Mingrelski. Genügt das fürs Erste?“

Ich nickte und fragte:

„Ich habe von einem Prinzen Dadian von Mingrelien gehört, der ein Mäzen des Schachspiels und ein sehr starker Amateurspieler sein soll. Sind Sie das?“

Des Prinzen Blick wurde freundlicher.

„Ja, ich trete manchmal bei Turnieren an, noch lieber aber fördere ich Schachveranstaltungen. Doch seien Sie so freundlich, sich nun vorzustellen.“

Ich begann bei Ann, natürlich mit vollem Titel und Namen, was dem Fürsten ein freundliches Nicken entlockte, und führte gleich aus, weswegen sie nach Georgien gekommen war, was unserem Gastgeber zu gefallen schien. Als er von Sofies Vorhaben hörte, hoben sich seine Augenbrauen und er schien ein Schmunzeln zu unterdrücken und etwas sagen zu wollen, doch beherrschte er sich. Zu unserem Vorhaben äußerte ich mich nur sehr vorsichtig.

„Mein guter Freund Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah, Scheik eines arabischen Beduinenstamms, und ich sind Abenteurer, die gerne fremde Länder kennenlernen. Wir begleiten Lady Ann und ihre Freundin als Unterstützer und weil wir neugierig sind, wie es sich in der höchsten dauerhaft bewohnten Siedlung Europas lebt. Außerdem hoffen wir auf vielleicht die eine oder andere interessante Begegnung mit Wild und Raubtieren. Mein Name ist …“

Ich kam nicht dazu, ihn zu äußern, denn der Fürst sprang auf und fiel mir ins Wort.

„Ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Ihre Bücher gelesen, während ich in Heidelberg studiert und promoviert habe. Wenn Sie Ihre Gewehre dabei gehabt hätten, hätte ich Sie gleich erkannt.“ Er beruhigte sich wieder und wandte sich an Halef. „Ihr Name hat mir verraten, wer Ihr Freund sein muss. Sie sind schließlich einer der Helden in den Romanen, in denen er vom Orient schreibt.“

Ann und Sofie wechselten einen Blick und schmunzelten, sie mussten sicher wie ich an unser Gespräch über die Bekanntheit des Hadschi denken, der plötzlich sehr viel gerader in seinem Stuhl saß.

Dadiani setzte sich wieder, schenkte Sofie und mir Wein nach, dann sagte er:

„Nun sind natürlich alle Zweifel an Ihren Absichten beseitigt, Sie sind mir ausgesprochen willkommen. Ich lade Sie herzlichst ein, morgen zum Mittagsmahl meine Gäste zu sein, ich erwarte ganz besonderen Besuch, der auch Sie erfreuen wird, und für die junge Dame“ – er nickte Sofie zu – „habe ich sogar eine besondere Überraschung. Nun aber lassen Sie uns, wenn wir ausgetrunken haben, unsere Gefangenen verhören.“

Im zweiten Stock standen vor einer Tür zwei Soldaten, die salutierten und dann die Tür aufschlossen.

Wir betraten eine Art Beratungszimmer; um einen ovalen Tisch aus dunklem Holz standen sechs Holzstühle mit hohen Lehnen, diese und die Sitzflächen jeweils mit dunklem Leder bezogen. Die vier Männer saßen auf einer Seite des Raums auf ebensolchen Stühlen, jeweils an die Lehnen mit einem Lederriemen um die Brust gefesselt. Außerdem hatte man ihre Beine an die Stuhlbeine gebunden, die Arme hatte man frei gelassen. Es bestand aber keine Gefahr, dass sie sich befreien konnten: Hinter jedem Stuhl stand ein Soldat. Dadiani befahl den Wächtern mit einem Wink, uns allein zu lassen, diese schlossen von außen die Tür.

Während der Fürst an den Tisch trat und die Papiere untersuchte, die dort abgelegt waren, nutzte ich die Gelegenheit, die vier Gefangenen genauer anzuschauen. Sie waren gleich gekleidet: Hosen aus schwarz gefärbtem Segeltuch mit breiten, schwarzen, nietenbesetzten Ledergürteln, Hemden aus ebensolchem Stoff, schwarze Halstücher und schwarze Lederwesten. Die Masken hatte man ihnen abgenommen, ich blickte in vier sehr ähnliche Gesichter: hart, mit leicht gebräuntem Teint, scharfen Gesichtszügen, die dunklen Haare militärisch kurz geschnitten. Einer hatte einen Verband um ein Knie. Soldaten, dachte ich unwillkürlich, oder zumindest waren sie früher beim Militär.

Als habe er meine Gedanken gelesen, bestätigte Dadiani in russischer Sprache:

„Ehemalige Offiziere der russischen Armee, und das in einem Eliteregiment, und obendrein vor einem Jahr ehrenhaft entlassen. Was treibt Männer wie Sie dazu, meine Herren, unschuldige Reisende zu überfallen?“ Er zog einen Stuhl heran, setzte sich umgekehrt darauf, das Kinn auf die hohe Lehne gestützt, und sagte: „Sie werden es mir verraten, und das wissen Sie auch. Früher oder später reden alle.“

Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was er damit andeuten wollte; das Zarenreich war nicht gerade für seine sanften Verhörmethoden bekannt. Ich nahm mir ebenfalls einen Stuhl und setzte mich, wenn auch richtig herum, und sagte zum Prinzen, während meine Gefährten meinem Beispiel folgten, ebenfalls auf Russisch:

„Zumindest einer kann Englisch; vielleicht können wir das Verhör in dieser Sprache führen, damit meine Freunde alles mitbekommen. Und er“ – ich wies auf den Anführer, den ich an seiner Größe erkannte – „sprach von einem Auftraggeber, für den sie herausfinden sollten, ob wir ihm Ärger machen würden.“

Dadiani folgte meiner Bitte und wechselte die Sprache, in der ihm alle vier antworten konnten, wenn auch zum Teil gebrochen. Doch so sehr er auch die vier Männer drängte, mal drohend, mal verführerisch, mal mit Versprechungen, sie antworteten zwar, doch konnte er ihnen nicht mehr entlocken, als dass sie schriftlich den Auftrag erhalten hätten, uns zu überfallen. Das Schreiben hätten sie natürlich vernichtet. Und nein, ihren Auftraggeber kannten sie nicht. Als ehemalige Offiziere müssten sie die geringe Rente, die ihnen der Staat zahle, eben ab und zu aufbessern; sie würden aber niemals jemanden töten, wenn es sich vermeiden ließe, und nur Aufträge annehmen, bei denen es gegen Ausländer ginge.

Das ließ den mingrelischen Fürsten wütend werden.

„Ausländer!“, fauchte er und wedelte den vier Männern mit ihren russischen Pässen vor den Gesichtern herum. „Sie kommen aus Nischni Nowgorod, der wichtigsten Handelsstadt des Russischen Reiches, in der mehr Ausländer als Russen verkehren, und wollen uns weismachen, Sie hätten etwas gegen Ausländer? Und das mir, einem Fürsten der Georgier, die noch vor 100 Jahren nicht zu Russland gehörten? Für wie dumm halten Sie uns?“ Er war aufgesprungen und hatte sich, ob in echter Erregung oder gut gespielt, in Rage geredet.

„Prinz Dadiani“, unterbrach ihn Sofie, die die Männer die ganze Zeit sehr genau beobachtet hatte, „ich glaube, sie haben etwas in ihren Westen eingenäht.“

Später erklärte sie uns, dass ihr aufgefallen sei, dass immer, wenn der Fürst besonders bedrohlich agiert habe, einer der vier am unteren Saum seiner schwarzen Lederweste herumgefummelt hatte.

Dadiani zögerte nicht lange. Er zog aus einer schmalen Scheide ein langes Messer mit sehr schmaler Klinge, das offensichtlich rasiermesserscharf war, denn es kostete ihn nur eine Bewegung, und er hatte den Saum aufgeschnitten.

„Da schau her“, meinte er, nickte Sofie anerkennend zu und zeigte uns eine ovale Metallscheibe. Er drehte sie mehrfach in der Hand, dann legte er sie auf den Tisch, sodass wir sie alle gut sehen konnten. Wahrscheinlich aus Messing gefertigt, maß das Oval etwa acht mal vier Zentimeter. In einer verschnörkelten weißen Schrift auf schwarzem Grund war am äußeren Rand eingraviert: „Pinkerton’s National Detective Agency“, die ersten zwei Worte am oberen Rand, die anderen unten. Der Längsstrich des P war nach unten gezogen und verband beides. In der Mitte war ein stilisiertes schwarzes Auge mit einer dicken Braue zu sehen, darunter stand: „WE NEVER SLEEP“.

Ich atmete tief ein.

„Das wird ja immer geheimnisvoller“, sagte ich zu niemandem Bestimmten.

Der Fürst nickte. „Vor allem, wenn man die Rückseite betrachtet.“

Ich drehte die Scheibe um, konnte aber die eingravierte Schrift nicht lesen. Fragend schaute ich unseren Gastgeber an.

„Kyrillisch“, meinte der, „und das auch noch in einer altmodischen Schriftart. Da steht auf Russisch: Sonderagent der Pinkerton Detektiv-Agentur, Boston, USA.“

Wir alle drehten uns zu den vier Gefangenen um, deren Gesichter jetzt einen leicht resignierten Gesichtsausdruck angenommen hatten. Wir setzten uns wieder.

„Nun haben Sie uns doch entlarvt“, sagte der Anführer mit einem Seufzen. „Wir hätten das niemals verraten, aber die junge Dame“ – er wies mit dem Kinn auf Sofie – „ist einfach zu clever. Ja, wir sind russische Agenten im Dienst der amerikanischen Agentur Pinkerton, spezialisiert auf Einsätze im russischen Reich. Es gibt eine ganze Menge von uns, und wir sind keineswegs dazu da, dem Zaren oder seinem Reich zu schaden. Wir vertreten nur die Interessen der USA oder einzelner amerikanischer Bürger.“

Halef konnte nicht an sich halten.

„Benutzen Sie auch so lustige Namen wie Brown, Black and White?“

Der Fürst schaute ebenso irritiert wie unsere Gefangenen, wies dann auf die Pässe und meinte:

„Nein, die haben ganz anständige russische Namen.“

„Aber Sie wissen schon, von wem wir reden?“, fragte nun Ann den Wortführer der Attentäter.

Dieser seufzte:

„Natürlich. Sie haben sich ja schon mit denen angelegt. Brown ist stinkwütend auf Mister Nemsi. Und es ist wohl offensichtlich, dass die drei auch für Pinkerton arbeiten, da verrate ich kein Geheimnis.“

„Aber was eigentlich Ihr Auftrag ist, das könnten Sie uns jetzt verraten“, schaltete ich mich ein.

Die Blicke des großen Mannes wanderten zu Dadiani, dann sagte er:

„Wir könnten uns einen Deal vorstellen. Wir sagen Ihnen alles, was wir wissen, wenn Sie uns freilassen.“

Der Fürst schnaubte durch die Nase.

„Damit Sie postwendend zu Ihren Komplizen eilen und meinen Gästen eine Falle stellen? Das kommt nicht in Frage.“

„Sie können uns aber nicht einfach hierbehalten oder einsperren“, entgegnete der Pinkerton-Mann. „Das gäbe eine diplomatische Konfrontation mit den Vereinigten Staaten. Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass Allan Pinkerton viele Freunde im Kongress hat und auch von Präsident Hayes unterstützt wird.“

„Nun“, lächelte Dadiani, „dazu müsste man erst einmal von Ihnen wissen. Die Kerker des Russischen Reiches sind fast so tief und unergründlich wie seine Seen. Aber ich bin kein Unmensch, und zudem könnten natürlich Ihre so fantasievoll benannten amerikanischen Freunde Ärger machen. Ich mache Ihnen ein Angebot: Sie werden des Reiches verwiesen – damit meine ich das ganze russische Reich –, und ich spendiere Ihnen eine Überfahrt in die USA. Dafür sagen Sie uns alles, was Sie wissen.“

Die vier schauten sich an, dann nickte einer nach dem anderen, und ihr Anführer sagte:

„Einverstanden. Die Detektei Pinkerton ist vor einem halben Jahr von einem reichen US-Amerikaner beauftragt worden, die verschiedenen Wege nach Swanetien zu überwachen. Wir wissen nicht, wer der Auftraggeber ist, den kennt nur Allan Pinkerton persönlich. Wir wissen auch nicht, worum es genau geht. Der Auftraggeber will wohl, so viel hat man uns gesagt, mögliche Konkurrenten ausschalten, weil er im Kaukasus, weit oben in den Bergen von Swanetien, ein großes Geschäft plant und verhindern will, dass ihm jemand zuvorkommt. Deshalb haben unsere Kollegen die Häfen und Bahnhöfe am Schwarzen Meer beobachtet. Auf Ihre beiden Freunde sind sie wegen deren orientalischer Kleidung aufmerksam geworden, weil man uns gewarnt hat, arabische Scheichs könnten sich im Kaukasus engagieren und unserem Auftraggeber Konkurrenz machen. Es gibt natürlich noch eine Menge von uns, ein paar amerikanische und zahlreiche russische Agenten, der Auftraggeber hat sich nicht lumpen lassen, und Pinkerton hat sein gesamtes russisches Agentennetz auf diesen Auftrag angesetzt.“

Spontan schauten wir vier Reisenden uns an. Wir waren gewarnt!

Es war inzwischen früher Abend geworden; der Fürst meinte, er bringe uns noch vor das Tor, seine Leute kümmerten sich inzwischen um die vier Attentäter. Auf dem Gang durchs Erdgeschoss wiederholte er eindringlich seine Einladung für das Mittagessen am nächsten Tag. Plötzlich blieb ich stehen, Sofie im selben Moment ebenso. Aus einem Zimmer drang Musik: Klavierspiel, dazu Gesang, eine Frauenstimme, umspielt von einer Violine. Das alleine hätte mich nicht anhalten lassen, aber erstens erkannte ich die Stimme wieder, auch wenn ich sie in Poti nur deklamieren gehört hatte, und zweitens war dies ein berühmtes deutsches Lied! Unwillkürlich stimmte ich in die nächste Strophe mit ein:

„Die Steine selbst, so schwer sie sind …“

Halef stieß mir den Ellbogen in die Rippen, ich hielt mit Singen inne – und gleichzeitig endete die Musik in dem Zimmer. Ich sah, wie alle anderen schmunzelten.

„Nun kann ich Sie einem Teil meiner Gäste auch gleich vorstellen“, meinte der Fürst, klopfte an die Tür und öffnete sie im nächsten Moment.

In einem Salon, der nahezu ein Spiegelbild dessen war, in dem wir noch vor wenigen Stunden gekämpft hatten, saß an einem Salonflügel, der hier anstelle des Cembalos stand, ein knapp dreißigjähriger Mann in einem europäischen braunen Anzug, statt eines Langbinders trug er um den Hals eine bunt gemusterte Schleife. Er hatte kurzes braunes Haar, das schon weit aus der Stirn zurückgewichen war, und einen fein gestutzten Bart. Vor ihm stand auf dem Notenpult des Flügels eine Ausgabe von Schuberts Die schöne Müllerin. Neben dem Flügel, die linke Hand ganz in der Pose einer professionellen Sängerin auf den geschlossenen Deckel gelegt, stand eine hübsche junge Dame, etwa Mitte dreißig, ihr langes dunkles Haar zu einem Knoten geschlungen, in einer Mischung aus georgischer Tracht und europäischer Kleidung: Zu einem bodenlangen buntgemusterten Wollrock trug sie eine weiße Spitzenbluse, darüber eine braune Wollweste mit langer Knopfleiste. Beide schauten uns erstaunt an.

Bevor der Fürst etwas sagen konnte, drängte sich Sofie an uns vorbei und rannte auf die dritte Person im Raum zu, einen Mann, der hinter dem Flügel stand und gerade eine Geige vom Kinn nahm.

„Onkel Johann!“, rief sie; gerade rechtzeitig legte er das Instrument auf den Flügel und breitete die Arme aus, ehe sie ihm die ihren um den Hals und sich ihm an die Brust warf.

Der Fürst räusperte sich. Sofie ließ von ihrem Bekannten ab und drehte sich verlegen um, ganz rot im Gesicht.

„Entschuldigung“, murmelte sie mit gesenktem Blick.

Der Fürst lachte kurz auf.

„Da ist mir die angekündigte Überraschung ja schon einen Tag früher gelungen, als ich es vorhatte.“ Er trat einen Schritt vor. „Gestatten, dass ich Sie alle vorstelle. Und wir bleiben wohl bei Englisch, da dies alle hier im Raum beherrschen, obwohl sich die meisten auch auf Französisch und einige auf Deutsch unterhalten könnten.“

Der Prinz deutete eine Verbeugung vor der Dame an.

„Bertha von Suttner ist eine langjährige Freundin und ein geschätzter Gast meiner Mutter, gemeinsam mit ihrem lieben Mann Arthur Gundaccar von Suttner, beide kommen aus Österreich. Sie sind seit ihrer Heirat im letzten Sommer unsere Gäste und leben derzeit in Gordi bei meiner Schwester Salome und deren Mann Achille Murat, der diesen Palast gebaut hat. Neben ihnen sehen Sie Johann Friedrich Hartmann, Kanadier amerikanisch-deutscher Herkunft, seit fünf Jahren Sprach- und Musiklehrer bei den Deutschen in Katharinenfeld und für mich manchmal unterwegs als Scout und Pelzjäger.“

Ich nutzte die Gelegenheit, ‚Onkel Johann‘ etwas genauer zu betrachten. Er war ganz in Leder gekleidet, wohl gut sechzig Jahre alt, mittelgroß, mit schulterlangen braunen Haaren und kurz gestutztem Bart. Dass er noch als Jäger in den Bergen unterwegs sein sollte, überraschte mich, denn er trug nicht nur ein anständiges rundes Wohlstandsbäuchlein vor sich her, sondern auch eine Brille. Aber wahrscheinlich täuschte dieses gemütliche Aussehen, ich kannte schließlich manchen Westmann, der rundlich und doch ein guter Trapper war.

Der Fürst hatte inzwischen mit der Vorstellung weitergemacht und nannte nach Ann, Sofie und Halef mich gerade als Letzten:

„… Abenteurer, Reisender und Schriftsteller aus Deutschland, von dem ich bereits einige Bücher gelesen habe. Meine werte Bertha, mein lieber Arthur, ich freue mich auf Ihre Konversation unter Kollegen!“

Dadiani sah meinen fragenden Blick.

„Herr von Suttner schreibt für verschiedene Zeitungen in Österreich und Wochenblätter in Deutschland und seit Kurzem auch als Kriegsberichterstatter für die Neue Freie Presse in Wien. Und Frau von Suttner ist mit Kurzgeschichten und Essays erfolgreich.“

Nun bat der Fürst uns, sich zu setzen, und ließ ein paar Getränke und Erfrischungen bringen. Zwar wäre ich lieber gleich ins Gasthaus zurückgekehrt, um mich über das Erlebte mit meinen Freunden auszutauschen und die nächsten Tage zu planen, doch war ich einverstanden, noch ein paar Minuten zu bleiben. Sofie belegte nämlich Hartmann sofort mit Beschlag, die beiden waren schnell in ein vertrautes Gespräch vertieft. Ann unterhielt sich mit Bertha von Suttner auf Französisch und ließ sich erzählen, wie diese als junge Gräfin 1864 in einem Heilbad im Taunus die damals im Exil lebende Fürstin Dadiani kennengelernt hatte und sofort von ihr begeistert gewesen war.

„Sie ist die imposanteste Frauenerscheinung, die ich je gekannt habe, das Bild einer Königin: jede Bewegung, Gang, Haltung, ihr Lächeln, ihr Benehmen, alles voll anmutiger Majestät.“ Berthas Stimme war vor Erregung und Begeisterung um einige Tonstufen gestiegen, nun beruhigte sie sich wieder. „Sie lebte damals in Petersburg und in Paris, wo wir uns oft getroffen haben. Sie ist mir eine mütterliche Freundin geworden, die uns nun, da die Familie meines Mannes unsere Verbindung ablehnt und ihn enterbt hat, aufgenommen hat und unterstützt.“

Halef und ich wurden inzwischen von unserem Gastgeber mit Jagdanekdoten unterhalten, in denen er sich als begeisterter Waidmann zeigte. Er berichtete gerade von einer Jagd auf einen Wisentbullen in den swanetischen Bergen, als uns ein Schuss draußen aufschrecken ließ. Halef und ich waren sofort auf den Beinen und stürzten zum Fenster. Vor dem Gebäude rang der Anführer der Pinkertons mit einem Soldaten um eine Pistole. Halef riss das bodenhohe Fenster auf und zog seinen Revolver, traute sich aber nicht zu schießen, da die beiden Männer sich zu schnell bewegten, um sicher den Entflohenen zu treffen.

Da wir uns im Erdgeschoss befanden, war es nur etwa ein Meter bis zum Boden draußen; ich sprang ohne zu zögern aus dem Fenster und rannte auf die Kämpfenden zu. Der Pinkerton-Agent schlug in dem Moment den Soldaten nieder und rannte auf die Stadt zu, ich hinterher. „Sihdi“, hörte ich Halefs Stimme, „zur Seite! Du bist mir im Schussfeld!“ Doch da hatte der Verfolgte bereits die Straße erreicht, schlug einen Haken und verschwand in einer Seitengasse.

Ich setzte ihm nach und versuchte, ihn in dem verwinkelten Gewirr der kleinen Gässchen nicht aus den Augen zu verlieren. Er war ein guter Läufer, es hatte keinen Zweck, zu versuchen, ihn in einem Sprint einzuholen. Doch war ich überzeugt, ihm auf die Dauer überlegen zu sei, und mit meinen beiden Revolvern, meinem treuen Bowiemesser und meinen Fäusten musste ich vor ihm, der nur mit der Pistole des Soldaten bewaffnet war, keine Angst haben. Vorausgesetzt, es gelang ihm nicht, mich in einen Hinterhalt zu locken. Da ich ihn aber die ganze Zeit, wenn auch mit Unterbrechungen, vor mir sah, schien mir diese Gefahr gering.

Wir bewegten uns in einem schnellen Trab durch die Gassen, eine Geschwindigkeit, die geübte Läufer sehr lange durchhalten können. Auf den Straßen war um diese Tageszeit wenig los; die meisten Einwohner bereiteten wohl ihr Abendessen vor. Ich bemerkte, dass wir uns Richtung Gasthaus bewegten, und hatte einen Verdacht. Und richtig: Kurz vorher erhöhte der Pinkerton-Mann plötzlich sein Tempo und verschwand in einer Gasse, die, wie ich vermutete, von hinten an den Gasthof führte. Ich näherte mich der Ecke langsam und mit Bedacht, denn hier war durchaus ein Hinterhalt möglich. Als ich vorsichtig und geduckt um eine Hausecke spähte, sah ich den Schwarzgekleideten gerade in einem kleinen Türchen verschwinden, das wohl ein Eingang in den Keller war.

Ich rannte zu der Tür; zu dieser führten drei Stufen hinab. Sie war verschlossen! Sollte ich um das Haus herumrennen und vorne durch den Haupteingang eintreten? Nein, dazu war keine Zeit, auch wollte ich kein Aufsehen erregen. Ich spähte durch den Spalt zwischen Tür und Mauer und sah, dass innen ein Riegel vorgelegt war. Ich hoffte, dass es keiner war, der in einen Metallbeschlag als Gegenstück geschoben wurde, sondern die einfachere Variante, bei der der Riegel nur herunterfiel. Ich würde es gleich wissen. Das Bowiemesser war für solche Operationen zu dick und klobig, aber ich hatte wie immer ein Federmesser mit schmaler Klinge dabei. Das schob ich nun in den Spalt unter den Riegel und versuchte, ihn nach oben zu drücken; es gelang.

Ich schob die Tür auf und sah mich in einem dunklen kleinen Kellerraum; im durch die Tür fallenden Tageslicht erblickte ich eine Treppe, die nach oben führte. Ich stieg sie schnell, aber leise empor, öffnete die Tür am oberen Ende und fand mich in einen Gang, von dem eine weitere Treppe ausging, wohl nach oben ins Hinterhaus, zu den Zimmern der Bediensteten. Ich schlich hinauf in den nächsten Flur, von dem vier Türen ausgingen. Hinter einer hörte ich Stimmen. Ich näherte mich leise und legte das Ohr an die Tür.

„Du musst Brown alles erzählen. Er muss gewarnt werden“, hörte ich den Anführer der Agenten auf Russisch sagen.

Ich zog einen Revolver, stieß die Tür auf und rief:

„Daraus wird nichts mehr! Hände hoch!“

An einem Tisch saß mir gegenüber der Pinkerton-Mann, neben ihm einer der Bediensteten, die ich gestern beim Essen gesehen hatte. Nun war mir klar, wieso die Attentäter von unserem Museumsbesuch gewusst hatten; er musste unser Tischgespräch belauscht haben. Der Agent griff blitzschnell nach der Pistole, die vor ihm auf dem Tisch lag, und richtete sie auf mich. Ich war auf so etwas gefasst gewesen; bevor er abdrücken konnte, hatte meine Kugel sein Handgelenk zerschmettert. Er stieß einen lauten Schrei aus, ließ die Waffe fallen und hielt sich wimmernd das rechte Handgelenk mit seiner Linken.

Inzwischen hatte sich der zweite Mann hinter den Tisch fallen lassen. Gedeckt durch seinen Komplizen schwang er sich nun aus dem Fenster, ich hörte von unten einen dumpfen Aufprall. Ich rannte zum Fenster und sah den Geflohenen hinter einer Hausecke verschwinden. Hier war nichts mehr zu machen, er war uns entkommen.

Resigniert wandte ich mich zu dem Verletzten um. Er war inzwischen ruhig geworden und starrte mich hasserfüllt aus starren Augen an.

„Das wirst du mir büßen!“, presste er zwischen den Zähnen auf Russisch hervor. „Dafür bringe ich dich um, Mann!“

Ich nahm ihm ungerührt das Halstuch ab und verband das verletzte Handgelenk. Dann riss ich ihn vom Stuhl hoch und schnürte dem Stehenden die Arme mit einem Lederriemen auf dem Rücken zusammen. Schnell untersuchte ich ihn, fand aber nichts außer einem kleinen braunen Holzoval in seiner Westentasche. Ich wollte es schon wieder zurückstecken, als mir auffiel, wie sich mein Gefangener anspannte, als ich es es entdeckte. Deshalb steckte ich es ein, um es später zu untersuchen. Ich schob die Pistole in meinen Gürtel und zeigte mit dem Revolver auf die Tür.

„Wir marschieren jetzt gemütlich zum Palast zurück!“, forderte ich ihn auf. „Nach Ihnen!“

Er fluchte lang und ausdauernd, dann setzte er sich in Bewegung. Wir stiegen ins Erdgeschoss hinab, dort wies ich auf die Tür, die von hier nach außen führte.

„Wir nehmen den Hinterausgang.“

Als er auf die Straße trat, stockte er, ich stieß ihn nach vorne, trat hinter ihm aus dem Haus – und sah, weshalb er stehengeblieben war. Vor uns standen zwei uniformierte Polizisten, ihre Pistolen auf uns gerichtet.

„Stop! Stoj!“, rief einer, und dann etwas, was ich nicht verstand. Ich zuckte also nur die Schultern. „Die Waffe runter!“, rief er nun auf Russisch.

Ich schaute mich um, dann ließ ich langsam den Revolver sinken. Widerstand hatte hier keinen Zweck. Ich steckte die Waffe ins Holster und hob die Hände.

Die beiden Polizisten traten näher und fragten nach unseren Namen. Ich stellte mich vor, und nun erfuhr ich auch, wie der Russe hieß, den ich mir zum Todfeind gemacht hatte – vorausgesetzt, er nannte seinen richtigen Namen, woran ich allerdings kaum zweifelte, weil Fürst Dadiani ja seinen Pass hatte. Den Namen Josef Leo Orinschow würde ich mir merken müssen.

Die Polizisten banden weder Orinschow los, noch wollten sie meine Waffen; sie forderten uns nur auf, sie zum Polizeirevier zu begleiten, dort würde man alles klären. Ich wusste noch von unserem Gespäch mit dem Wirt, dass die Wache nicht weit von hier war, sie lag wie das Gasthaus auf der Rustaweli. Deshalb wohl waren die beiden auch so schnell hier gewesen.

Als wir diese Straße betraten und an der Vorderfornt des Gasthofs vorbeiliefen, sah ich in verblüffte, ratlose Gesichter: Hier stand das Wirtsehepaar, umgeben von seinen Bediensteten, und starrte uns mit offenen Mündern hinterher.

Plötzlich erklang von hinten ein scharfer Ruf. Wir drehten uns um und sahen, vielleicht hundert Meter entfernt, an der Kreuzung von der Straße zum Palast her eine regelrechte Kolonne in die Rustaweli einbiegen und auf uns zueilen: vorneweg Fürst Dadiani, flankiert von zwei Soldaten, hinter ihm Halef und Sofie, ihre Revolver in den Händen, zwischen ihnen Ann mit ihrem Deringer, und hinter ihnen Johann Hartmann, ebenfalls mit einem Colt bewaffnet, und Arthur von Suttner, in der Hand einen – Spazierstock! Ich musste lachen.

Nach wenigen Augenblicken hatte uns der Fürst erreicht und verwickelte die beiden Polizisten in einen heftigen Disput auf Georgisch.

Ich schaltete mich ein. „Prinz, die beiden Polizisten haben nichts falsch gemacht, sie haben nur ihre Pflicht erfüllt, und das sehr höflich.“

Dadiani nickte. „Trotzdem darf so etwas nie wieder passieren. Ich werde Ihnen Pässe ausstellen lassen, die sie zumindest in Mingrelien vor so etwas beschützen.“

Er wandte sich wieder an die Polizisten, nun in erheblich freundlicherem Ton; die beiden verabschiedeten sich höflich, baten mich um Entschuldigung und gingen Richtung Polizeiwache davon.

Der Fürst wandte sich an den Gastwirt:

„Mein Lieber, ich werde Ihre Gäste noch einmal kurz in den Palast entführen. Danach aber werden sie wieder bei Ihnen einkehren, und ich bitte Sie, für meine Freunde ein wirklich gutes Mahl vorzubereiten.“

Der Wirt, der wohl noch nie mit seinem Fürsten gesprochen hatte, schaute zwischen ihm und mir hin und her, dann meinte er:

„Es wird mir eine Ehre und ein Vergnügen sein!“

Nachdem alle ihre Waffen eingesteckt hatten, nahmen die beiden Soldaten Orinschow in die Mitte und wir begaben uns zu einer Lagebesprechung in den Palast.

Am nächsten Vormittag planten wir in Halefs und meinem Zimmer unser weiteres Vorgehen. Die Lage hatte sich doch sehr verändert: Wir hatten sowohl Verbündete wie auch zusätzliche Feinde gewonnen.

Ann beschloss unsere Diskussion mit der Bemerkung:

„Sofie und ich wissen immer noch nicht genau, welchen Auftrag Marah Durimeh uns erteilt hat.“

Ich hob ein wenig fragend die Augenbrauen.

„Uns? Halef und mir, meinen Sie.“

Ann schüttelte den Kopf. „Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir beide Sie begleiten.“ Sie winkte mit dem Kinn zu Sofie. „Das haben wir doch ausführlich besprochen.“

Ich nickte und widersprach zugleich.

„Da sah das Ganze nach einem zwar beschwerlichen, aber zunächst ungefährlichen Zug in die Höhen des Kaukasus aus, um den Riss zwischen der Geisterwelt und der unseren zu schließen. Und Marah Durimeh sprach von einem Menschen, der den Riss aufgetan habe. Wir konnten nicht ahnen, dass wir es mit einem ganzen Geflecht von Gegnern zu tun bekommen würden, einer organisierten Bande. Die Leute von Pinkerton mögen skrupellos sein, manche davon auch kriminell, aber sie sind auf jeden Fall alle gut geschult und erfahrene Kämpfer. Drei sind vor uns und werden uns auflauern, mehr von ihnen werden diesen reichen Amerikaner begleiten und bewachen. Das wird zu gefährlich für Sie!“

Ann richtete sich mit blitzenden Augen auf.

„Sie meinen wohl, zu gefährlich für Frauen! Haben Sie vergessen, was wir gemeinsam erlebt und durchgemacht haben? Wollen Sie ernsthaft behaupten, Sofie und ich wären den Gefahren nicht gewachsen? Glauben Sie, ich will ein vollwertiges Mitglied des Traveller’s Club werden, nur damit ich sagen kann, ich gehöre einem exklusiven Club an? Nein, ich habe die Damenabteilung gegründet, weil dies meine persönliche Möglichkeit ist, die Frauenbefreiungsidee zu unterstützen, für die auf anderem Wege Frauen wie Bertha von Suttner kämpfen. Glauben Sie auch an diese altmodische Vorstellung, dass uns Frauen Milde und Mäßigkeit zukämen und den Männern Mut und Denkfähigkeit? Dagegen schreibt Bertha an, und weil ich nicht gut schreiben kann, beweise ich es immer wieder, wenn ich mit der Waffe in der Hand für eine gerechte Sache kämpfe, wie mit Ihnen zusammen im Geisterreich. Uns Frauen obliegt es, dieselbe Verantwortung wahrzunehmen wie euch Männern, und ich werde nicht kneifen.“

Wie sie da so stand, hocherhobenen Hauptes, die Arme ausgestreckt, erinnerte sie mich an die Marianne, die Nationalfigur der Französischen Republik, wie Eugène Delacroix sie in seinem Gemälde Die Freiheit führt das Volk dargestellt hatte, das ich bei einer meiner letzten Europareisen im Louvre in Paris gesehen hatte. Natürlich war Ann weder barbusig noch schwenkte sie eine rote Fahne, aber ihre Entschlossenheit und – ja, auch ihr Mut – ließen diese Assoziation in mir emporsteigen.

Sofie stand nun neben Ann, hatte ihre linke Hand auf deren rechten Arm gelegt und nickte heftig zur Bekräftigung.

Ich hob besänftigend die Hände, doch ehe ich etwas erwidern konnte, schaltete sich Halef ein.

„Sihdi, die Frauen haben Recht. Denke an Amscha und wie sehr sie uns schon geholfen hat, erinnere dich an die Teuta, die Piratenwitwe, überlege, wie Sofie schießt, die schon Elche und Bären gejagt hat, und wie gut die beiden gestern gekämpft haben. Wir müssen sie mitkommen lassen!“

Ich hatte mich erstaunt zu Halef umgedreht; mein kleiner Hadschi, der Krieger aus der Beduinenwelt, entwickelte sich zu einem modernen aufgeschlossenen Mann! Sicher waren Hanneh und Djamila daran nicht unschuldig. Sollte ich hinter ihm zurückstehen? Nein! Ich dachte an Kolma Puschi, die starke Indianerin, die es mit jedem Mann aufgenommen hatte …

„Ich gebe mich geschlagen“, sagte ich deshalb. „Sie haben Recht, Ann, und auch du, Halef. Lasst uns nicht mehr davon sprechen, außer, wenn ich wieder einmal vergesse, dass ihr Frauen uns Männern ebenbürtig sein könnt.“

Nun schauten wir uns gründlich die Karte an und beschlossen, dem Rat von Tamaz Meskhishvili zu folgen: Wir würden am nächsten Tag nach Dschwari reiten, dort die Pferde unterstellen und dann zu Fuß dem Enguri folgen. Halef gab zu bedenken, dass wir dann gut umpacken müssten; trotz der großen Rucksäcke müssten wir unser Gepäck stark einschränken. „Und dann haben wir die schweren Fellmäntel, unsere Waffen – wir werden einiges zu schleppen haben.“

„Wir haben aber auch ein paar Vorteile“, warf Sofie ein. „Ich weiß nicht, ob es bei uns in Kanada im Winter so kalt und schneereich ist wie im Kaukasus, aber dennoch habe ich viel Erfahrung mit Wanderungen im Winter, durch Schnee und Eis. Wir müssen beispielsweise kein Wasser transportieren; wir werden immer genug Schnee haben, um ihn aufzutauen. Und Herr Meskhishvili hat mir erzählt, dass es dort oben auch im Winter genug jagdbares Wild gibt: Hirsche, Gämsen, Steinböcke, Wildschweine und sogar Wisente. An manchen Stellen ist das Kaukasus-Birkhuhn häufig, es soll leicht zu erlegen sein. Also sollten wir kein Problem mit der Verpflegung haben.“

„Brrr“, machte Halef und schüttelte sich. „Ich habe euch zugehört, und der Händler hat auch was von Wölfen und Bären gesagt.“

„Na, vor denen müssen wir uns nicht fürchten“, warf Ann scherzhaft ein. „Wir haben schließlich einen erfahrenen Bärenjäger mit seinem Bärentöter dabei!“

Das magische Tor im Kaukasus

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