Читать книгу Das magische Tor im Kaukasus - Friedhelm Schneidewind - Страница 7
Drittes Kapitel Ein unerwartetes Wiedersehen
ОглавлениеAm nächsten Morgen fragten wir den Wirt nach dem besten Weg nach Uschguli. Er schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen.
„Meine Herren“, meinte er dann in dem dialektal gefärbten Russisch Imeretiens, „das können Sie nicht ernst meinen! Wir hier haben noch den schönsten Sommer, aber da oben, in den Bergen Swanetiens, ist es kalt und die Wege sind kaum passierbar, sind voller Eis und Schnee. Und dann die wilden Tiere: Wollen Sie sich von Bären, Tigern oder Wölfen fressen lassen oder von Wisentbullen aufspießen? Von hier aus machen sich nur Abenteurer oder Verrückte auf den Weg, oder Pelzhändler, wie dieser Kanadier, der manchmal zu Besuch kommt, oder Forscher, wie dieser Doktor, der am Gymnasium lehrt.“
Nachdem wir seinen Wortschwall unterbrochen hatten, ließen wir uns den Weg zum Gymnasium beschreiben; einen Versuch war es immerhin wert, bei jemandem Informationen einzuholen, der schon mal im Winter in den Bergen des Kaukasus gewesen war. Der erwähnte Kanadier war wohl derzeit unterwegs, kehrte aber, wie uns der Wirt erzählte, in letzter Zeit immer in einem der Nachbarhäuser ein, in der Tamar-Mepe-Straße 15, bei einem jungen fremdländischen Paar, das dort seit Kurzem wohnte. Das erinnerte mich daran, dass ich sowieso bei der Gedichteübersetzerin vorbeischauen wollte, es musste sich wohl um die weibliche Hälfte des erwähnten Paars handeln. Leider aber erfuhren wir von der Hausverwalterin, die im Erdgeschoss wohnte, dass die beiden jungen Leute – „ausgesprochen reizend und freundlich, und so nett zueinander, so verliebt“ – am Tag zuvor abgereist waren, um eine Freundin in Sugdidi zu treffen.
Auf dem Weg zum Gymnasium kamen wir an zwei kleinen Synagogen vorbei, die nebeneinander erbaut waren; ich fragte mich, ob die jüdische Gemeinde hier so gewachsen war, dass sie eine zweite Synagoge brauchte, oder ob es sich um die Gotteshäuser konkurrierender Richtungen des Judentums handelte, die es bei den Gläubigen dieser Religion ja ebenso gibt wie bei den abrahimitischen Schwesterreligionen Christentum und Islam. Im Gymnasium verwies man uns an den Biologie- und Erdkundelehrer Dr. Schiaschwili, einen jüngeren, athletisch gebauten Mann mit riesigen Händen und langem braunen Haar. In der großen Pause war er gerne bereit, uns einige Ratschläge zu geben, während er uns das, was er sagte, an einer Wandkarte verdeutlichte.
„Ich bin in den letzten Jahren einige Male in den swanetischen Bergen gewesen, auf privater Forschungsreise sozusagen. Ich baue bei uns eine Sammlung einheimischer Fauna und Flora auf. Unser Gymnasium ist die einzige höhere Schule in der Region. Seit seiner Gründung 1840 ist es auf Sprachen und humanistische Bildung spezialisiert, die Naturwissenschaften haben in den ersten Jahrzehnten keine große Rolle gespielt. Da mangelt es noch an manchem, und ich versuche das auszugleichen. Aber in dieser Jahreszeit eine solche Reise anzutreten, bedarf zumindest guter Vorbereitung, und Sie müssen ausdauernd und körperlich belastbar sein.“ Dr. Schiaschwili trat näher an die Karte heran.
„Es gibt prinzipiell zwei Strecken. Die kürzere führt direkt nach Norden durch das Tal des Zcheniszqali über Zqaltubo nach Zageri und dann nach Lentechi auf fast 800 Meter Höhe. Von da aus verläuft ein Pfad im Tal des Flusses Sescho bis zu seinem Zufluss oberhalb des letzten Dorfes im Tal. Der Weg ab da über den gut 2.600 Meter hohen Sagaropass ist je nach Schneeverhältnissen im Winter nicht begehbar, und der Winter beginnt dort meistens spätestens Anfang September.“ Der Biologe zeigte mit seinen großen Händen auf der Karte, dass auf diesem Weg fast nur Berge zu sehen waren.
„Ab dann wird es nicht leichter. Sie können es versuchen, aber Sie riskieren, dass Sie schon einige Tage verloren haben und dann umkehren müssen. Dazu kommt das Ausrüstungsproblem. Sie bekommen hier keine Winterausrüstung, und nur Zageri ist groß genug, dass Sie sich dort vielleicht damit eindecken können, es kann Ihnen aber passieren, dass dort nichts für Ihre Bedürfnisse vorrätig ist. Die anderen Dörfer auf dem Weg haben meistens weniger als hundert Einwohner. Kurz und gut: Von dieser Strecke rate ich Ihnen ab.“ Dr. Schiaschwili trat von der Karte zurück.
„Was empfehlen Sie uns stattdessen?“, fragte ich ihn. Er fuhr mit der Hand einen größeren Bogen, der von Kutaissi erst fast genau nach Westen führte, kurz vor Sugdidi nach Norden und dann Nordosten abbog und schließlich ostwärts nach Mestia führte; hier tippte der Biologe kurz auf den Namen der Stadt und fuhr dann mit dem Zeigefinger südöstlich nach Uschguli.
„Das sind zwar ein paar Kilometer mehr, knapp 300 gegenüber ungefähr 170 auf der anderen Strecke. Aber bis Mestia, das auf etwa 1.500 Meter Höhe liegt, können Sie gut zu Pferd reisen. Das letzte Stück werden Sie zu Fuß zurücklegen müssen, da wird es auch jetzt im Herbst da oben schon sehr schwierig. Sie sollten sich eine gute Winterausrüstung besorgen. Dazu werde ich Ihnen einen Händler in Sugdidi empfehlen, der gut und günstig ist und sich freuen wird, ausländische Kunden zu bedienen. Wenn Sie mit ihm über Ihre Erlebnisse plaudern, wird er Ihnen gerne mit dem Preis entgegenkommen.“
Er setzte sich an ein Schreibpult und verfasste ein Empfehlungsschreiben für uns. Ich fragte ihn, ob er uns einen Pferdehändler nennen könne.
„Leider nein“, meinte er. „Ich habe mein eigenes Pferd. Fragen Sie doch mal im Gasthaus nach, der Wirt kann Ihnen da sicher weiterhelfen.“
Wir bedankten uns herzlich bei dem hilfsbereiten Lehrer und versprachen ihm, auf dem Rückweg vorbeizuschauen und ihm von unserer Reise zu erzählen. Auf dem Weg zum Gasthof meinte Halef:
„Seltsam, er hat uns gar nicht gefragt, was wir da oben wollen, in diesem Bergdorf, diesem Uschguli.“
Ich nickte.
„Sicher war das nur Höflichkeit. Ich hatte schon den Eindruck, dass er vor Neugier beinahe geplatzt wäre. Aber die georgische Höflichkeit und Gastfreundschaft sind ja legendär, da wird der Gast nicht gedrängt.“
Halef sah mich mit einem seltsamen Blick von der Seite an.
„Ich dachte immer, die Gastfreundschaft der Beduinen sei legendär, und du hast sie doch oft in deinen Berichten gelobt, Sihdi.“
Ich musste schmunzeln.
„Ja, mein lieber Halef, die Gastfreunschaft der Araber ist groß und lobenswert, und ganz besonders die in den Zelten deines Stammes; aber darf es nicht auch andere Völker geben, die ein großes Herz und eine freigiebige Hand haben?“
Halef wiegte nachdenklich den Kopf.
„Ich werde mir die Sitten und Gebräuche der Georgier gründlich anschauen, und danach werde ich dir meine Entscheidung verkünden, Sihdi.“
Wir hatten inzwischen das Gasthaus erreicht und setzten uns zu einem kleinen Mittagsmahl in die Gaststube; als der Wirt als Nachtisch frische Früchte brachte, fragten wir ihn nach einem guten Pferdehändler.
„Ich kann euch den Hof von Grigol Matschotidse empfehlen, der verkauft Schafe und Pferde.“
„Von dem würde ich die Finger lassen“, ertönte da aus einer Ecke eine tiefe Bassstimme. Aus dem Schatten schob sich ein kleiner, aber umso gewichtigerer Mann mittleren Alters, der dort ruhig an einem Tisch gesessen und ebenfalls sein Mittagsmahl verspeist hatte. Er hatte eine prächtige dunkelblaue Tschocha an, den knielangen wollenen Mantel, der zur traditionellen männlichen Tracht der Georgier gehört. Der Mantel saß eng um seine umfangreiche Hüfte, wurde unterhalb der Gürtellinie weiter und war seitlich geschlitzt, über den Hüften wurde er von einem Ledergürtel mit silberner Schnalle zusammengehalten, der mit zahlreichen silbernen Weintrauben verziert war. Dieser Mann trug seinen Wohlstand offen zur Schau. Dazu passten auch das hellblaue, seidene, hochgeschlossen geknöpfte Hemd, ein sogenanntes Achaluchi, und die aus feinstem hellbraunen Leder gefertigten Scharwali, die Stiefelhosen, die in seine breiten Lederstiefel gesteckt waren. Auf dem Tisch sah ich einen traditionellen hohen Hut aus Schafsfell liegen, einen Papachi.
Der Mann deutete eine Verbeugung an; viel mehr war bei seinem Leibesumfang auch nicht möglich. Dabei lächelte er uns freundlich an, sein ganzes Gesicht strahlte regelrecht vor Gemütlichkeit.
„Gestatten die Herren, dass ich mich zu Ihnen setze?“, fragte er und rückte schon einen Stuhl an den Tisch.
Ich warf einen Blick auf unseren Wirt; dieser musste offensichtlich ein Schmunzeln unterdrücken, dann sagte er:
„Ich darf die Herren bekannt machen: Dies ist mein geschätzter Geschäftspartner und Weinlieferant, Ivane Gvenetadze, aus dem Dörfchen Simoneti, in dem er ganz in der Nähe einige der besten Weine ganz Georgiens anbaut. Und diese beiden Herren sind auf der Durchreise, links der Herr ist Ben Nemsi, neben ihm sitzt Halef Omar.“
Ich war bei meinem Kurznamen geblieben, den ich Mister Brown genannt hatte, und Halef hatte beschlossen, es mir gleichzutun; er verzichtete auf den Ehrentitel eines Hadschi, wollte er doch nicht sogleich als Moslem erkannt werden.
„Ja, wir in Georgien stellen die besten Weine der Welt her!“, behauptete Gvenetadze im Brustton der Überzeugung. „Schon vor 7.000 Jahren habe unsere Vorfahren hier Wein angebaut, in der Wiege des Weinbaus. Das antike Kolchis war berühmt für seine Reben, und das Wort Vino geht auf das georgische Ghwino zurück. Aber – Sie interessieren sich für Pferde. Da empfehle ich Ihnen einen Bekannten, der sich nur auf die Pferdezucht spezialisiert hat, anders als dieser Matschotidse, der mit allem handelt, was vier Beine hat.“
Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, hatte der Wirt inzwischen einen Krug und drei Becher auf unseren Tisch gestellt und schenkte nun ein.
„Der Hauswein, den mir Herr Gvenetadze liefert, der Krug geht auf Kosten des Hauses.“
Halef lehnte ab; ihm verboten die Regeln seiner Religion den Weingenuss. Weder er noch der Wirt gingen auf den Grund seiner Ablehnung ein, stattdessen empfahl ihm Gvenetadze den Saft aus derselben Traube, den Halef, mit frischem Wasser vermischt, ausgesprochen köstlich fand. Ich empfand den leichten kühlen Weißwein, spritzig, säurebetont und mit einem feinen Aroma nach Äpfeln, als in der Sommerhitze ausgesprochen erfrischend.
„Diese Traube gibt es nur bei uns in Imeretien“, erklärte der Weinlieferant, nachdem ich ihm anerkennend zugenickt hatte. „Chanti wird sie genannt oder auch Tsistka und Tsitsiko. Sie ist mein Hauptertragsbringer. Doch zurück zu den Pferden. Mein Freund Dawit Tscheidse züchtet Kabardiner, wie schon sein Vater und sein Großvater vor ihm. Sie haben ihren Namen von den Kabardinern, einem Stamm der Tscherkessen. Diese Gebirgspferde werden im ganzen Kaukasus geschätzt wegen ihrer Trittsicherheit, Ausdauer, Nervenstärke und ihrem Orientierungssinn selbst in schwierigstem Gelände; ich kenne Jäger und Hirten, die sie noch auf 3.000 Metern Höhe reiten.“ Gvenetadze hielt inne und spreizte die Hände. „Ich klinge schon wie ein Verkäufer für meinen Freund, verzeihen Sie. Es ist nur so, dass ich von diesen Tieren begeistert bin, ich habe selber mehrere dieser Pferde.“ Und mit einem Schmunzeln setzte er hinzu: „Sie tragen – und ertragen – sogar mich. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie nach dem Genuss dieses vorzüglichen Weines und vielleicht eines Kaffees, den uns unser freundlicher Wirt sicher zubereiten wird.“
Die Zucht von Dawit Tscheidse lag natürlich außerhalb der Stadt, aber er unterhielt Stallungen in der Nähe eines Parks, der früher die königlichen Gärten gewesen war. Gvenetadze ging direkt mit uns in Tscheidses Kontor und stellte uns ihm vor. Tscheidse war ein Mann in den Fünfzigern, der sich körperlich hervorragend gehalten hatte; sein drahtiger Körper zeugte von verdeckter Kraft, und trotz seiner herben Gesichtszüge machte er einen freundlichen Eindruck.
„Ich hoffe, ich habe noch, was Sie suchen“, meinte er, nachdem wir ihm unsere Wünsche nach je zwei Reit- und Packpferden geschildert hatten. „In den Ställen sind gerade zwei Damen, die denselben Wunsch geäußert haben. Ich sollte aber genügend Pferde hier haben.“
Wir folgten ihm zu den Stallungen, als wir plötzlich eine Stimme vernahmen, die ich überall und jederzeit wiedererkannt hätte. Dieses charakteristische wellenartige Auf- und Abhüpfen, von hoch zu tief – Halef und ich verharrten im Gleichklang im Schritt und wandten uns Tscheidse zu.
„Lady Lindsay?“, fragte ich ihn. Aber ehe er nicken konnte, war mir klar, dass es nur unsere Freundin Annabelle Boudicca Lindsay sein konnte, von ihren Bekannten Ann genannt, die Nichte unseres alten Weggefährten Sir David Lindsay.
„Denk an heute Nacht“, flüsterte Halef mir auf Arabisch zu, „an das, was uns die Vision gesagt hat. Das kann kein Zufall sein.“
Ich nickte, mir war soeben der gleiche Gedanke gekommen. „Nehmt an Hilfe an sowie freundlicher Unterstützung und Begleitung an, was sich euch bietet, ihr werdet es brauchen“, hatte Marah Durimeh gesagt. Dass Halef ihren Namen nicht erwähnt hatte, zeigte mir, dass er nicht nur unsere Aufgabe sehr ernst nahm, sondern auch überaus vorsichtig und bedachtsam zu Werke ging.
Eine weitere weibliche Stimme war zu vernehmen, tief und rauchig.
„Lady Lindsay und Miss Nelson aus Kanada“, erläuterte Tscheidse. „Sie kaufen Pferde für eine Reise nach Swanetien. Und die Kanadierin kennst du ja“, setzte er, zu Gvenetadze gewandt, hinzu und erklärte uns: „Sie ist hier, um die Geschichte des georgischen Weinbaus zu studieren.“
In diesem Moment traten zwei junge Damen aus dem Stall, gefolgt von zwei Männern, die vier Pferde am Zügel führten.
„Mister Kara!“ hörte ich die vertraute Stimme, und direkt danach, im bekannten Auf und Ab: „Und Hadschihalefomar!“
Und schon kam Ann wie ein Wirbelwind auf uns zugerannt, hätte sich mir beinahe in die Arme geworfen, ehe ihr einfiel, dass sich dies für eine junge adelige Dame nicht schickte; kurz vor mir kam sie zum Halt und reichte mir elegant ihre schmale Hand, im vertrauten Handschuh aus hellbraunem Glacéleder. Ich ergriff sie und sah Ann in die Augen.
„Ein unerwartetes, aber nichtsdestotrotz sehr erfreuliches Wiedersehen!“, während ich dachte, dass es das wohl gewesen war mit unserem leichten Inkognito, dies sah ich sowohl dem Pferde- wie dem Weinhändler an.
Ann wandte sich nun Halef zu, nach einem kurzen Zögern reichte sie auch ihm die Hand und sagte auf Arabisch:
„Salamaleikum, mein guter Freund. Wie geht es der Lichtkugel? Onkel Daffy hat mir geschrieben, dass du damit einen Dämon vertrieben hast.“
Halef presste die Lippen zusammen, dann erwiderte er:
„Der Dämon hat die Kugel sogar verschluckt und dann wieder ausgespuckt. Und das ist ihr irgendwie nicht bekommen. Sie ist etwas angeschlagen, braucht manchmal ein wenig, bis sie leuchtet, dann flackert sie ab und zu und sie ist früher erschöpft. Aber bitte lasst uns hier aufpassen, was wir sagen.“
Sie stutzte, dann nickte sie ernst.
„Ich freue mich so, Sie zu sehen“, fuhr sie auf Englisch fort. „Aber lassen Sie mich Ihnen, ehe wir darüber reden, was uns hier zusammengeführt hat, meine Begleiterin vorstellen.“
Auch wenn ihre Redeweise noch immer exaltiert und die Intonation gewöhnungsbedüftig war, schien Lady Ann in den vergangenen Monaten gereift zu sein, wirkte auf mich eher wie eine junge Dame als wie ein dem Internat entlaufenes Mädchen. Ob ihre Begleiterin damit etwas zu tun hatte? Während diese nähertrat und dabei zu meinem Erstaunen Ivane Gvenetadze freundlich zunickte, hatte ich Zeit, sie zu beobachten. Sie war wie Ann etwa 20 Jahre alt, eine hochgewachsene junge Frau ohne auffallende Merkmale, sah man von dem Kontrast zwischen dem hochgesteckten tiefschwarzen Haar und den strahlend blauen Augen ab. Nicht nur darin und bei der Körpergröße war sie fast ein Gegensatz zu Lady Lindsay mit ihrem unauffällig braunen Haar und ihren grauen Augen, die zwar schlank war, bei der aber insgesamt doch alles einen eher gemütlichen Eindruck hinterließ. Nicht größer als Halef, wirkte Ann durch das runde Gesicht mit der kleinen runden Nase und dem runden Kinn jünger, als sie war – was ihr sicher zugutekam, wenn man sie deshalb unterschätzte –, bis sie ihre kräftigen Zähne zeigte. Ich unterbrach diesen etwas despektierlichen Gedankengang und widmete meine Aufmerksamkeit wieder Miss Nelson, die nun vor uns stand und mich beinahe überragte. Was an Ann rund wirkte, war an ihr eher kantig – nein, herb war vielleicht der richtige Ausdruck, ein Gesicht mit Charakter, mit eckigem Kinn und langer schmaler Nase, keine Schönheit im landläufigen Sinn, aber durchaus gutaussehend.
„Miss Sofie Nelson“, stellte Ann vor. „Sie stammt aus Montréal in Québec – das liegt in Kanada – und ist meine Begleiterin auf der Expedition, die ich heute beginne. Dabei verfolgt sie durchaus auch eigene Ziele, die wir sicher später besprechen werden.“
Ann hatte wohl bemerkt, dass wir vorsichtig waren in unseren Äußerungen, und hielt es nun genauso. Sofie Nelson reichte Halef und mir jeweils die Hand, dann sagte sie mit ihrer erstaunlich tiefen Stimme, die in mir sofort den Wunsch erweckte, sie singen zu hören:
„Es freut mich, die zwei tapferen Männer kennenzulernen, von denen mir Ann so viel erzählt hat. Und Sie, Mister Nemsi, sind mir auch aus Erzählungen eines guten Freundes und Lehrmeisters vertraut, der mir von Ihren Abenteuern in den Prärien und Bergen unseres Nachbarlandes erzählt und Sie mir stets als leuchtendes Vorbild dargestellt hat.“
Ich hatte so etwas kommen sehen, seit Marah Durimeh mir vorhergesagt hatte, dass ich hier auch wieder zu Old Shatterhand werden müsste. Ich fragte mich, wen ich wohl treffen würde von meinen alten Freunden. Und Sofie fragte ich:
„Kenne ich diesen Herrn vielleicht?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wahrscheinlich nicht. Er heißt Hartmann, Johann Friedrich Hartmann, kommt ursprünglich aus der Nähe von New York, hat aber mehrere Jahre in der Heimat seiner Vorfahren, in der Pfalz, in Deutschland, verbracht und lebte 25 Jahre bei uns in Québec, als Scout und Trapper. Er war mein Musik- und Sprachenlehrer. Vor fünf Jahren ist er nach Georgien gezogen. Ich hoffe ihn bald zu treffen, wir erwarten uns von ihm Hinweise und Unterstützung bei unserer Reise in die Berge.“
Das wurde ja immer seltsamer. Schon wieder wurde uns indirekt Unterstützung zugesagt. Sollte ich ihn doch kennen, vielleicht unter anderem Namen? Das glaubte ich nicht; der einzige Mann, den ich kannte, der meines Wissens Deutschland 1848 aus politischen Gründen hatte verlassen müssen, war in Deutschland Oberförster gewesen und lebte jetzt, nach dem Auskurieren einer schweren Verletzung, bei seinem Sohn in St. Louis im Ruhestand. Wer auch immer der mir verheißene Freund sein sollte: Ich hatte den Verdacht, dass Marah Durimeh mehr von der Geisterwelt aus bewegen oder zumindest anstoßen konnte, als sie uns erzählt hatte. Mir sollte das recht sein – einem geschenkten Gaul … Das brachte mich auf den Zweck unseres Besuchs zurück.
„Wir brauchen noch Pferde“, sagte ich zu Dawit Tscheidse. „So sehr ich die beiden Damen schätze, hoffe ich doch sehr, dass für uns noch gute Tiere übrig sind.“
Tscheidse zeigte zu den vier Pferden, die Ann und Sofie erworben hatten.
„Ich habe ihnen meine besten Pferde vorgestellt, vor allem, weil mir Miss Nelson eine Empfehlung meines Freundes Gvenetadze überbracht hat.“
Ich schaute fragend zu dem Weinhändler, der mir lächelnd zunickte.
„Ich kenne Sofie, seit ich vor fünf Jahren ein paar Wochen auf dem Weingut ihres Vaters zubrachte, um von dort neue Reben in unser Land zu bringen. Ich bin sicher nicht unschuldig an ihrer Reise jetzt, und ich war es auch, der Hartmann überredete, sein Glück als Lehrer und Pelzhändler in Georgien zu suchen.“
Tscheidse winkte uns und ging voran Richtung Ställe.
„Die Damen haben sich für kleinere Pferde entschieden und zudem wohl auf eine einheitliche Fellfärbung geachtet, einige meiner besten Tiere stehen noch im Stall.“
Nun erst fiel mir auf, dass die Pferde farblich wirklich gut zueinanderpassten, ihr Fell zeigte das gleiche Mittelbraun, und alle vier Stuten hatten das gleiche Stockmaß von etwa anderthalb Meter.
Während wir an den Frauen vorbeigingen, fragte ich Ann:
„Warten Sie auf uns? Wir können uns nach unserem Kauf zusammensetzen und reden.“
Sie schwang sich in den Sattel eines der Pferde.
„Wir machen uns ein wenig mit unseren Reittieren vertraut und bleiben in der Nähe.“
Im Stall fiel mir sofort ein großer Rapphengst ins Auge. Tscheidse folgte meinem Blick und sagte:
„Rappen sind bei den Kabardinern nicht sehr häufig, seltener sind nur noch Schimmel. Dies ist mein Paradepferd. Er heißt Samtari, Winter, weil er im tiefsten Winter zur Welt gekommen ist und schon als junges Fohlen nicht genug von Schnee und Eis und Bergen bekommen konnte. Ein besseres Pferd habe ich noch nie gehabt.“
Ich nickte begeistert, mein Entschluss stand schon fest. Tscheidse zögerte.
„Mit den Damen habe ich ausgehandelt, dass sie mir den Kaufpreis noch heute vorbeibringen, ich ihnen aber die Pferde, falls sie auf dem Rückweg hier vorbeikommen, wieder abkaufen werde, abzüglich einer Mietrate von 15 Prozent je Monat, falls sie sie nicht mitnehmen werden. Ich sähe es ungern, wenn meine Tiere bei einem anderen Händler der Gegend landen würden. Können wir uns auf die gleichen Bedingungen einigen? Besonders Samtari hätte ich gerne wieder hier – es sei denn, Sie wollen ihn behalten.“
Ich machte ein ernstes Gesicht. „Zehn Prozent“, sagte ich dann.
„Wie bitte?“, fragte Tscheidse verblüfft.
„Zehn Prozent pro Monat, dann kommen wir ins Geschäft. – Nein“, lachte ich, „das war ein Scherz, selbstverständlich bin ich einverstanden. Und ich glaube nicht, dass ich Samtari behalten werde, egal, als wie zuverlässig und gut er sich herausstellt, denn ich habe sowohl in Arabien wie in Amerika jeweils einen wunderbaren Rappen, und beide möchte ich gegen kein anderes Pferd eintauschen.“
Halef trat zu uns heran; er hatte das Gespräch mitbekommen, aber sich davon nicht abhalten lassen, drei Pferde auszusuchen, auf die er nun zeigte, sodass auch Tscheidse seine Auswahl mitbekam.
„Sihdi, diesen schwarzbraunen Wallach dort, der nicht höher ist als die Stuten der Frauen, möchte ich reiten. Und die beiden etwas größeren dunkelbraunen Wallache sollen unsere Packpferde sein; so können wir, wenn wir zusammen reisen, die Tiere auch immer gut auseinanderhalten.“
Ich nickte Halef zu, mit seiner Wahl war ich sehr einverstanden.
Es dauerte noch einige Zeit, bis wir das Geschäftliche erledigt hatten, dann verabschiedeten wir uns herzlich von den beiden Georgiern. Mit Ivane Gvenetadze verabredeten wir uns für den nächsten Morgen in unserem Gasthaus, um noch einmal Informationen, Pläne und Adressen auszutauschen, dann ritten wir vier mit den acht Pferden hinauf zur Bagrati-Kathedrale. Es war noch früh am Nachmittag, der Sommertag erträglich warm, es wehte ein laues Lüftchen, und so hatten wir beschlossen, dass wir uns auf dem Ukimerioni ein ungestörtes Plätzchen suchen wollten, wo wir unbeobachtet und unbelauscht über unsere Pläne reden konnten.
Auf dem Weg dorthin kamen wir an einem Kleidergeschäft vorbei, vor dem an Holzständern verschiedene Tschochas in kräftigen Farben hingen.
„Sihdi“, meinte Halef und zügelte seinen Schwarzbraunen, „auch wenn wir die Winterausrüstung erst später beschaffen, kalt wird es ja jetzt auch schon, besonders in der Nacht. Wäre es nicht schön, wenn wir alle solche herrlichen Mäntel besäßen?“
Der Ladenbesitzer hatte gesehen, dass wir angehalten hatten.
„Wunderschöne Mäntel!“, sprach er uns an. „Und nicht nur für die Herren, ich habe auch sehr schöne Frauenmäntel im gleichen Stil, Tscherkeskas aus dem hohen Kaukasus.“
Die beiden Frauen brauchten nicht lange überredet zu werden, und als wir den Laden verließen, fühlten wir uns nicht nur wie georgische Edle, sondern sahen ein wenig auch so aus. Ich hatte mir eine kaukasische Tschocha zugelegt, eine Tscherkeska aus dickem braunen Wollstoff, der gut mit meiner Lederkleidung harmonierte. Besonders praktisch fand ich die dekorativen großen Patronentaschen, von denen auf jeder Brustseite neun Stück aufgenäht waren, und mir gefielen die aufgestickten weißen Verzierungen darunter, die stilisierte Berggipfel darstellten. Der Schnitt einer Tschocha ist eng in der Hüfte und wird unterhalb der Gürtellinie weiter, dies soll, wie uns der Händler erklärte, die männliche Gestalt betonen. Bei dem Weinhändler war mir dies gar nicht so aufgefallen … Normalerweise gehört zu der kaukasischen Tracht ein Ledergürtel mit silberner Schnalle, oft wie bei Gvenetadze stark mit Silber verziert. Darauf aber verzichtete ich, ich hatte schließlich meinen guten, alten, aus einzelnen Riemen geflochtenen Gürtel, der nicht nur rundum mit Patronen gefüllt war, sondern an dem ich in mehreren Lederbeuteln, was ich brauchte, stets griffbereit hatte. Und durch die beiden Schlitze, die jede Tschocha unterhalb der Hüften aufwies, konnte ich problemlos an Dinge gelangen, die ich darunter verborgen trug, wie etwa im Moment meine beiden Revolver und das Bowiemesser.
Halef hingegen hatte nicht widerstehen können. Stolz trug er über einer dunkelroten Tscherkeska mit goldbestickten Patronentaschen einen hellbraunen breiten Ledergürtel mit einer Silberschnalle in Form eines Tigerkopfes, verziert mit mehreren silbernen Schmuckmünzen, die verschiedene Tiere zeigten.
„Das war der Gürtel eines unserer erfogreichsten Jäger, er hat ihn anfertigen lassen, nachdem er in Swanetien, oben in den Bergen, einen kaspischen Tiger erlegt hat; damals gab es noch mehr davon“, hatte uns der Händler erklärt. „Sein Sohn hat ihn mir nach seinem tragischen Tod verkauft, hier will ihn niemand haben.“
Ich hatte nachgehakt: „Tragischer Tod?“
Der Händler hatte mit den Schultern gezuckt.
„Man soll das Schicksal eben nicht herausfordern. Angeblich ist er zwei Jahre später dem Sohn der Tigerin begegnet, das hat er zumindest behauptet, bevor er hier schwerverletzt gestorben ist. Aber vielleicht war das im Fieberwahn, er hat nämlich auch erzählt, dieser Tiger wäre nicht nur riesig, sondern auch weiß gewesen. Und von einem weißen Tiger hat hier noch niemand gehört.“
Ich hatte geschwiegen; ich wusste, dass es in Indien vereinzelt weiße Königstiger gab, Halbalbinos mit blauen statt roten Augen. Und angeblich hatte vor ein paar Jahren ein Zirkusdirektor einen ‚Schneetiger‘ gezüchtet, indem er einen weißen Bengaltiger mit einem sibirischen Tiger gekreuzt hatte, aber dies war wahrscheinlich eine Zeitungsente gewesen. Halef war auf jeden Fall von dem Gürtel fasziniert gewesen und schnell darüber handelseinig geworden.
Den beiden Frauen, die im Moment vor uns herritten, standen ihre Tschochas auch hervorragend. Beide trugen darunter ähnliche Kleidung, nur sah die von Ann edler aus. Die stabilen Hemden aus ungefärbter Baumwolle, die Lederwesten und -jacken konnte man unter dem V-Ausschnitt der Tschochas erkennen. An ihre schmalen Gürtel, die die in die geschnürten Stiefel gestopften Hosen hielten, konnten sie leicht durch die Seitenschlitze ihrer Tschochas gelangen, die keine Patronentaschen hatten.
Die Tschocha von Ann war ganz in Blau gehalten, bestand aus sehr fein verarbeiteter Wolle und wurde durch ein paar zierliche rote Stickereien in Brusthöhe veredelt, dazu hatte Ann sich einen schmalen Gürtel aus roter Seide mit Goldstickereien gekauft, der mehr gekostet hatte als Halefs und mein Mantel zusammen und angeblich aus China importiert worden war – was ich gerne bereit war, zu glauben. Manchmal konnte (oder wollte) Lady Lindsay doch nicht verbergen, aus welcher Schicht und welchen Vermögensverhältnissen sie stammte. Solange uns dies keine Schwierigkeiten bereitete, gönnte ich es ihr; vielleicht erinnerte sie die Farbgebung ihrer Obergewandung an die Flagge ihres Heimatlandes.
Möglicherweise hatte sich auch Sofie an ihrer heimatlichen Flagge orientiert: Ihre Tschocha war zwar dunkelrot, kam aber damit der Nationalfarbe Kanadas doch ziemlich nahe. Einen Gürtel trug Sofie dazu nicht, er war ja auch nicht nötig, bei Ann war er vor allem Zierrat. Und so ähnlich die beiden Frauen auch gekleidet waren, konnte ein geschultes Auge doch einen deutlichen Unterschied in der Qualität feststellen. Ann bevorzugte hellbraunes Ziegenleder: Glacéleder bei ihren Handschuhen, der Hose und der Weste, robustes Chevreauleder für ihre Jacke und ihre hochwertigen Stiefel. Sofie hingegen trug Weste, Jacke, Hose und Stiefel aus dunkelbraunem Wildleder, das robuster und weitaus weniger teuer aussah. Allerdings stammte es von der Haut eines kurz vor ihrer Abreise von ihr selbst erlegten kanadischen Elks, also eines Wapitihirschs, wie sie mir im Kleiderladen kurz erläutert hatte, und das machte für mich als Jäger ihre Kleidung mindestens genauso wertvoll. Ich war gespannt auf ihre Waffe, hatten die beiden Frauen doch wie wir ihre Langwaffen in den Zimmern gelassen. Anns kurzläufige Schrotflinte, von ihr Godiva genannt, kannte ich ja bereits, aber Sofie hatte sicher ein für die Jagd besser geeignetes Gewehr.