Читать книгу Das magische Tor im Kaukasus - Friedhelm Schneidewind - Страница 6
Zweites Kapitel Fasane und Rosen
Оглавление„Sihdi, bist du sicher, dass es noch Sommer ist? Ich friere entsetzlich.“
Ich konnte Halef gut verstehen. Obwohl es Mitte August war und Kutaissi nur wenig mehr als 100 Meter über dem Meeresspiegel liegt, war es kurz vor Mitternacht an unserem erhöhten Standort empfindlich kalt, außerdem wehte über den Ukimerioni-Hügel, der über dem Fluss Rioni thront, ein scharfer Wind. Möglicherweise wirkte bei meinem arabischen Freund aber auch, dass er sich in seiner ungewohnten Kleidung noch nicht sonderlich wohlfühlte, obwohl er sie schon seit fast zwei Tagen trug.
Nach unserer Ankunft in der ältesten Stadt Georgiens und früheren Hauptstadt der Kolchis hatten wir zunächst ein Gasthaus in der Nähe des Bahnhofs aufgesucht, uns einquartiert und einen gemütlichen Abend gemacht. Am nächsten Morgen hatte der Wirt uns zur Tetri Chidi geschickt, der Weißen Brücke, um über diese den Rioni zu überqueren und in das Stadtviertel der Händler und Handwerker zu gelangen.
Es gab mehrere Kleiderhändler, sodass wir keine Probleme hatten, Halef und mich angemessen einzukleiden. Ich entschied mich für Kleidungsstücke, die mich an meine gewohnte Trapperkleidung erinnerten; Halef schloss sich mir an. Gleich mir trug er nun wildlederne Leggins und über einem Lederhemd eine vorne offene Lederweste mit mehreren praktischen Taschen und eine dicke Lederjacke. Weite Hosen waren ihm nicht nur unpraktisch erschienen, zudem war ihm eingefallen, dass Sultan Mahmud II. 1829 das Tragen von Pluderhosen als Bestandteil der bis dahin üblichen orientalischen Tracht untersagt hatte. Und da Kutaissi seit 1810 zum Russischen Zarenreich gehörte, das sich seit Kurzem wieder im Krieg mit dem Osmanischen Reich befand, wie uns der Kleiderhändler seufzend berichtet hatte – „Schon wieder! Der Krimkrieg ist doch gerade mal gut zwanzig Jahre her!“ –, wäre es wohl unklug gewesen, in einer alttürkischen Tracht herumzulaufen. Aus diesem Grund hatte sich Halef auch gegen einen Fes entschieden. Statt des breitkrempigen Lederhuts, den ich mir zugelegt hatte, zierte sein Haupt nun eine der hier typischen runden Filzmützen, wie bei vielen Georgiern. Das helle Ocker harmonierte gut mit den verschiedenen Brauntönen seiner Kleidung und der langen kräftigen Stiefel.
Nach dem Einkauf gönnten wir uns einen kleinen Mittagsimbiss in dem diesseitigen der beiden Lokale, die die Enden der Weißen Brücke markierten. Als wir gemütlich unseren Nalekiani Khava tranken, Kaffee, der nach türkischer Art in einer Metallkanne am Herd mit Zucker und Wasser aufgekocht worden war, ließ mich ein wiederholtes, lautes kuttuk kuttuk aufhorchen. Es kam von dem kleinen Hof zwischen Straße und Gasthaus, und ich sah einen farbenprächtigen Fasanenhahn seinen glänzenden Kopf ruckartig Richtung Hauswand strecken und dabei seinen Revierruf ausstoßen. Im nächsten Moment sah ich einen Schatten, der sich Richtung Haustür bewegte und dann in dem kleinen Vorraum des Gasthauses verschwand. Ich behielt die Tür zur Gaststube im Auge, doch es trat niemand ein. Halef war meinem Blick gefolgt.
„Sihdi, glaubst du, wir werden beobachtet?“
Ich nickte, hob meine Tasse, nahm langsam einen Schluck und tat so, als blickte ich ihn interessiert lauschend an. Aus dem Augenwinkel glaubte ich in dem Spiegel, der an der Garderobe am Ausgang hing, einen Mann zu sehen, den ich aufgrund seiner Silhouette für Brown oder einen seiner Gefährten hielt. Und tatsächlich sah ich ihn das Gasthaus verlassen und auf der anderen Straßenseite entlangschlendern, wie mir schien betont nonchalant, ohne einen Blick in unsere Richtung zu werfen.
„Dieser Brown ist wahrscheinlich nicht zufällig hier!“, mutmaßte Halef, nachdem ich ihn ins Bild gesetzt hatte. „Wie gut, dass dieser Fasan so einen Krach gemacht hat. Ich wusste gar nicht, dass es diese Vögel auch hier gibt.“
„Sie sind hier seit der Antike heimisch, und Jason hat sie angeblich nach dem Fluss hier benannt, der damals Phasis hieß, wie die Stadt, die wir heute Poti nennen. Sollen wir bei dem schönen Wetter einen kleinen Spaziergang durch die Stadt machen, um zu schauen, ob er uns wirklich folgt?“
Halef stimmte zu, und nachdem wir ausgetrunken hatten, schlenderten wir zunächst am Fluss entlang und bogen dann in eines der kleinen Gässchen ein, die uns auf der westlichen Seite des Rioni in die Händler- und Wohnviertel führten. Wir orientierten uns an den Ruinen der Bagrati-Kathedrale auf dem Ukimerioni-Hügel im Süden, zu denen wir später würden emporsteigen müssen, um die Nachricht von Marah Durimeh zu empfangen. Über Jahrhunderte war die 1003 vom georgischen König Bagrat III. erbaute Kirche eines der wichtigsten Gotteshäuser der orthodoxen Kirche gewesen; wir würden nur vor Ruinen stehen, denn 1692 war die Kathedrale von den Osmanen, die das Königreich Imeretien und dessen Hauptstadt Kutaissi überfallen hatten, gesprengt worden.
Um meinen Leserinnen und Lesern keinen falschen Eindruck zu vermitteln, möchte ich betonen, dass Kutaissi kein kleines Städtchen ist. Mit fast 30.000 Einwohnern hat die Stadt ungefähr die Größe von Bamberg, der von mir geliebten oberfränkischen Universitätsstadt, in der sich mein Verlag befindet und die aufzusuchen ich deshalb immer wieder das Vergnügen habe. Und wie Bamberg hat Kutaissi eine mittelalterliche Altstadt, in der wir uns nun bewegten und die nur wenige Quadratkilometer umfasst. Auch der Weg hinauf zur Kathedrale würde problemlos zu Fuß zu bewältigen sein; wenn auch ansteigend, so waren es doch nicht mehr als gute zwei Kilometer.
An diesem Nachmittag also schlenderten wir gemütlich durch enge Gässchen, in denen die meist zweistöckigen Häuser angenehmen Schatten warfen, bis wir uns vergewissert hatten, dass wir nicht verfolgt wurden, dann kehrten wir über die Rote Brücke zurück auf die Ostseite der Stadt. Wir bogen bald in die Tamar-Mepe-Straße ein, an deren Ende unser Gasthof lag. Als wir an einem schon etwas verfallenen kleinen Wohnhaus vorbeikamen, hörte ich aus einem offenen Fenster im ersten Stock vertraute Klänge: österreichisch gefärbtes Deutsch. Eine Frauenstimme deklamierte offensichtlich ein Gedicht, mit deutlichem Pathos. Ich blieb stehen und lauschte, Halef ging weiter und blickte sich dann erstaunt um. Ich gab ihm ein Zeichen, er möge auf mich warten und schweigen, und wies auf das Fenster. Was die Frau, die wohl eine geschulte Sprecherin war, rezitierte, kannte ich nicht, aber es faszinierte mich, und so nahm ich mein Notizbuch heraus, das ich, wie meine treuen Leserinnen und Leser wissen, wann immer möglich bei mir trage, und schrieb das Folgende mit:
„Die Chewsuren waren in der Schenke, im Kessel kochte der Met. Nun saßen sie auf dem Dach und schmausten, tranken den Met aus Schalen. Manche spielten das Panduri, andere sangen Gesänge gewaltiger Art und regten die Gefühle der Hörer mit Heldentaten an. Die Namen der Helden erwähnten sie mit Erregung in ihren Gedichten als Heilige. Die Alten rauchten die Pfeife, und Rauch umgab sie wie Nebel. Sie erzählten der Helden Taten und baten um Vergebung für sie. Die Jungen anzuspornen, erwähnten sie jene lobend.“
„Das Rauchen finde ich unpassend, liebste Bertha“, wurde die Deklamation von einer Männerstimme unterbrochen. „Du verwendest danach noch einmal das Wort Rauch. Was hältst du davon: Die Alten schmauchten die Pfeife, und Rauch umgab sie wie Nebel? Und vielleicht solltest du das Panduri erklären.“
Es war ein Moment Stille, dann hörten wir wieder die Frau:
„Das Schmauchen gefällt mir, mein Liebling, aber Panduri erkläre ich nicht, so wenig wie die Chewsuren – es sei denn, der Verleger ließe sich auf so etwas wie ein Glossar ein, ein Wörterverzeichnis, in dem dann beispielsweise zu den Chewsuren stünde: Bergvolk im Großen Kaukasus im Nordosten Georgiens, zu beiden Seiten des Kaukasus-Hauptkamms. Aber lass uns für heute das Übersetzen beenden, wir haben den ganzen Tag hart gearbeitet, lass uns zum gemütlichen Teil des Tages übergehen.“
Ich hatte gerade überlegt, diesem Paar einen Besuch abzustatten, aber der letzte Satz hielt mich davon ab. So packte ich mein Notizbuch weg und sagte zu Halef, während ich mit dem Kopf in Richtung unseres Gasthofs wies:
„Das sind interessante Landsleute, aber ich will sie heute Abend nicht mehr stören. Lass uns ins Gasthaus zurückkehren. Nachdem wir mit Marah Durimeh gesprochen haben und wissen, was sie von uns will, bleibt vielleicht die Zeit für einen Besuch, und da die beiden wohl schon länger hier leben, können sie uns vielleicht auch den einen oder anderen Ratschlag geben.“
Nach dem Abendessen unterhielten wir uns noch ein wenig darüber, was uns wohl am nächsten Tag erwarten würde. Ich zog das Schreiben von Marah Durimeh aus der Lederkapsel, in der ich es aufbewahrte, und las es noch einmal laut.
„Triff mich bitte in der Hauptstadt von Kolchis, der Stadt der Rosen und des Mai, am gekrönten Türmlein, wo die heilige Gottesgebärerin entschlafen ist, am Tag ihrer Aufnahme in den Himmel, wenn die Sext gebetet wird.“
„In Kutaissi sind wir, und dass wir zur Bagrati-Kathedrale müssen, ist auch klar“, meinte Halef. Wir hatten bereits herausgefunden, dass diese eigentlich ‚Kirche der Entschlafung der hochheiligen Gottesgebärerin‘ hieß, und bei unserem gestrigen Spaziergang auch das gekrönte Türmchen neben der Hauptruine gesehen, das der Zerstörung durch die Osmanen entgangen war und von dessen Spitzkuppel ein Kreuz emporragte. Halef fuhr fort: „Aber wann sollen wir dort sein? Das hast du mir noch nicht erklärt.“
Halef hatte Recht, darüber hatten wir noch nicht gesprochen. Ich erläuterte ihm:
„Sext ist eine Abkürzung für das lateinische sexta hora, die sechste Stunde. In der Antike hat man den Tag und die Nacht jeweils in zwölf Stunden eingeteilt, der Tag begann kurz vor Sonnenaufgang und endete kurz nach Sonnenuntergang. Die katholische Kirche hat das übernommen für ihre Gebetszeiten Prim, Terz, Sext und Non, benannte nach der ersten, dritten, sechsten und neunten Stunde des Tages. Marah Durimeh ist Christin und kennt diese Einteilung, mit Sext meint sie die Mittagsstunde.“
Ich sah, wie Halef kurz mit den Fingern nachrechnete, ehe er nickte.
„Das war klug von unserer Freundin, dass sie nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit auf eine Art verschlüsselt hat, dass sie sicher nicht jeder verstanden hätte, auch wenn die Nachricht in die falschen Hände gefallen wäre.“
Am nächsten Morgen stiegen wir nach einem ausgiebigen Frühstück den Ukimerioni-Hügel empor. Unsere Langwaffen hatten wir im Gasthof eingeschlossen; wir sahen keine Notwendigkeit, uns mehr als notwendig zu belasten. Die Sonne brannte vom Himmel, und der Weg war zwar nicht lang, doch steinig und führte stetig bergauf. Dabei begleitete uns ein Geruch, an den wir uns erst gewöhnen mussten: der eigentümliche, nicht unangenehme Duft von sonnengetrocknetem Büffelmist. In manchem Hof sahen wir Büffel als Zugtiere eingespannt, und auf einigen Wiesen grasten weibliche Büffel, die sowohl zur Milch- wie zur Fleischgewinnung gehalten wurden.
Die Kathedrale musste einst ein beeindruckendes Gebäude gewesen sein. Man konnte noch die ursprüngliche Dreikonchenanlage mit dem Kleeblattchor erahnen; von der großen zentralen Kuppel war natürlich nichts mehr zu sehen. Drei unterschiedlich hohe, turmartige Überreste ragten empor wie die letzten Zahnstümpfe im Kiefer eines alten Mannes, an ihren Wurzeln umwuchert von verwilderten Rosensträuchern, die viele Knospen und erste kleine Blüten trugen. Es waren wohl öfterblühende Rosensorten, deren zweite Blühperiode kurz bevorstand. Das „Türmlein“, wie Marah Durimeh es genannt hatte, ragte unbeschädigt seitlich von der ursprünglichen Kathedrale empor und wirkte aus der Nähe gar nicht mehr so klein; es erreichte sicher mehr als 20 Meter an Höhe.
Es waren nicht wenige Menschen hier oben, auch als Ruine hatte die Kathedrale offensichtlich Anziehungskraft als Sehenswürdigkeit. Während Halef sich im Schatten eines der hohen Ruinenteile niederließ, schlenderte ich ein wenig umher und versuchte, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Doch davon traf ich gar nicht so viele, hier waren mehr Russen als Georgier, vor allem Armeeangehörige, die am Schwarzen Meer, teils mit ihren Angehörigen, ihren Urlaub verbrachten. Von ihnen erfuhr ich, dass Zar Alexander II. Ende April Sultan Abdülhamid II. den Krieg erklärt hatte und deshalb seither in größerem Maße Wehrpflichtige eingezogen worden waren. Nun, nach drei Monaten, hatten die ersten Soldaten Fronturlaub. Für diese hatte die Kathedrale in der aktuellen Lage eine besondere Bedeutung, zeigte sie doch, zu was die Osmanen zumindest früher fähig und bereit gewesen waren, vor fast 200 Jahren – und deshalb wohl schickte die russische Regierung während des aktuellen osmanisch-russischen Krieges ihre Soldaten gerne im Fronturlaub hierher. Ich traf aber auch Geschäftsleute, die den schönen Sommertag zur Besichtigung nutzten; von ihnen erfuhr ich, dass die neue Bahnlinie schon zahlreiche Pläne angeregt habe; so wolle der Herzog von Oldenburg, ein Verwandter des russischen Zaren, in Kutaissi demnächst eine Sekt- und Branntweinfabrik errichten.
Nachdem ich festgestellt hatte, dass der unbeschädigte Turm zwar nicht so viel Aufmerksamkeit fand wie die Ruinenstümpfe, aber immer wieder von Neugierigen betreten wurde, schauten auch wir uns ihn gründlich an. Den würfelförmigen Unterbau von etwa fünf Metern im Quadrat betrat man durch einen Rundbogen, der sicher einmal mit einem zweiflügeligen Tor verschlossen gewesen war, wie die verosteten Angeln an den Wänden bewiesen. Der Raum unten, so hoch wie breit, war offensichtlich seit Langem unbenutzt und diente höchstens Tieren als Lager.
Über eine an einer Seite angelegte Steintreppe erreichten wir den etwas kleineren Würfelbau, der darüber lag und den wir durch eine etwa mannshohe gemauerte Türöffnung betraten. Die Treppe war breit genug, dass zwei Menschen aneinander vorbeigehen konnten, ganz eindeutig war der Turm nicht zur Verteidigung ausgelegt. Von dem oberen Stockwerk hatte es wohl mal eine Möglichkeit gegeben, auf die runde Plattform zu gelangen; durch die acht türähnlichen Öffnungen, deren Rundbogenabschluss sicher mehr als drei Meter über dem Boden lag, hatte man früher wahrscheinlich die Gegend im Auge behalten oder Signale verbreitet. Wir fanden keine Leiter oder dergleichen und verließen den Turm wie alle anderen Besucher deshalb wieder über die Treppe.
Wir zogen uns auf einen Beobachtungsposten seitlich der turmähnlichen Ruinen zurück und warteten auf die Mittagsstunde; hin und wieder fragten wir uns, wie Marah Durimeh uns hier, unter Beobachtung durch zahllose Menschen und im gleißenden Sonnenschein, eine Botschaft übermitteln wollte.
Ich war für einen Moment abgelenkt, als ich in der Menge einen der beiden Gefährten des ominösen Mister Brown zu erkennen glaubte, da stieß Halef mich mit dem Ellbogen an.
„Sihdi, sieh!“
Einen Moment zuvor hatte plötzlich eine kleine vollkommen schwarze Wolke die Sonne verdunkelt; sie warf einen scharfen Schatten genau auf die Wand des Turms, auf die Halef nun wies. Wahrscheinlich nur aus unserem Blickwinkel war zu erkennen, dass dieser Schatten eine bestimmte Form hatte, er zitterte zwar, doch konnte ich unschwer Buchstaben ausmachen: ein V, ein G und ein L. Dann verschwamm der Schatten, für einen kurzen Moment verwandelten sich die Buchstaben in MAT – und die Wolke löste sich auf.
Halef schaute mich aus aufgerissenen Augen an.
„Was sollte das, Sihdi?“
Ich grübelte einen Moment, dann nickte ich ihm zu.
„Lass uns einen Ort suchen, wo wir ungestört reden können.“
Und so saßen wir nun hier in der Kälte im Dunkeln, um kurz vor Mitternacht. Dem war des Nachmittags ein langes Gespräch mit Halef vorausgegangen; ihn zu überzeugen, sich hier des Nachts zu postieren, war nicht leicht gewesen.
„Ich habe es auch gesehen“, hatte er protestiert, als ich ihm erläutert hatte, dass und warum Marah Durimeh uns nun zur Mitternachtsstunde an diesen Ort bestellt hatte. „Wir haben doch alles richtig gemacht: Wir waren am richtigen Ort und zur richtigen Zeit, und ganz sicher auch am richtigen Tag, dem der Aufnahme von eurer Maria in den Himmel.“
Ich hatte mir eine kurze Zurückweisung nicht verkneifen können.
„Vergiss nicht, dass Mariam im Koran in mehreren Suren genannt wird und die 19. Sure sogar ihren Namen trägt; auch der Prophet hat sie als Mutter Jesu verehrt. Aber zugegeben, von einer Aufnahme in den Himmel spricht er nicht. Doch denke wieder an die Geheimhaltung und Verschlüsselung; offensichtlich befürchtet Marah Durimeh, dass uns jemand belauschen könnte, und ergreift deshalb diese Vorsichtsmaßnahmen.“
„Und du bist sicher, dass du die Hinweise richtig entschlüsselt hast?“
„Ziemlich sicher. Das VGL steht für Vigil, das ist die lateinische Bezeichnung für das Nachtgebet, und dieses wird auch Matutin genannt – das eine steht für Wachsamkeit, das andere für die morgendliche Stunde. Und beides beginnt um Mitternacht.“
„Na gut, dann werden wir im schlimmsten Fall eine schlaflose Nacht haben“, hatte Halef gegrummelt – und saß und fror nun neben mir. Es war kalt, denn der Himmel war unbewölkt, es war eine sternklare Nacht. Das matte Licht des Mondes, dessen dünne Sichel noch nicht einmal das erste Viertel erreicht hatte, ließ die zahnstumpfartigen Ruinen nur als düstere Silhouetten erscheinen, und wenn das Mondlicht für einen Moment seine Helligkeit veränderte – wahrscheinlich wegen einer für uns kaum sichtbaren Wolke, die vorbeizog –, schienen sich die Schatten zu bewegen. Für weniger gefestigte Männer, als wir es waren, oder Menschen, die an Geistererscheinungen glaubten, mochte diese Nacht über die Kälte hinaus noch ganz andere Schrecken bergen.
Wir beobachteten im Licht des Mondes den Turm, das „Türmlein“, wie Marah Durimeh es genannt hatte, hatten aber beide unsere Lichtquellen bereit: ich mein Fläschchen mit Öl und Phosphor, Halef seine Lichtkugel, für den Fall, dass die Nachricht unserer Freundin Beleuchtung nötig hätte. Wir unterhielten uns leise über die vergangenen Wochen und Monate, als ich mich plötzlich unterbrach und dann fortfuhr, als sei nichts gewesen:
„Ich glaube, wir werden beobachtet. Lass uns normal weiterreden, bis ich mich gleich kurz verabschiede, dann beobachte weiter den Turm.“ Ich reckte und streckte mich und sagte dann etwa lauter: „Ich muss mir ein wenig die Beine vertreten, mein guter Halef, und vor allem etwas loswerden.“ Dann erhob ich mich und ging langsam auf den rechten der Ruinenstümpfe zu, als wollte ich dahinter verschwinden.
Wer schon einige meiner Reiseberichte gelesen hat, kann sich wahrscheinlich denken, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte: kein leises Geräusch, denn das hätten der scharfe Wind und auch unser Gespräch übertönt. Nein, es war ein leichtes, wie phosphoreszierendes Schimmern gewesen, im Gestrüpp zwischen dem mittleren und dem rechten Ruinenstumpf. Ich kenne außer mir nur wenige Menschen, deren Auge genug geübt und deren Erfahrung groß genug ist, dies auszumachen, und nur einen einzigen, der dann, ohne den Beobachter vorher zu warnen, diesen mit einem Schuss, dem Knieschuss, dem schwersten Schuss überhaupt, ausschalten kann. Nur bei meinen Lehrmeister Winnetou sah ich nie einen Fehlschuss, selbst unsere Freunde Old Surehand und Old Firehand fehlten dabei ab und zu. Ich selbst wende diesen Schuss nur in äußerster Bedrängnis an, widerstrebt es mir doch zutiefst, einen Menschen zu töten, wenn es andere Möglichkeiten gibt. Heute Abend aber hätte ich gar keine Möglichkeit dazu gehabt, befanden sich doch meine Gewehre gut verschlossen in unserem Zimmer im Gasthof. Ich musste also anders vorgehen.
Langsam verschwand ich rechts hinter der rechten Ruine und eilte dann, mich so lautlos wie möglich bewegend, an deren Rückseite in Richtung des Gebüschs, an dem ich den Beobachter vermutete. Und richtig, im schwachen Mondlicht kaum auszumachen, aber unverkennbar lag dort, auf die Ellbogen gestützt und den Oberkörper leicht erhoben – Mister Brown.
Ich schlich mich vorsichtig von hinten an und riss ihm mit einer einzigen scharfen Bewegung beide Arme nach hinten und ihn nach oben.
„Holla, Mister Brown!“, rief ich gleichzeitig so laut, dass Halef es hören musste. „Brauchen Sie wieder mal Feuer? Ich könnte Ihnen mit Phosphor aushelfen.“
Brown antwortete nicht. Ich zerrrte ihn zu Halef, der geistesgegenwärtig mein Phosphorlämpchen entfachte, indem er den Stöpsel öffnete, um den Sauerstoff der Luft eintreten zu lassen. Als er es wieder zumachte, gab es einen so hellen phosphoreszierenden Schein, dass wir gut die unbewegten Gesichtszüge unseres Besuchers erkennen konnten.
Dieser meldete sich nun zu Wort:
„Mister Nemsi – wenn das denn Ihr Name ist, was ich sehr bezweifle –, was gibt Ihnen das Recht, mich hinterrücks zu überfallen und festzuhalten?“
Ich ließ ihn nicht los, lockerte aber meinen Griff etwas.
„Mister Brown – wenn das denn Ihr Name ist, was ich sehr bezweifle –, was gibt Ihnen das Recht, uns zu verfolgen und heimtückisch zu belauschen?“
Brown lächelte kalt.
„Dies ist ein freies Land, wenn auch nicht vergleichbar mit meinen geliebten USA. Doch auch wenn hier ein Zar herrscht, kann sich jeder freie Mann frei bewegen, wo und wie es ihm gefällt. Und mir beliebt es, die Nacht und den Mondschein hier oben zu genießen.“
Ich ließ ihn los.
„Und mir beliebt es, beides hier oben in Ruhe mit meinem Freund genießen zu können. Seien Sie so freundlich, in Zukunft Ihr Vergnügen ein wenig abseits von uns beiden zu suchen, sonst könnte ich unfreundlich werden.“
Brown tippte an seinen Stetson.
„Nichts für ungut, Mister – Nemsi. Ich denke, wir sehen uns wieder.“ Absichtlich geräuschvoll machte er sich an den Abstieg.
„Sihdi, warum hast du ihn gehen lassen?“, fragte Halef mich vorwurfsvoll, als Brown außer Hörweite war.
„Wir haben kein Recht, ihn festzuhalten“, entgegnete ich. „Er hat nichts offensichtlich Unrechtes getan, und auch wenn wir vermuten, dass er uns beobachtet, bleibt uns nichts, als in Zukunft noch vorsichtiger zu sein. Und dabei wissen wir noch nicht einmal, warum wir hier sind!“
„Das wird sich hoffentlich bald ändern!“, meinte Halef, und dann machten wir uns daran, die Gegend gründlich zu durchsuchen; noch einmal wollten wir uns nicht so überraschen lassen! Außerdem wurde uns dabei warm.
Um Mitternacht saßen wir auf unseren Decken auf einem Mauerrest und beobachteten den Turm. Plötzlich erschien in der Türöffnung auf dem oberen würfelförmigen Stockwerk das leicht durchscheinende Abbild einer jungen Frau, wunderschön und mit langen schwarzen Haaren – Marah Durimeh, wie wir sie in der Geisterwelt kennengelernt hatten.
„Seid gegrüßt, meine Freunde!“, rief sie uns leise zu und winkte uns heran. Wir traten so nahe an den Turm, dass wir sie noch gut sehen konnten und sie zugleich nicht so laut reden musste. Mir fiel auf, dass sie ihr Erscheinungsbild so geschickt in der Türöffnung platziert hatte, dass sie wahrscheinlich von kaum jemandem gesehen werden konnte – wenn überhaupt jemand außer uns sie wahrnahm.
„Es freut mich, treuer Halef, dass du deinen Freund begleitest, auch wenn ich dich nicht darum gebeten habe. Das tat ich nicht etwa, weil ich an deiner Tapferkeit oder deinem Geschick zweifle, sondern weil ich dich nicht schon wieder deiner Familie entreißen wollte. Doch da dies dein freier Wille ist, seid ihr mir beide herzlich willkommen, um an die schwere Aufgabe zu gehen, die zu erledigen ich euch bitte. Setzt euch und lauscht meinen Worten.“
Wir folgten ihrer Bitte, unfähig, etwas zu sagen, und ließen uns nieder. Nun erst wurde mir bewusst, dass wir von einem zarten Rosenduft umgeben waren, lieblich und sanft. Ging er von der Erscheinung im Turm aus?
„Ihr habt einen weiten und schnellen Ritt hierher bewältigt, dafür danke ich euch. In der nächsten Zeit müsst ihr mit anderen Wegen rechnen: viel kürzer, doch viel langsamer und schwerer zu bewältigen. In den Höhen des Kaukasus, nahe der Quelle des Enguri, liegt die höchste dauerhaft bewohnte Siedlung in Europa: Uschguli, eine Gemeinschaft von vier Dörfern. Es sind nur wenige hundert Kilometer bis dorthin, doch herrscht dort oben in Swanetien schon der Winter, und die Enguri-Schlucht ist nur schwer begehbar. Dennoch ist dies euer Ziel. Denn dort irgendwo, unterhalb des Gletschers, dem der Enguri entfließt, und des bisher unbestiegenen Berges Schchara, des höchsten Berges Georgiens, in der Nähe der Besingi-Mauer, hat sich ein Riss aufgetan zwischen der Geisterwelt und der euren. Durch diesen Riss fließt zunehmend Energie ab, aus der Geisterwelt in die Berge des Kaukasus. Und dies ist kein natürliches Phänomen und keines, das von unserer Seite aus zu bekämpfen wäre. Ich weiß nicht, wer dafür verantwortlich ist, doch es ist ein Mensch, ein Mensch aus eurer Welt, der diesen Riss aufgetan hat und ihn beständig erweitert. Dazu nutzt er perfiderweise sowohl mechanische wie magische Mittel, auch moderne Technologie und Wissenschaft. Ich weiß nicht, wer er ist und ob er dies ohne böse Absicht tut oder um uns zu schaden, aber ich weiß eines: Das muss aufhören! Wenn sich die Entnahme von Energie in gleichem Maße steigert, wird es die Geisterwelt im neuen Jahr nicht mehr geben.“
Marah Durimeh schwieg einen Moment und ließ uns Zeit, diese Katastrophenbotschaft zu verarbeiten. Wenn ich in Halefs entsetztes Gesicht blickte, konnte ich mir ausmalen, wie das meine aussah. Marah Durimeh sprach leise und langsam weiter:
„Und nicht nur das. Es wird auch Auswirkungen in eurer Welt geben – nicht so gravierende, aber es werden seltsame Dinge geschehen, und die Natur wird unberechenbarer werden. Ihr seid unsere einzige Chance auf Rettung. Niemanden sonst aus eurer Welt konnte ich erreichen, der uns helfen könnte, niemand sonst kann den Ernst der Lage wie ihr begreifen, niemand sonst kann wie ihr dieser Bedrohung auf gleichwertige Weise begegnen, mit körperlicher Kraft wie mit den Waffen des Geistes, mit Magie wie moderner Technologie und Wissenschaft. Ich sehe nicht voraus, was euch erwartet, doch soviel sehe ich: Ihr werdet nicht alleine kämpfen müssen. Nehmt an Hilfe sowie freundlicher Unterstützung und Begleitung an, was sich euch bietet, ihr werdet es brauchen. Ich habe einiges vorbereitet, von dem ihr manches nützlich finden mögt, sofern ihr den Kampf mit den richtigen Menschen aufnehmt. Und du, Kara Ben Nemsi, der du hier bald wieder auch zu Old Shatterhand werden musst, wirst einen alten guten mächtigen Freund treffen, der deine Hilfe vielleicht genauso nötig haben wird wie du die seine – jeder auf seine Art. Geht mit meinem Segen und kämpft für uns! Rettet uns!“
Die Erscheinung verblasste, und im schwachen Schein, den sie ausstrahlte, und im sanften Licht des blassen Mondes sah ich, dass sämtliche Rosen auf dem Ukimerioni erblüht waren.