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Viertes Kapitel Gräber und Türme

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Auf dem Ukimerioni war weitaus weniger los als am Vortag.

„Vielleicht, weil gestern dieser besondere Feiertag von Maria war?“, meinte Halef, und ich nickte.

So war es leicht, abseits der Ruine ein ungestörtes Plätzchen zu finden, wo wir alles um uns herum im Blick behalten und uns ungestört und unbelauscht austauschen und planen konnten.

Bevor Halef und ich den beiden Frauen von Marah Durimeh und unserem Auftrag erzählten, wollten wir wissen, was wir von Sofie Nelson zu halten hatten. Ann Lindsay war uns als Gefährtin natürlich jederzeit willkommen; wir konnten ihr bedingungslos vertrauen, nicht nur, weil sie die Nichte unseres Freundes Sir David Lindsay war, sondern auch weil sie schon mit uns als Kampfgefährtin in der Geisterwelt gegen Feinde gestritten hatte, von deren Existenz die meisten Menschen nicht einmal etwas ahnten. Zudem kannte sie sich mit Spiritismus aus, zumindest, wie er in Großbritannien verstanden wurde, wie sie mir vor unserem Abenteuer in der Geisterwelt erzählt hatte. Ihre Eltern waren Spiritisten und hatten vieles gelesen, was zu dem Thema veröffentlicht worden war. Nichts davon hatte ihr in der Geisterwelt genützt, aber ihre Unvoreingenommenheit hatte ihr den Zugang zu den seltsamen Phänomenen dort sehr erleichtert; sie hatte agiert, ohne viel zu fragen. Darin hatte sie es sogar leichter als ich, wie ich einräumen muss, trug ich doch trotz all der wundersamen Erlebnisse der letzten Jahre immer noch ein gehöriges Stück Skepsis mit mir herum. Die prinzipielle Existenz von Magie und gewissen übernatürlichen Kräften konnte ich so wenig leugnen wie ihre Wirkungen, doch über ihre Grundlagen, ihre Mechanismen und auch ihre jeweilige moralische Berechtigung war ich noch lange nicht mit mir im Reinen. Marah Durimeh jedoch vertraute ich bedingungslos, und so war ich bereit, mich mit Haut und Haaren dieser Aufgabe zu verschreiben. Wie aber würde das bei Sofie Nelson aussehen? Auf mich machte sie ganz den Eindruck einer bodenständigen, der Realität zugeneigten Person.

So grübelte ich, während wir unsere Decken und darauf die unterwegs für ein kleines Picknick erworbenen Köstlichkeiten ausbreiteten: Chatschapuri, das sind in Imeretien runde überbackene Käsebrote, Chinkali, Teigtaschen mit verschiedenen Füllungen aus Hackfleisch und Käse, dazu Trauben, Äpfel und Birnen und zwei Flaschen des köstlichen leichten Weines, den ich am Mittag im Gasthaus kennengelernt hatte, sowie eine Flasche Traubensaft für Halef.

Ann hatte mir wohl angesehen, dass ich mich mit schweren Gedanken trug, ließ sich mit Vehemenz und Eleganz auf einer der Decken nieder, schlug mit der Hand neben sich auf den Boden und rief: „Na los, setzen Sie sich zu mir, Mister Kara, es ist Zeit zum Picknicken, und danach erst wird sich Problemen gewidmet. Solange kann Sofie ein wenig über sich erzählen, wir anderen kennen uns ja schon ganz gut.“

Ich war überrascht, wie feinfühlig Ann reagiert hatte; wieder überlegte ich, dass sie wohl während unserer Trennung sehr an Reife gewonnen hatte, und fragte mich, auf was für einer ‚Expedition‘ sie wohl war.

Während ich mich – weitaus weniger elegant – niederließ, fragte Sofie mich:

„Wie soll ich Sie ansprechen? Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie wie Ann Mister Kara nenne?“

Ich nickte.

„Gerne, wenn ich Sie Sofie nennen darf.“

Nun ließ sich Halef vernehmen:

„Und ich bin einfach Halef für alle und möchte weiter Sihdi zu dir sagen, Sihdi.“

Ich musste lachen.

„Du darfst mich gerne immer so nennen, wie du willst, mein lieber Halef.“

Solange wir uns dem Picknick widmeten, erzählte Sofie von sich und ihren Zielen. Sie war vor 19 Jahren in Québec geboren als einziges Kind des vermögenden Winzers und Weingroßhändlers Frederic Victor Nelson und zweisprachig aufgewachsen, mit Englisch und Französisch. Ihr Vater war nicht nur sehr belesen, sondern auch weit herumgekommen; bei seinen vielen Reisen nach China, Afrika und Europa war er stets von einem Freund und Leibwächter begleitet worden, dem schon erwähnten Johann Friedrich Hartmann. Nach Sofies Geburt hatte er das Reisen eingestellt; Hartmann, diente ihm als Scout und Trapper und zunehmend auch als Sofies Sprach- und Musiklehrer angestellt. Die von ihrem Vater geerbten Eigenschaften, eine enorme Wissbegierigkeit und Lesefreude gepaart mit Abenteuerlust und Reisefreudigkeit, wurden durch Hartmann wohl noch verstärkt.

„Ich habe alles gelesen, was mir an Abenteuerliteratur in die Hände fiel, von der Odyssee bis zu Daniel Defoes Robinson Crusoe und natürlich Alexandre Dumas’ Der Graf von Monte Christo. Besonders haben mir die Lederstrumpfgeschichten von Cooper gefallen, zu denen Onkel Johann ein besonderes Verhältnis hat, hinter das ich jedoch noch nicht gekommen bin. Ich lese auch gerne Bücher über moderne Erfindungen oder die Zukunft wie die von Jules Verne. Und als er mir Deutsch beigebracht hat, hat Onkel Johann mich die Amerikaromane von Friedrich Gerstäcker lesen lassen, wie Die Regulatoren in Arkansas, Die deutschen Auswanderer und Die Flusspiraten des Mississippi. Und natürlich habe ich alles gelesen, was Sie veröffentlicht haben, Mister Kara, das hat Onkel Johann mir immer gleich nach Drucklegung besorgt: die Erzählungen Ihrer Orientabenteuer, dann Der Scout und Old Firehand, Der Schatz im Silbersee – und natürlich Winnetou. Ist das ein Mann!“ Sie wurde rot und hob schnell das Glas Wein an den Mund, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

So erwachsen sie sich gab, sie war doch noch ein richtiger Backfisch! Meine neueren Bücher hatten sie wohl noch nicht erreicht, die Bände über Old Surehand; und ob mein Verlag inzwischen den ersten Band meiner Berichte über unsere Kämpfe mit Al-Kadir und später dem Schut in Druck gegeben und veröffentlicht hatte, wusste ich nicht. Das würde ich wohl erst erfahren, wenn ich nach Hause zurückgekehrt sein würde.

„Oh, ich war so froh, dass ich mit Ann reisen darf, weil ich ja in den Orientbüchern über ihren Onkel gelesen hatte. Und ich bin so aufgeregt, dass ich Ihnen begegnet bin, Mister Kara, einem der Idole meiner Jugend. Ihr Freund Halef ist ja fast so ein großer Held wie Winnetou. Sind Sie zwei wieder auf einer wichtigen Tour, um das Böse zu bekämpfen? Dürfen Ann und ich dabei sein?“ Plötzlich schlug sie sich die Hand auf den Mund. „Oh, ich plappere zu viel. Das passiert mir immer, wenn ich aufgeregt bin.“ Sie lief noch röter an und senkte verlegen den Kopf.

Halef und ich sahen uns an, dann mussten wir beide plötzlich lachen.

„Das hast du nun davon, dass du deine Bücher schreibst, Sihdi“, meinte Halef, immer noch lachend – wie immer, wenn er wollte, dass die Frauen ihn verstanden, auf Englisch. „Nun sind wir plötzlich Idole für junge Frauen. Hoffentlich erfährt Hanneh nichts davon.“

Nun musste auch Ann lachen.

„Das wird sie dir sicher nicht übelnehmen, Halef. Im Gegenteil, sie wird stolz auf dich sein. Wer unter den Frauen und Töchtern aller Beduinenstämme hat schon einen Mann, über dessen Ruhm sogar in Kanada gelesen wird!“

Mir war schon im Laufe des Nachmittags aufgefallen, dass das Verhältnis von Ann und Halef sehr vertraut geworden war, sicher wegen ihrer mutigen und gelungenen Aktion mit seiner Leuchtkugel im Kampf gegen Qendressa; das bestätigte sich nun, und ich freute mich darüber. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass Sofie natürlich über uns schon ziemlich viel wusste. Es war dies nach der Episode mit Kapitän Nemo, der Winnetou gelesen hatte, schon das zweite Mal, dass meine Bücher solche Ergebnisse zeitigten, und zum ersten Mal, dass es bei einer potenziellen Mitstreiterin der Fall war. Ich nahm mir vor, in Zukunft genauer darüber nachzudenken, was alles und wie genau ich etwas in meinen Büchern beschreiben würde; vielleicht sollte doch manches besser unausgesprochen bleiben.

Ich nickte nun Sofie zu.

„Es ist schon gut“, meinte ich in beruhigendem Ton. „Mir ging es manchmal schon ähnlich, als ich als junger Westmann der einen oder anderen lebenden Legende begegnete. Doch sie alle waren und wir beide sind Menschen wie alle anderen, deshalb seien Sie bitte so liebenswürdig, uns auch so zu behandeln. Aber Sie haben Recht, Sofie, wir sind in einer besonderen Mission unterwegs, bei der wir durchaus auch Hilfe gebrauchen können. Bevor wir aber entscheiden, ob Ann und Sie uns dabei unterstützen dürfen, würden wir gerne von Ihrem Vorhaben und Ihrer Reiseabsicht erfahren, also fahren Sie doch bitte in Ihrem Bericht fort.“

Sofie schluckte, dann nickte sie, hob entschlossen den Kopf und schob das eckige Kinn vor.

„Ich werde einst das Weingut erben. Deshalb studiere ich seit einem guten Jahr Weinbau. Ich möchte das aber nicht nur theoretisch machen, sondern auch praktische Erfahrungen sammeln und werde darum in den nächsten Jahren immer wieder ein paar Wochen oder Monate in bekannte Weinbaugebiete fahren, um dort die Menschen und Methoden kennenzulernen. Ich beginne mit Georgien, weil Ivane, also Herr Gvenetadze, als er uns vor fünf Jahren besucht hat, einem damals vierzehnjährigen Mädchen den Kopf verdreht hat mit den Beschreibungen seines wunderschönen Landes und mit Erzählungen von dessen uralter Kultur, von Drachen und dem goldenem Vlies und zaubernden Prinzessinen und mächtigen Königinnen. Ich habe einen Professor davon überzeugen können, dass ich vielleicht vor Ort Beweise finden könnte für die These der Georgier, dass ihr Land die Wiege des Weinbaus sei, dass hier vor fast 8.000 Jahren die ersten Reben kultiviert und der erste Wein angebaut wurden. Auf der Überfahrt hörte ich von einem Mitglied des Traveller’s Club, dass dieser inzwischen eine Damenabteilung habe und deren einzige Anwärterin in Georgien bestimmte Forschungen erfolgreich abschließen müsse, um als vollwertiges Mitglied aufgenommen zu werden. Als ich ihren Namen erfuhr, musste ich sofort an Lord Lindsay denken, von dem ich in den Orientromanen gelesen hatte, und dachte, sie wäre mir bestimmt sympathisch und eine angenehme Reisegefährtin. Und so änderte ich meine Route und konnte sie in London abpassen. Seither reisen wir in Gesellschaft.“

Ann lachte.

„Du kannst ruhig mit der ganzen Wahrheit rausrücken. Erzähl den beiden, wie du mich dazu gebracht hast, mit dir zu reisen. Wegen Weinbauhistorie hätte ich das sicher nicht getan. Sofie ist mindestens so romantisch wie ich. Naja, sie ist ja auch fast ein Jahr jünger.“

Ich hatte mich inzwischen wieder so sehr an das Auf und Ab von Anns Stimme gewöhnt, dass mich ihr letzter Satz, bei dem sie plötzlich die Stimme gesenkt hielt, überraschte; dann sah ich ihr Lächeln und das Funkeln in ihren Augen und merkte, dass sie wohl einen nur für die zwei Frauen bestimmten Scherz gemacht hatte. Ich ließ mich auf das Spiel ein und fragte Sofie in bewusst ernstem Ton und mit tiefer langsamer Stimme:

„Was für ein Geheimnis schleppen Sie noch mit sich herum, wertes Fräulein?“

Sofie schaute mich erst erschrocken an, musste dann aber lachen.

„Ich habe seit meiner frühen Jugend etwas, was man im Traveller’s Club wohl einen Spleen nennen würde. Als ich bei Onkel Johann Deutsch lernte, fiel mir in unserer Bibliothek eine 1850 gedruckte deutsche Übersetzung der Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum in die Hände, also der Geschichte des Erzbistums Hamburg, die Adam von Bremen im 11. Jahrhundert verfasst hat. Und darin wird erwähnt, dass die Wikinger Vinland entdeckt haben. Ich habe dann weiter geforscht, und in verschiedenen isländischen Sagas wird erzählt, wie Bjarni Herjólfsson, Thorvald Eiriksson und Leif Eriksson um das Jahr 1000 nach Amerika gekommen sind. Wahrscheinlich sind sie in Nova Scotia gelandet, einer unserer kanadischen Seeprovinzen, die wir auch Nouvelle-Écosse nennen, oder in Neufundland. Sie nannten das Land Vinland. Ich bin überzeugt, dass die Wikinger die ersten Winzer Kanadas waren und dass der Wein, den unsere Familie anbaut, zurückgeht auf Leif Eriksson, den Sohn Eriks des Roten. Und das werde ich irgendwann beweisen!“

Sofies Stimme war immer kräftiger geworden, sie hatte den Oberkörper angespannt und verkündete den letzten Satz im Brustton der Überzeugung. Auch wenn ich ihre Meinung nicht teilte, bewunderte ich die Haltung der jungen Frau, und so sagte ich:

„Ein großes Ziel, Sofie, und ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg. Aber hier in Georgien werden Sie diesen wohl kaum finden. Was ist das denn für eine Aufgabe, die man Ihnen gestellt hat, Ann?“, wandte ich mich an unsere britische Freundin.

„Wie gut kennen Sie die georgische Geschichte des Mittelalters?“, fragte sie zurück.

Halef antwortete ihr.

„Der Sihdi weiß viel, aber ich nur ganz wenig.“

Ann griff in eine ihrer Gürteltaschen und zog einen silbernen Zylinder von etwa 20 Zentimetern Länge hervor, der unten rund abgeschlossen war, oben an der Seite einen offenen Griff oder Haken und einen Schraubverschluss hatte.

Ich musste lachen.

„Ein Bierwärmer!“

Halef und Sofie schauten mich fragend an.

„Man füllt den Zylinder mit warmem Wasser, wenn man Bier erwärmen will, oder auch mit Eis, um das Bier kühl zu halten; mit dem Haken kann man den Zylinder an einen Glasoder Krugrand hängen“, erklärte ich.

Ann lächelte entschuldigend.

„Man kann dieses alte Erbstück unserer Familie aber auch viel sinnvoller nutzen“, meinte sie, schraubte den Deckel ab und entnahm dem Rohr vorsichtig ein paar zusammengerollte Papiere. „Das sind zwar nur Abschriften, aber sie sind dennoch wertvoll. Es geht um das Grab der berühmten Königin Tamar.“

Sie blickte Halef und mich an.

„Tamar herrschte im Goldenen Zeitalter Georgiens, von 1184 bis 1213. Sie war die Urenkelin von David dem Erbauer, der Georgien von den seldschukischen Türken befreit und vereint hatte. Tamar gilt neben ihm als bedeutendstes Mitglied der Bagratiden-Dynastie, die seit dem 9. Jahrhundert die georgischen Könige stellt und auch heute noch, nach der Entmachtung Anfang dieses Jahrhunderts, offiziell das georgische Königshaus ist. Tamar war so mächtig, dass Friedrich Barbarossa ihr einen seiner Söhne als Ehemann anbot, sie heiratete aber einen georgischen Fürsten. Sie modernisierte das Land, Wirtschaft, Kultur und Justiz, schaffte die Todesstrafe ab, unterstützte Wissenschaft und Kunst. Das berühmte Epos Der Recke im Tigerfell schrieb ihr Finanzminister und wahrscheinlicher Liebhaber, Georgiens Nationaldichter Schota Rustaweli, in ihrem Auftrag. Als sie 1213 starb, soll ihr letzter Wille gewesen sein, dass sie nicht an einem bestimmten Ort begraben werde, sondern ganz Georgien ihr Grab sein solle. Angeblich wurden vier verschlossene Särge in die vier Himmelsrichtungen gebracht, und da die Träger Selbstmord begingen, weiß niemand, wo sie begraben liegt.“ Ann hob die Papierrollen empor. „Das sind Kopien von Pergamenten, die darauf hinweisen, dass die Grabstätte von Königin Tamar in den berühmten Steintürmen von Mestia zu finden ist. Und dorthin führt unser Weg. Wir wollen in den Türmen und Ruinen suchen, bis wir das Grab von Tamar gefunden haben. Und wenn mir das gelingt, kann mir niemand mehr die Aufnahme als Vollmitglied im Traveller’s Club verwehren.“

Halef und ich sahen uns an, er nickte mir zu.

„Dann ist es jetzt an der Zeit, dass wir euch berichten, welches unser Auftrag ist“, begann ich und erzählte, was uns widerfahren war, seit wir bei den Haddedihn angekommen waren. Als ich von der ersten Begegnung mit Mister Brown berichtete, unterbrach mich Sofie.

„Diese drei Männer habe ich auch gesehen. Sie haben uns beobachtet, als wir ankamen, das war vor vier Tagen.“ Sie wandte sich an Ann. „Du hast das noch als Hirngespinst abgetan.“

Ann nickte.

„Ich wollte es nicht glauben, dass jemand uns verfolgen sollte, warum auch. Aber jetzt sieht es so aus, als ob alle Neuankömmlinge im Visier dieser drei Herrschaften sind. Wir müssen uns vorsehen.“ Dabei sah sie sich betont auffällig um.

Ich fuhr mit meinem Bericht fort; als ich kurz die Gedichtsrezitation erwähnte, wurde ich wieder von Sofie unterbrochen.

„Das muss die Bekannte von Onkel Johann sein, von der er mir geschrieben hat. Das ist eine junge Gräfin, die einen Mann geheiratet hat, dessen Familie damit nicht einverstanden war und die ihn deshalb enterbt hat. Jetzt leben sie in Georgien als Gäste der Fürstin Dadiani von Mingrelien mehr schlecht als recht von Übersetzungen, Essays und journalistischen Arbeiten. Ich wollte sie gestern besuchen, aber sie sind verreist. Wahrscheinlich treffen wir sie in Sugdidi bei Onkel Johann. Er will mir ein paar Auszüge aus den Übersetzungen zeigen, die Bertha gerade von diesem georgischen Nationalepos anfertigt, das Ann vorhin erwähnt hat.“

„Der Recke im Tigerfell“, warf ich ein. „Da hat sie sich aber ein schweres Stück Arbeit vorgenommen.“

Sofie nickte.

„Aber diese Bertha soll eine hervorragende Dichterin und Übersetzerin sein. Und wenn Onkel Johann das schreibt, dann glaube ich ihm.“

„Das schien mir auch so bei der Übersetzung, die ich mitanhörte. Mich würde interessieren, was das Original ist. Ich werde morgen unseren Weinhändler danach fragen.“ Doch zunächst berichtete ich weiter und erntete zunehmend gespannte Aufmerksamkeit und mehr als einen wütenden Ausruf, so bei der wiederholten Begegnung mit Mister Brown in der Nacht auf diesem Hügel hier.

„Recht so“, kommentierte Ann, als ich die etwas unsanfte Behandlung schilderte, die ich ihm hatte angedeihen lassen, „der ist noch viel zu gut weggekommen.“

Sofie aber schaute regelrecht verzückt bei meiner Beschreibung, wie ich Brown entdeckt und mich angeschlichen hatte.

„Wie in Ihren Abenteuern mit Winnetou!“ flüsterte sie.

Alle Verzückung jedoch war verschwunden, als ich von der Begegnung mit Marah Durimeh berichtete; ich blickte nur in ernste Gesichter.

„Freundliche Unterstützung und Begleitung, damit sind doch sicher wir gemeint“, meldete Ann sofort ihren Anspruch an – und weder wollte noch konnte ich ihr widersprechen. Ehe ich etwas Bestätigendes sagen konnte, antwortete Halef:

„Wir würden uns freuen, wenn ihr dabei wärt. Deine Godiva hat schon mehr als einmal ihre Nützlichkeit unter Beweis gestellt, und du bist mit den Tücken der Geisterwelt vertraut und hast keine Angst vor Magie. Sofie kann auch mit einem Gewehr umgehen, wie ihre Kleidung aus dem Leder eines selbst geschossenen Elks beweist. Ich bin sicher, Marah Durimeh hat euch im Sinn gehabt.“

Ich war nur kurz überrascht über diese lange und sehr deutliche Rede von Halef, doch dann wurde mir bewusst, wie wichtig ihm das sein musste: in diesem fremden Land Unterstützung durch Menschen zu finden, die ihn verstanden und wie Ann sogar mit ihm Erfahrungen und Vorstellungen teilten. Schließlich ging es mir nicht anders. Also nickte ich ausdrücklich zu Halefs Worten.

„Vielleicht gehört Onkel Johann auch zu unseren Unterstützern“, ließ sich Sofie nachdenklich vernehmen. „Obwohl er wahrscheinlich nicht für längere Zeit aus Sugdidi weg kann, doch kann er uns vielleicht einen Rat geben. Wer aber kann der alte, gute, mächtige Freund sein, den Mister Kara treffen soll?“

Dieses Rätsel hatten wir auch am nächsten Morgen noch nicht gelöst, als wir uns in unserem Gasthaus zum Frühstück trafen. Der Nachmittag war mit Planungen und Überlegungen vorübergegangen, dann hatten wir die Pferde noch einmal bei Dawit Tscheidse untergestellt und die Gelegenheit genutzt, uns für unsere Inkognitonamen zu entschuldigen und ihm unsere wahre Identität zu offenbaren. Für den Morgen hatten wir uns verabredet, um ein paar Dinge mit Ivane Gvenetadze zu besprechen. Zunächst aber nahmen wir die Waffen von Sofie in Augenschein.

„Das ist natürlich nichts so Außergewöhnliches wie Ihr Henrystutzen, Mister Kara“, sagte sie, als sie mir ihre Jagdflinte reichte. „Aber etwas Besonderes ist es schon.“ Sie beobachtete mich mit unverkennbarem Stolz.

Obwohl ich ein Gewehr dieses Jahrgangs noch nie in Händen gehalten hatte, erkannte ich es sofort.

„Eine Winchester 1873“, bemerkte ich, während ich die Waffe sorgfältig musterte. Natürlich war mir gleich die Inschrift auf der Laufoberseite aufgefallen, doch tat ich, als hätte ich sie nicht bemerkt. „Der neueste Unterhebelrepetierer mit Kniegelenkverschluss aus dem Hause der berühmten Winchester Repeating Arms Company für den Massenmarkt.“ Ich warf Sofie einen Blick zu. „Sie wissen, dass Sie damit auch die Munition fast aller Revolver verwenden können? Das ist sehr praktisch. Ein wunderschönes Jagdgewehr.“ Ich merkte, dass Sofie vor Spannung fast platzte, doch tat ich so, als sei mir nichts aufgefallen. „Von wem haben Sie es?“

„Onkel Johann hat es mir zum 18. Geburtstag geschenkt. Und es ist wirklich etwas ganz Besonderes.“

Ich musste lachen.

„Ich habe das schon gesehen, Sofie, und ja, Glückwunsch!“

Die Waffe war nicht nur mit außerordentlich eleganten Gravuren versehen, sondern auf dem Lauf waren die Worte eingraviert: „One of One Thousand“. Seit 1875 wählte Winchester von jeweils 1.000 probegeschossenen Gewehrläufen den präzisest schießenden aus und fertigte daraus ein Gewehr höchster Qualität; ein solches hielt ich nun in Händen. Billig war das Geschenk nicht gewesen; während die ‚normale‘ Ausführung mit 40 Dollar schon mehr als den durchschnittlichen Monatslohn eines Cowboys kostete, zahlte man für eine der Tausend das Zweieinhalbfache.

„Ein Meisterwerk“, sagte ich, „aber an meinen Henrystutzen kommt die Waffe nicht heran, mehr als maximal 16 Schuss hat Winchester noch nicht hinbekommen. Trotzdem eine wunderbare Büchse. Schießt Ihr Onkel Johann auch eine solche Winchester?“

Sofie nahm ihr Gewehr entgegen und drückte mir nun ihren Revolver in die Hand.

Halef hatte die ganze Szene beobachtet, ohne ein Wort zu sagen; immer noch wortlos streckte er Sofie beide Hände entgegen. Sie reichte ihm die Winchester und antwortete mir:

„Ja, aber eine normale. Und er hat auch den gleichen Revolver wie ich. Er will, dass ich möglichst gut ausgerüstet bin.“

Ich hielt den Verkaufsschlager der Colt’s Patent Fire Arms Manufacturing Company in Händen: den Kavalleriecolt 1873, der seit diesem Jahr auch Winchesterpatronen verschießen konnte. Dieser Colt war unter anderem deswegen nicht nur in der Armee, sondern auch bei Cowboys so beliebt, dass dafür schon der Spitzname ‚Peacemaker‘ im Umlauf war.

„Auch das ist eine schöne Waffe“, stellte ich fest und nahm mir vor, so bald wie möglich einen ausführlichen Vergleich mit meinen beiden Smith & Wesson Model No 3 von 1870 durchzuführen. Schließlich sollte auch ich auf dem neuesten Stand der Waffentechnik und bestens ausgerüstet sein.

Halef gab Sofie ihre geliebte Winchester zurück.

„Ich würde gerne einmal damit ein paar Probeschüsse machen“, meinte er und fuhr fort, zu mir gewandt: „So ein Gewehr würde mir auch gefallen.“

Ich merkte mir das; wenn ich das nächste Mal in Amerika war, würde ich eine Winchester für ihn als Geschenk besorgen. Obwohl es vielleicht auch hier welche zu erwerben gab …

Gvenetadze betrat den Raum und zuckte für einen Moment zurück angesichts des Waffenarsenals auf unseren Plätzen, dann setzte er sich zu uns. Wir hatten ihn am Tag zuvor gebeten, sich nach Brown und Konsorten umzuhören, doch dazu konnte er uns nichts sagen. Wie schon erwähnt, ist Kutaissi kein Dorf, sondern eine größere Stadt, in der man sich leicht verbergen kann.

Ich nahm mein Notizbuch heraus und las ihm die Zeilen vor, die ich mir ein paar Tage zuvor notiert hatte, wobei ich sie natürlich ins Russische übersetzte:

„Die Chewsuren waren in der Schenke, im Kessel kochte der Met. Nun saßen sie auf dem Dach und schmausten, tranken den Met aus Schalen. Manche spielten das Panduri, andere sangen Gesänge gewaltiger Art und regten die Gefühle der Hörer mit Heldentaten an.“

Gvenetadze unterbrach mich:

„Das klingt nach der Legende von Mindia, dem Schlangenesser. Das ist eine alte Sage um einen Helden, der nach langer Gefangenschaft frei kommt und durch das Essen eines besonderen Schlangenmahls die Fähigkeit erwirbt, die Sprache der Pflanzen und Tiere zu verstehen und zu sprechen. Ich wusste nicht, dass jemand diese alte Legende in Verse gefasst hat. Warten Sie, ich will versuchen, mich zu erinnern.“ Er versank einen Moment in Gedanken, dann stand er auf und deklamierte – natürlich ebenfalls auf Russisch und ohne Reim, und ich übersetze es ebenso roh ins Deutsche:

„Zwölf Jahre lang sollen böse Geister Mindia gefangen gehalten haben. Die Gefangenschaft nahm ihn stark mit, und ebenso das Fernsein von der Heimat. Die Zeit verstrich, es vergingen manche Ostern und Weihnachten, und die Gefangenschaft nahm kein Ende. Die Sklaverei schmolz ihm das Herz. Er sehnte sich nach dem Tode. Einmal sah er auf dem Feuer einen Topf stehen, das Essen der Geister. Er wusste, sie kochten Schlangen und aßen das oft. Er hoffte, ihm werde das schlecht bekommen. Er nahm sich ein Stückchen heraus und verzehrte es heimlich, mit viel Ekel. Doch da blickte der Himmel gnädig auf den Gefangenen hernieder: Es kam neues Leben in ihn, sein Leib erstarkte. Wie einem zuvor Blinden und Tauben gingen ihm Herz und Augen auf. Von dem Tag an verstand er alles, was die Vögel singen, oder wann Pflanzen und Lebewesen glücklich sind und wann sie leiden. Was Gott geschaffen hat, Lebendiges und Seelenloses, alles hat seine Sprache, das fühlte der Gefangene, und er staunte selbst ob der Veränderung seines Wesens. Von da an lernte er alle Künste der Geister, vor nichts mehr kannte er Furcht. Der Gefangenschaft entkam er, denn nun war er so schnell wie der Blitz, hatte Zauberkraft wie die Schlange. Königin Tamar sagte immerfort: Hätte ich bloß Mindia bei mir und mit ihm sein Volk, dann könnte der Feind, wie sehr er es auch versucht, mir nichts anhaben.“

Der Weinhändler verstummte, setzte sich, nahm einen tiefen Schluck von dem Wein, den ihm der Wirt wortlos während seines Vortrags hingestellt hatte, und sagte nach einem Seufzer:

„Das ist nur ein kleiner Auszug, es geht noch viel weiter, darüber, wie Mindia lebt und kämpft und herrscht und stirbt, aber mehr weiß ich nicht mehr.“

Ich übersetzte den anderen den wesentlichen Inhalt.

Halef schüttelte sich.

„Wenn dieses Volk solche Legenden hat, dann bin ich sehr gespannt, was uns in seinen Bergen erwartet.“

Das magische Tor im Kaukasus

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