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Fünftes Kapitel Kampf im Palast

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Wir brachen am nächsten Morgen früh auf. Nach Sugdidi, wo wir uns mit Winterausrüstung eindecken wollten, waren es voraussichtlich drei Tagesreisen, wenn wir die Pferde nicht allzusehr anstrengten.

Am Nachmittag zuvor hatten wir in Kutaissi noch Proviant für drei Tage besorgt und von unserem Bekannten, dem Weinhändler Gvenetadze, einige Flaschen des Weins aufgedrängt bekommen, der uns so geschmeckt hatte. Er wusste zwar nicht, was wir vorhatten, aber er hatte uns das Versprechen abgenommen, ihn auf der Rückreise nach Kutaissi holen zu lassen, falls wir dort wieder einkehrten, um ihm zu erzählen, was wir erlebt haben würden. Wir gaben dieses Versprechen leichten Herzens, uns dessen wohlbewusst, dass er nur eine gekürzte, von Geheimnissen bereinigte Version erhalten würde. Was ich später in meinen Reiseberichten veröffentliche, entscheide ich erst nach reiflichen Überlegungen

Wir ritten durch die Kolchische Tiefebene, die sich von der Schwarzmeerküste im Westen bis zu den Bergen des Großen Kaukasus im Nordosten und denen des Kleinen Kaukasus im Süden erstreckt, und hatten deshalb durchgehend leichtes Gelände. Wir mieden die Ortschaften, waren wir so doch unabhängiger und hatten Gelegenheit, uns zu unterhalten und besser kennenzulernen. Die beiden Frauen erwiesen sich als ausgesprochen angenehme und kundige Gesprächspartnerinnen. Beide hatten eine gute Bildung genossen, wenn auch in unterschiedlichen Ländern, beide waren sprachbegabt und -gewandt, und es war ein Vergnügen, ihnen bei ihren gelegentlichen Kabbeleien zuzuhören. Dabei drehte es sich mal um Mode, mal um Literatur, oft aber auch um Entwicklungen im British Empire. Lady Annabelle Boudicca Lindsay war eine wenn auch aufgeschlossene, so doch typische Vertreterin der britischen Adelsgesellschaft, während Sofie Nelson als überzeugte Demokratin Adel als gesellschaftlich überholt ablehnte und eine glühende Vertreterin der gerade zehn Jahre alten Unabhängigkeit des Dominion of Canada war. „Ich war neun, als das Gesetz in Kraft getreten ist, das war mitten in den Sommerferien, und es gab überall riesige Feiern, und ich habe zum ersten Mal ein Feuerwerk gesehen! Seit dem Tag sind wir in Québec eine eigene Provinz und ist Kanada selbstständig.“

Ann nahm die aufgeregte Stimmung ihrer Freundin mit überlegener Miene und Ruhe hin.

„Aber von unserer alten Queen Victoria lasst ihr euch noch gerne vertreten! Immerhin teilen wir uns ein Staatsoberhaupt!“

Das Geplänkel konnte nur ich genießen; die jungen Damen unterhielten sich in Französisch, das Halef nicht verstand.

Ich mischte mich in das Gespräch ein.

„Darf ich fragen, warum Sie nicht Englisch sprechen?“, fragte ich.

„Es ist schon so lange her, dass ich Französisch im Internat gesprochen habe“, antwortete mir Ann, „ich bin froh, dass ich es wieder üben kann. Sofie ist ja damit aufgewachsen.“

„Ja, aber mit kanadischem Französisch“, warf ihre Freundin ein. „In Europa gibt es schon ein paar sprachliche Besonderheiten. Und für unsere Reise ist es gut, wenn wir beide uns in der Sprache zu Hause fühlen, hat mir Ann erklärt.“

Ich sah diese fragend an.

„Wir werden vielleicht auf georgische Adelige treffen. Und die Sprache des Adels in ganz Europa ist nun mal Französisch.“

„Aber gehört Georgien überhaupt zu Europa?“, überlegte ich laut.

Es entspann sich eine lebhafte Diskussion, wo eigentlich Europa und wo Asien beginne. Ann und Sofie waren der Auffassung, die im englisch- und französischsprachigen Raum seit Jahrhunderten allgemein anerkannt ist: Die Grenze zwischen Europa und Asien bilde der Kaukasus, speziell die Wasserscheide zwischen der Nord- und der Südflanke, wir befänden uns also eindeutig in Europa. Im deutschen Sprachraum ist eine andere Ansicht verbreitet, die auf der Grenzziehung des schwedischen Offiziers und Geografen Philip Johan von Strahlenberg basiert; er hatte sie im Auftrag des russischen Zarenhauses vorgenommen und sie wurde 1730 von diesem akzeptiert. Wenn man dem folgend die Manytsch-Niederung als Südost-Grenze Europas akzeptierte, würden wir auf unserer Reise nach Swanetien asiatisches Gebiet betreten. Da aber sowohl die meisten Georgier und speziell die Swanen sich selbst, wie ich gelesen hatte, als Europäer empfanden und zudem Marah Durimeh von Uschguli als höchster dauerhaft bewohnter Siedlung in Europa gesprochen hatte, war ich bereit, für unsere Reise die verbreitetere Festlegung der Grenze zu akzeptieren.

„Wir bleiben also in Europa“, schloss ich die Diskussion, „das wird Halef freuen, es war schon schwer genug für ihn, sich an europäische Gewänder zu gewöhnen.“

In der Folge halfen die beiden Frauen Halef, sein Englisch zu verbessern; bei diesen Gesprächen hielt ich mich im Hintergrund und hörte bewusst weg, wenn es wieder einmal darum ging, wie Halef sich als moderner Bedu am besten gegenüber so selbstbewussten Frauen wie Hanneh und vor allem Djamilah verhalten sollte.

Am zweiten Tag hielt ich schon am späten Nachmittag nach einem geeigneten Lagerplatz Ausschau, ließ uns an einem kleinen Wäldchen neben einem fröhlich sprudelnden Bach halten und sagte zu den anderen, wie immer, wenn ich alle ansprach, auf Englisch:

„Ich würde gerne die Gelegenheit nutzen, um zu schauen, wie es um unsere Kampfkraft bestellt ist. Wie Halef und ich schießen, weiß ich, aber es würde mich beruhigen, wenn ich die Schießkünste der beiden Damen kennen würde.“ Ich wandte mich an Ann. „Sie haben immer noch Godiva dabei, wie ich gesehen habe. Haben Sie inzwischen geübt?“

Sie nickte heftig.

„Dann lasst uns ein paar Probeschüsse machen, bevor wir hier unser Lager aufschlagen“, schlug ich vor, während ich schon vom Pferd glitt. Samtari hatte sich bisher als hervorragendes Reitpferd erwiesen, aber ich hatte mit ihm noch einige Tests vor.

Als auch die anderen abgestiegen waren und wir die Pferde an einem Gebüsch angebunden hatten, wies ich auf das Wäldchen.

„Hier gibt es für alle Distanzen geeignete Ziele. Ann, trauen Sie es sich zu, einen Ast in etwa 30 Meter Entfernung zu treffen? Da dürfte die Schrotgarbe schon weit streuen. Und ich vermute, viel größer ist die Reichweite ihrer Godiva nicht.“

Ann warf mir einen belustigten Blick zu, reckte sich, streckte den Kopf selbstbewusst in die Höhe, nahm die kurze Bockflinte aus dem Futteral und dann aus dem langen Halfter, in dem sie gesteckt hatte.

„Das Erste stimmt, das Zweite nicht, Mister Kara. Wenn ich mit dem unteren Lauf schieße, habe ich eine Streuung von etwa 70 Zentimetern auf 30 Meter und eine ganz anständige Deckung, das ist gut zum Jagen oder bei Kämpfen. Bei 50 Metern hat die Schrotgarbe schon fünf Meter Durchmesser, da richtet sie nicht mehr viel Schaden an. Für den oberen Lauf habe ich mir deshalb in England vom Büchsenbauer Greener einen Choke bauen lassen.“ Sie reichte mir einen Metallzylinder mit Gewinde und zeigte uns im oberen Lauf das Gegenstück. „Das hat er vor zwei Jahren erfunden. Wenn ich den Choke in den Lauf eindrehe, wird die Streuung vermindert und eine bessere Flächenabdeckung erreicht, bei 50 Metern streut der Schrot dann nur auf etwa ein Meter.“

Ich reichte den Metallzylinder an Halef weiter, der ihn interessiert betrachtete.

Ann wies auf das Wäldchen.

„Sehen Sie die Astgabel da hinten in der Buche, die alle anderen Bäume um sie herum überragt? Das dürften 40 Meter sein. Das sollte ich schaffen; ich habe viel geübt.“

Ich sah, dass auf das Lederfutteral eine große flache Patronentasche aufgenäht war. Ann aber nahm keine Patrone heraus, sondern löste am Abzug einen kleinen Haken, den sie nach hinten klappte.

„Ich will nie wieder mit einer ungeladenen Waffe dastehen, wie damals bei unserer Begegnung mit den Füchsen. Ich habe mir eine Sicherung anfertigen lassen, so kann ich die Waffe geladen transportieren.“ Sie klappte mit einer geübten Bewegung den Doppellauf nach unten und zeigte uns die beiden übereinanderliegenden Schrotpatronen; das Messingblech der Bodenkappen reflektierte hell das Sonnenlicht. „So genügt eine Bewegung, und ich kann sehen, ob die Patronen in Ordnung sind oder ich sie doch austauschen muss.“

Ann klappte den schmalen Lauf wieder nach oben, legte den Schaft an die Schulter und nahm die für eine Flinte typische Schusshaltung ein; das ging so flüssig, dass ich sofort davon überzeugt war, dass sie viel geübt hatte. Die rechte Hand am Schaft hinter dem Abzugsbügel, die linke am Vorderschaft, hielt sie beide Augen auf die Buche gerichtet. Sie hatte Godiva kaum auf das Ziel ausgerichtet, als sie auch schon abdrückte und dann die Waffe mit einem befriedigten Schnaufen sinken ließ.

„Alle Achtung!“, rief Halef aus und pfiff anerkennend durch die Zähne; Sofie klatschte spontan Beifall. Selbst auf diese Entfernung war deutlich zu erkennen, dass Ann sehr gut geschossen hatte: Die Blätter in einem Radius von etwa einem Meter rund um die Astgabel hatte es vom Baum gefegt, und an der Astgabel zeigte eine helle Stelle, wo der Schrot die Rinde abgelöst hatte. Ich nickte anerkennend und meinte zu Ann:

„Sie sind wirklich eine gute Schützin geworden. Ich hoffe, wir werden darauf nicht allzuoft zurückgreifen müssen, bin aber froh, dass Sie dazu in der Lage sind.“

Anschließend zeigte uns Sofie, wie gut sie ihre Winchester beherrschte. Es war wirklich eine herrliche Waffe; auf gut 100 Meter traf Sofie damit regelmäßig einen kopfgroßen Aststumpf und selbst auf 250 Meter in der Hälfte der Fälle einen mannsdicken Baumstamm. Wir testeten auch die anderen Gewehre und lieferten uns ein kleines Wettschießen. Ich beteiligte mich natürlich nur mit dem Henrystutzen, den schweren und unhandlichen Bärentöter ließ ich am Sattel hängen. Halef zeigte, dass er seine Springfield Trapdoor, die ich ihm vor fünf Jahren geschenkt hatte, bestens beherrschte; er traf noch genauer und hatte eine größere Reichweite als Sofie mit ihrer Winchester, seine Büchse war wie mein Henrystutzen auch auf 300 Meter noch treffsicher. Allerdings schaffte Halef nicht mehr als drei Schuss in der Minute, da er jedes Mal nachladen musste, während Sofie ihre 15 Patronen in weniger als einer Minute ins Ziel brachte. Dass Halef ein durch unsere Ballerei aufgeschrecktes Kaninchen erlegte, ließ uns mit den Schießübungen aufhören und das Abendessen zubereiten.

Am nächsten Morgen testete ich, wie ich es mir in Kutaissi vorgenommen hatte, unsere Revolver, und zwar vom Pferderücken aus, denn ich wollte wissen, wie Samtari sich in Kampfsituationen verhielt. Er blieb gänzlich ungerührt, und auch die anderen Tiere zeigten beruhigenderweise kaum eine Reaktion. Sofies Colt und Halefs und meine Smith & Wesson waren gleich treffsicher. Dass unsere Revolver beim Nachladen immer sämtliche Patronen auswarfen, auch noch nicht verschossene, Sofie beim Colt hingegen einzeln leere Hülsen ausstoßen konnte, empfand ich nicht als Nachteil, dafür war ich schneller beim Nachladen. Ann war zufrieden mit ihrem doppelläufigen Remington Deringer, den sie in einer kleinen Handtasche verstaut hatte. Wir waren alle gut ausgerüstet – und fühlten uns für unsere Aufgabe gewappnet.

Am Abend näherten wir uns Sugdidi, der Hauptstadt der Region Mingrelien, und waren überrascht: Sie wirkte auf uns eher wie ein Dorf. Schon bevor wir die Stadtgrenze erreichten, wurde der Weg zunehmend gesäumt von kleinen Bauernhäusern, dann kamen langsam die ersten städtischen Gebäude in Sicht. Ein Bauer auf einem Pferdekarren erklärte uns, wir würden das Zentrum der Stadt erreichen, wenn wir immer nur geradeaus ritten. Dann kämen wir ganz von selbst auf den Boulevard, die Prachtstraße von Sugdidi. Aber wie sah dieser Boulevard aus! Man nannte ihn wohl so, weil für mehrere Hundert Meter auf jeder Seite ziemlich mickrige Bäume standen. Eher aber sollte man diese Allee einen Basar nennen, denn sie war gesäumt von Häusern mit Ladengeschäften hinter und zahlreichen offenen Buden zwischen und unter den Bäumen. Die Händler schienen gut zu tun zu haben, wir mussten auf der staubigen Straße hintereinander reiten, so voll war sie.

Nach kurzer Zeit kamen wir an eine Kreuzung. Links dahinter gab es einen kleinen Park, der wohl öffentlich war; wir sahen Familien und junge Paare flanieren, teils ziemlich elegant gekleidet, neben georgischen Trachten gab es auch Mode zu sehen, die direkt aus Paris stammen konnte. Dies erweckte schon eher den Eindruck einer Hauptstadt. Rechts sahen wir ein zweistöckiges Gebäude, das sich durch ein Schild als Gasthof auswies und einen seriösen und reinlichen Eindruck machte. Während wir unsere Pferde in den Hof lenkten, schaute ich den Boulevard hoch und sah in etwa einem Kilometer Entfernung ein großes palastähnliches Gebäude im neogotischen Stil mit Zinnen und Türmchen.

Das Wirtsehepaar war sehr freundlich, ließ sofort unsere Pferde in den Stall bringen – nicht ohne sie gebührend bewundert zu haben – und servierte uns georgische Spezialitäten. Während das Hauptgericht zubereitet wurde, stellte man vor jeden von uns einen runden Terracotta-Topf mit Deckel. Darin war eine köstliche, wenn auch sehr scharfe Rote-Bohnen-Suppe, Lobio genannt, zu der wir Fladenbrot serviert bekamen. Anschließend gab es Tschachochbili, Hähncheneintopf mit Tomaten-Zwiebelsoße, und dazu für die, die wollten, einen leichten Rotwein.

Als wir gesättigt und hochzufrieden unsere Teller von uns schoben, fragte der Wirt uns in stark akzentuiertem Englisch, ob er sich zu uns setzen dürfe, während wir auf den Nachtisch warteten. Gerne erlaubten wir ihm dies. Er erklärte, dass er jede Gelegenheit nutze, diese Sprache zu üben, vor Jahren sei er eine Zeitlang als Schiffskoch unterwegs gewesen. Nachdem wir ein paar Minuten unverfänglich geplaudert hatten – was es in Sugdidi so zu sehen gäbe und dass wir unbedingt den neuen Palast und das Museum der Fürstenfamilie besichtigen müssten –, meinte er, er würde uns gerne ein paar Empfehlungen geben und auch eine Warnung aussprechen.

„Diese würde ich gerne zuerst hören“, forderte ich ihn auf.

Er schaute sich verstohlen um und meinte dann:

„Nicht alle Gäste verhalten sich anständig und ehrenvoll. Vor zwei Tagen waren hier drei Amerikaner zu Gast, die sich benommen haben, als gehöre ihnen mein Gasthof.“ Er schmunzelte. „Deshalb mussten sie auch mit ihrem schlechten Russisch zurechtkommen.“ Er wurde wieder ernst. „Sie wussten nicht, dass ich Englisch verstehe, deshalb haben sie sich ganz ungezwungen unterhalten. Sie sind unterwegs in die Berge, nach Mestia und dann weiter, um dort einen reichen Amerikaner zu beschützen. Dann haben sie beratschlagt, ob sie noch bleiben sollten, um die beiden Männer umzubringen, die einen von ihnen misshandelt hätten. Und dann haben sie mich vor Ihnen gewarnt.“ Er machte eine kurze Pause, trank einen Schluck Wein und fuhr fort: „Nur vor den beiden Herren, von den Damen haben sie nichts gesagt. Wenn Sie hier auftauchen sollten, sollte ich die Polizei benachrichtigen, weil Sie wahrscheinlich türkische Spione wären.“ Er hielt wieder inne und wartete auf unsere Reaktion.

Ich prostete ihm zu.

„Sie haben sich offensichtlich entschieden, das nicht zu tun. Und warum?“

Der Wirt wies Richtung Stall.

„Erstens kenne ich die Pferde. Wem mein Freund Tscheidse sein Lieblingspferd verkauft oder vermietet, den muss er für einen anständigen Kerl halten. Und zweitens hat einer der Männer vor ihrem Aufbruch gelacht und gemeint, es wäre zwar eine gute Idee gewesen, Sie als Spione zu verleumden, aber sie müssten sich sowieso keine Sorgen machen, die vier Russen würden das Problem schon aus der Welt schaffen. Das hat mir gereicht. Wir sind eine anständige Stadt, und wenn die drei nicht abgereist wären, hätte ich die Polizei geholt. Und nun lasse ich Sie erst einmal den Nachtisch genießen.“

Er hob die Hand und winkte Richtung Küche, woraufhin seine Frau eine große Schüssel herantrug. Als er aufstehen wollte, hielt Halef ihn auf.

„Können Sie uns sagen, wie die drei Männer hießen?“, fragte er.

„Brown, Black und White“, antwortete der Wirt und sah uns verblüfft an, als Halef und ich in Lachen ausbrachen.

Wir wurden aber schnell wieder ernst, und während wir das süße Pelamuschi genossen, eine Art Pudding aus Traubensaft und Maismehl, beratschlagten wir, was wir tun wollten.

„Wir müssen doch sowieso mindestens den Vormittag hierbleiben, um unsere Winterausrüstung zu besorgen“, meinte Ann.

„Dann lasst uns doch am Nachmittag die Stadt und vor allem den Palast besichtigen. Und dabei versuchen wir, herauszubekommen, wer diese vier Russen sind. Die werden uns sicher beobachten, und dabei entdecken wir sie.“

„Und wir können schauen, ob Onkel Johann in Sugdidi ist“, meinte Sofie. „Er hat ein Haus, in dem er wohnt, wenn er hier zu Besuch ist.“

Als der Wirt kam, um die Schüssel zu holen, die wir bis auf den letzten Rest geleert hatten, was ihm ein befriedigtes Schmunzeln entlockte, baten wir ihn, sich noch einmal zu uns zu setzen, und ließen uns von ihm den Weg zu dem Händler beschreiben, den uns Dr. Schiaschwili empfohlen hatte.

„Die Welt ist klein und Georgien noch viel kleiner“, entfuhr es ihm, als er von der Empfehlung des Biologielehrers hörte. „Dr. Schiaschwili steigt immer bei mir ab, und Tamaz Meskhishvili ist ein bekannter und beliebter Händler, der gute Ware zum günstigen Preis bietet. Ich habe mich also nicht getäuscht, als ich Ihnen vertraute.“

Nachdem er uns den Weg zu dem Laden erklärt hatte, fragte Sofie, ob er auch ihren Onkel kenne und wisse, wo der wohne. Da konnte uns der Wirt allerdings nicht weiterhelfen und empfahl uns, bei der Polizeistation nachzufragen, die sei nicht weit von hier, hinter der Kreuzung Richtung Palast, wir kämen auf dem Weg zum Laden an ihr vorbei.

Es wurde noch ein gemütlicher Abend, und wir gingen in der Gewissheit zu Bett, in dieser Stadt einen Freund gefunden zu haben.

Am nächsten Morgen suchten wir nach einem gemütlichen Frühstück das Geschäft von Tamaz Meskhishvili auf. Nachdem er das Empfehlungsschreiben von Dr. Schiaschwili gelesen hatte, beriet er uns ausführlich – glücklicherweise sprach auch er Englisch – und suchte mit uns gemeinsam alles aus, was wir für eine Tour in die swanetischen Berge brauchen würden, wenn wir dort den Winter überleben wollten: Schneeschuhe, dicke Fellmäntel, Handschuhe, Mützen – alles aus weißem Pelz –, zwei leichte Baumwollzelte und große Rucksäcke, dazu deckten wir uns mit allerlei nützlichen Kleinigkeiten ein.

„Die Pferde sollten Sie entweder hierlassen oder spätestens in Dschwari unterstellen. Dort gibt es extra einen großen Mietstall für Reisende in die Berge des Kaukasus.“ Bis Dschwari seien es etwa 30 Kilometer, ein Tagesritt, da das Gelände auch nicht allzuviel ansteige, von hier etwa 100 auf knapp 300 Meter über dem Meeresspiegel. Aber anders als Dr. Schiaschwili rate er davon ab, dann weiterzureiten. „Dieses Jahr ist der Winter dort oben schon sehr früh gekommen. Wenige Kilometer nordöstlich steigen die Berge stark an, an manchen Stellen bis auf 2.000 Meter. Sie müssen dem Tal des Enguri folgen, und man muss die Strecke schon sehr gut kennen, um zu Pferd den Weg zu finden; Dr. Schiaschwili hat nicht daran gedacht, dass Sie hier fremd sind. Und außer Potchko Etseri, einem Kaff kurz hinter Dschwari, gibt es bis Khaishi keine Ortschaften mehr. Das sind zwar nur 40 Kilometer, aber die haben es in sich, es geht nur aufwärts.“

Halef hatte ungeduldig gelauscht.

„Geht es dann etwa so weiter?“, fragte er. „Immer nur aufwärts und durch Eis und Schnee?“

Der Händler warf ihm einen belustigten Blick zu.

„Sie wollen in den Kaukasus, was erwarten Sie? Von Khaishi bis Iskari sind es wieder 40 Kilometer, immer aufwärts den Enguri lang, und für die letzten wirklich steilen 20 Kilometer bis Mestia brauchen Sie mindestens noch einmal so lange.“

In Mestia, erklärte er uns, könnten wir uns dann noch einmal ausrüsten für die letzte Strecke nach Uschguli, die sicher die schwerste werde.

Als wir uns verabschiedeten, fragte Sofie auch ihn nach ihrem Onkel. Meskhishvili kannte ihn natürlich.

„Das ist ein guter Kunde von mir. Er ist ja eigentlich Sprach- und Musiklehrer, aber ab und zu geht er in den Bergen auf die Jagd und verdient sich etwas als Pelzhändler dazu. Er wohnt nicht weit von hier, Rustaweli Nr. 21, ist aber im Moment, soweit ich weiß, nicht in Sugdidi.“

Wir bedankten uns herzlich, brachten unsere Einkäufe ins Gasthaus, gönnten uns einen kleinen Mittagsimbiss und machten uns dann auf zum Palast.

Hartmanns Heim, an dem wir noch schnell vorbeigingen, war ein kleines zweistöckiges Holzhaus, das sauber und gemütlich aussah, aber verschlossen war; er war wohl wirklich nicht da. Das Dadiani-Palais hingegen war das Gegenteil von gemütlich. Eine Tafel am Eingang belehrte uns, dass dies ein ‚Wunder der Baukunst‘ sei, errichtet von Fürst Achille Napoleon Murat, Schwiegersohn des Fürsten Niko Dadiani. Und tatsächlich war es für hiesige Verhältnisse ein Prachtbau: ein zweistöckiger neogotischer Palast in L-Form, verziert mit Zinnen und Balkonen, der kurze Arm etwas höher und von zwei Türmchen gekrönt. Leider war die Umgebung diesem Bau nicht angemessen: Er war wohl einst von einem großzügig angelegten Park umgeben gewesen, aber statt Bäumen sah man nur Baumstümpfe, statt Rasen, Hecken und Blumenbeeten nur Trockenheit und Dürre.

Halef schüttelte den Kopf.

„Wie traurig, das passt doch gar nicht zusammen. Immerhin hat es den Vorteil, dass sich niemand an uns heranschleichen kann.“

Wir hatten natürlich den ganzen Vormittag darauf geachtet, ob uns jemand verfolgte, aber uns war niemand aufgefallen.

„Leider sorgt es aber auch dafür, dass wir niemanden so schnell entdecken“, erwiderte ich und schlug vor, auf ein weiteres Schild mit Wegweiser zeigend: „Was haltet ihr davon, wenn wir das Museum besuchen, das hier so groß angekündigt wird? Darin können wir etwaigen Verfolgern sicher eine Falle stellen.“

Mein Vorschlag stieß sofort auf Zustimmung. Sofie und Ann waren sehr an einem Rundgang interessiert; beide hofften, in diesem Museum, das laut Schild fast 40.000 Exponate aus den letzten 4.000 Jahren enthielt, etwas zu finden, was ihrer jeweiligen Suche dienlich sein konnte. Und Halef freute sich, aus der Sonnenhitze zu kommen, und wollte außerdem den vier Russen eine Falle stellen.

Ich teilte seine Begeisterung nicht unbedingt. Wir hatten natürlich unsere Gewehre im Gasthaus gelassen und waren nur mit den Revolvern und unseren Messern bewaffnet, Halef zudem mit seinem Säbel. Bei vier Gegnern konnte das durchaus kritisch werden; wir mussten vorsichtig sein.

Im Museum im Erdgeschoss war es angenehm kühl. Wir schlenderten durch einige hintereinanderliegende Räume mit Gerätschaften von Bauern, Fischern und Winzern aus verschiedenen Jahrhunderten, die Sofie teilweise genauer untersuchte, während wir anderen aufmerksam die Räume vor und hinter uns beobachteten. In jedem Zimmer stand ein Wachmann in russischer Uniform, der uns und die Exponate nicht aus den Augen ließ. Dann kam ein Raum mit vier Türen, der uns den Atem anhalten ließ: Hier blitzte und blinkte es nur so, auf einem Tisch waren edelstes Porzellan, Silbergeschirr und -besteck angerichtet. Ein Schild verriet uns, dass dies das ‚Napoleonzimmer‘ war, ausgestattet mit Gegenständen, die Caroline Bonaparte, die jüngste Schwester von Napoléon Bonaparte, ihren Enkeln vermacht hatte, darunter dem Erbauer dieses Palastes. Sicher waren die Bücherregale und der Sekretär mit den Briefen wertvoll, aber das wichtigste Stück im Raum war zweifellos eine Totenmaske Napoleons, die prominent in einer Vitrine lag. Die Wichtigkeit des Raums wurde dadurch unterstrichen, dass hier gleich zwei Wachtposten standen.

Die beiden Räume links und rechts schienen keine weiteren Ausgänge zu haben und standen voller Bücherregale, wir gingen also weiter in das nächste Zimmer. Das war fast schon ein Saal, ohne weitere Türen, eingerichtet als fürstlicher Salon mit edlen Polstermöbeln und einem Cembalo, in der Mitte genug Platz für eine kleinere Tanzveranstaltung. Seltsamerweise gab es hier keine Wachen. Beherrscht wurde der Raum von einem großen Gemälde an der Stirnwand über einem Kamin, das ich im ersten Moment für eine Kopie des berühmten Gemäldes der Kaiserin Elisabeth von Österreich hielt, das den deutschen Porträtmaler Franz Xaver Winterhalter berühmt gemacht hatte. Doch er hatte hier nur eine ähnliche Pose gewählt: Die Porträtierte war etwas stärker gebaut und älter, ihr Kleid nicht so strahlend weiß, sondern elfenbeinern mit edlen Stickereien, und eine rote Schärpe lenkte den Blick auf ihr ausladendes Dekolleté. Es war eindeutig eine Fürstin – was eine männliche Stimme von der Tür aus bestätigte.

„Was Sie da erblicken, ist Fürstin Ekaterina Dadiani, Dedopali von Mingrelien. Genießen Sie diesen Anblick noch für einen Moment, es soll Ihr letzter Genuss sein.“

Ich drehte mich rasch um, ebenso meine Gefährten. Für einen Moment hatte unsere Wachsamkeit nachgelassen, das rächte sich nun. In der Türöffnung zum Napoleonzimmer stand ein hochgewachsener, ganz in Schwarz gekleideter Mann mit einer Gesichtsmaske, in der Hand eine zweiläufige Pistole. Nun trat er nach vorne, und hinter ihm betraten drei ähnlich aussehende Gestalten das Zimmer. Der Wortführer fuhr in Englisch mit russischem Akzent fort:

„Ich weiß noch nicht, ob Sie unserem Auftraggeber wirklich Ärger machen wollen, aber das werden wir sicher rausfinden.“

Die anderen drei zogen Stricke aus ihren Hosentaschen; offensichtlich hatte man vor, uns zu fesseln.

Halef zog seinen Säbel.

„Bleibt uns vom Leibe!“, drohte er. „Wir lassen uns weder drohen noch gefangen nehmen, und eure zwei Schuss da können uns nicht schrecken.“

Während alle Blicke auf ihn gerichtet waren, zog ich meine beiden Revolver, Sofie ihren Colt.

Der Anführer lachte.

„Schießt ruhig. Im nächsten Moment werden hier ein Dutzend Soldaten eindringen, die euch ohne zu fragen erschießen werden. Wir haben sie schon darauf vorbereitet, dass sich hier zwei türkische Spione eingeschlichen haben, die mit zwei britischen Agentinnen verbündet sind. Die Wachleute sind ganz heiß darauf, endlich mal ihre Waffen einsetzen zu können. Wenn sie schon nicht in den Krieg ziehen dürfen, wollen sie sich doch beweisen und werden uns dankbar sein, dass sie die Helden spielen dürfen.“

Ich steckte langsam meine Revolver weg, zog das lange Bowiemesser und nickte Sofie zu. Diese zögerte einen Moment, dann steckte sie ihren Colt in das Holster, machte eine schnelle Bewegung zum Kamin und hielt in der rechten Hand einen Schürhaken mit beeindruckender Spitze, mit der linken griff sie nach einer langen Kaminzange, die sie an Ann weiterreichte.

„Nun gut“, sagte der Mann mit der Pistole, und es klang fast bedauernd. „Wir wollen das Wachpersonal natürlich nicht unnötig alarmieren und schließlich wollen wir noch einiges von euch wissen. Also werden wir euch lautlos erledigen.“ Er steckte die Pistole weg und zog einen ledernen Totschläger aus dem Gürtel, offensichtlich mit einer eingenähten Metallkugel am Ende. Seine Kumpane taten es ihm gleich, und schon ging der Tanz los. Wie gut, dass es hier eine so große Tanzfläche gab …

Gleich in den ersten Augenblicken wurde deutlich, dass wir es mit erfahrenen Kämpfern zu tun hatten, wahrscheinlich mit militärischer Ausbildung. Halef und ich hatten keine Probleme, uns unsere Gegner vom Leib zu halten, Sofie und Ann aber gerieten sofort in die Defensive, sie würden sich trotz der größeren Reichweite ihrer provisorischen Waffen nicht lange halten können. Ich tauschte mit Halef einen schnellen Blick, dann unterlief ich einen Schlag meines Gegners, rammte ihm die linke Faust in die Achselhöhle, sodass er den Totschläger fallen ließ, und versetzte ihm meinen Jagdhieb an die Schläfe; er brach zusammen. Ein Blick zu Halef zeigte mir, dass er sein Gegenüber gut in Schach und auf Distanz hielt, so wandte ich mich Sofie zu, der ihr Gegner gerade den Feuerhaken aus der Hand geschlagen hatte. Ich nahm den gefallenen Totschläger auf und versetzte ihn damit gerade rechtzeitig ins Land der Träume, ehe er Sofie schlagen konnte.

In dem Moment erklang ein Schuss. Ann hatte ihre Kaminzange verloren und fühlte sich so in Bedrängnis, dass sie zu ihrem Deringer gegriffen hatte. Anns Gegner lag auf dem Boden und hielt sich das linke Knie, leise wimmernd. Auch Halefs Gegner brach zusammen; der geübte Säbelfechter hatte nur deshalb so lange gebraucht, weil er ihn nicht ernsthaft verletzen wollte, und hatte ihm nun den Säbel mit der Breitseite an den Kopf gedonnert.

Schwer atmend schauten wir uns an, da überraschte uns wieder eine Stimme von der Tür. Es war wohl ein georgischer Fluch – und schon stürzten fünf Wachleute auf uns zu, mit gezogenen Säbeln. Der Anführer der Schwarzen hatte offensichtlich gelogen: Weder waren es so viele Soldaten, wie er behauptet hatte, noch schossen sie sofort. Ich vermutete, sie hatten Angst um die wertvollen Ausstellungsstücke, denn ebenso offensichtlich legten sie keinen Wert darauf, uns lebend gefangen zu nehmen: Sie drangen sofort mit ihren Säbeln auf uns ein. Ich stellte mich einem mit dem Bowiemesser in der rechten und dem Totschläger in der linken Hand entgegen, Halef kämpfte gleich gegen zwei von ihnen, und Sofie versuchte, sich mit dem Feuerhaken, den sie wieder aufgehoben hatte, zu verteidigen. Der fünfte stürzte auf Ann zu, doch sie stoppte ihn wie ihren ersten Gegner mit einem hervorragend gezielten Schuss ins Knie.

Es war abzusehen, dass wir gegen diese geschulten Soldaten nicht lange würden standhalten können. Sofie dürfte man jeden Moment ihren Feuerhaken aus der Hand schlagen, ich konnte mir meinen Gegner zwar vom Leib halten, aber nicht wirksam an ihn herankommen, Halef würde auf die Dauer gegen zwei fast ebenbürtige Fechter unterliegen … Ich musste etwas Außergewöhnliches wagen. Ich wog den Totschläger in der Hand; er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit manchen Kampfbeilen, die ich aus Amerika kannte. Ich riskierte einen Ausfall mit dem Bowiemesser, der mir die Klinge des Säbels bedrohlich nahe brachte, und als die Augen meines Gegners auf das Messer gerichtet waren, warf ich den Totschläger mit aller Kraft, die ich mit der Linken aufbringen konnte, und traf ihn am Kinn. Wie vom Blitz getroffen brach er zusammen.

Ich raffte den Säbel auf und wollte Sofie zu Hilfe kommen, da donnerte es von der Tür her:

„Stop! Stoj!“

Sofort ließen die Wachleute von uns ab, traten zurück, drehten sich zur Tür um, salutierten und standen stramm. In der Tür stand ein gutaussehender hochgewachsener junger Mann, ich schätzte ihn auf Ende zwanzig, in der Uniform eines Offiziers der Kaiserlich-Russischen Armee. Er musterte uns ernst, dann verzogen sich seine Lippen unter dem gestutzen Schnurrbart zu einem Lächeln.

„Gestatten, dass ich mich vorstelle: Andria Dadiani, auch bekannt als Prinz Dadian von Mingrelien“, sagte er in akzentfreiem Englisch. Er wies auf das Porträt: „Ich glaube nicht, dass es meiner Mutter gefallen wird, wenn sie hört, was hier in ihrem ehemaligen Salon geschehen ist. Eine Wiedergutmachung ist sicher angebracht.“

Er wandte sich an die drei Wachleute, die immer noch strammstanden, und fauchte sie auf Georgisch an. Sie ließen die Hände sinken und nickten. Dann drehte sich der Prinz wieder zu uns um.

„Die Soldaten werden sich um die Attentäter kümmern und sie uns später zum Verhör bringen. Jetzt aber seien Sie erst einmal meine Gäste, im Palast der Fürsten von Mengrelien.“

Das magische Tor im Kaukasus

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