Читать книгу ZwischenWelten - Friedrich von Bonin - Страница 9

Оглавление

1.

Schwer lastete die Hitze auf dem schmalen Sandweg, der am Ufer der unruhigen Neiße lief, den Windungen des Flusses folgend. Die Blätter der Bäume raschelten leise im leichten Spätsommerwind, dunkelgrün, schattenspendend gegen die Sonne, die jetzt seit zwei Wochen auf die Erde strahlte, ohne Regen, ohne erleichternde Kühlung in der Nacht. Der Weg war über die ganze Strecke von einer Baumallee begleitet, uralte Eichen standen neben Buchen, Birken, Pappeln und Erlen, in den Pappeln waren die dichten Mistelzweige hinter dem Laub kaum zu erkennen. Unter den Bäumen gab es dichtes, undurchdringliches Gebüsch aus Brombeeren, wilden Himbeeren, Schlehen und anderen Gewächsen, in denen ab und zu ein leises Geraschel zu hören war, als habe sich eine Maus, ein Igel oder eine Schlange in der Sommerhitze aufgemacht, weil der Hunger sie hinaustrieb zur Jagd. Außer dem leisen Flattern der Blätter und den seltenen Geräuschen aus dem Gebüsch war nur das regelmäßige, leichte Plätschern des Flusses zu hören, der gleichmäßig dahinströmte. Ein Fisch sprang hier auf, wohl nach einer Fliege schnappend, fiel zurück und hinterließ auf dem kühlen Wasser Kreise, die sich ausbreiteten, konzentrisch, bis ans Ufer, dann ausliefen und sich im gleichmäßigen Strömen verloren.

Ein junger Mann tauchte hinter der nächsten Krümmung auf, stämmig, kräftig, in graues Sackleinen gekleidet, den Hut auf dem Kopf, der den Schäfer kennzeichnete und tatsächlich, jetzt trappelten hinter ihm seine Tiere. Als erstes Ziegen, zwanzig Stück mit zwei Böcken, die der Herde voranliefen, dahinter Schafe, dichtgedrängt, das Fell noch nicht sehr wollig nach der Schur im Frühjahr, aber doch schon zu dick für diese Hitze. Dichtgedrängt liefen sie, blökend, hier am Rande nach einem Büschel Gras rupfend und dann kauend. Die diesjährigen Lämmer, schon groß, liefen noch bei den Müttern. Die Zahl war schwer abzuschätzen, aber der Hirte wusste, es waren sechsundsiebzig Stück, vier Böcke, einundfünfzig Mutterschafe und einundzwanzig Lämmer, die hatte er am Ende des Tages abzuliefern im Dorf, wo sie von den Eigentümern in Empfang genommen und in die heimischen Ställe getrieben wurden. Er selbst, der Schäfer, Hans Reinstätten, hatte sieben Mutterschafe, die er in der Herde mitführte. Als Entgelt für die Hirtentätigkeit durfte er seine Schafe von den Böcken bespringen lassen und wurde im Übrigen nach seinem bescheidenen Bedarf von den Dörflern miternährt.

Eine ruhige Tätigkeit war das, die er da verrichtete, sie war in seiner Familie erblich. Schon sein Vater, Heinrich Reinstätten, war Dorfhirte gewesen in Neissmund, seinem Heimatdorf, das weiter unten am Fluss lag, an dem er jetzt entlang ging.

Sein Vater war früh gestorben. Das helle und freundliche Gesicht des Hirten verfinsterte sich, als er daran dachte. Ruhm hatte er ernten wollen, sein Vater, und hatte seinem Sohn mit Zustimmung der Dorfältesten das Hirtenamt weitergegeben. Ruhm in dem Krieg, der seit Jahr und Tag über Deutschland hinweg zog, hin und her und kreuz und quer. Ruhm bei der Verteidigung der einzig richtigen Religion, ein Anhänger Luthers, wie alle in Neissmund und den umliegenden Dörfern. Sie alle hatten täglich für den Sieg der protestantischen Waffen gebetet gegen die Kaiserlichen, die Katholischen, gegen diesen Alten, Generalfeldmarschall Tilly, der für die katholischen Bayern focht und vor allem gegen den Teufel selbst, Wallenstein. So hatten sie auch mit dem Pfarrer Rudolf Melcher gefleht, der ihnen von der Kanzel und im persönlichen Gespräch die neuesten Ereignisse bekanntgegeben hatte. Jeder Sieg der protestantischen Waffen war von den Dörflern mit Jubel begrüßt, jeder Sieg der Kaiserlichen mit Sorge aufgenommen worden. Ihr Dorf, Neissmund, war, Gott sei's gedankt, bis heute von Soldaten und Plünderung verschont worden, niemand wusste, warum. Sehr oft in den acht Jahren des Krieges waren Truppen durch das Land gezogen, über die Elbe, durch Leipzig, durch Dörfer, über die Felder, und hatten alles geplündert, was sie finden konnten. Schauergeschichten hatten die Ältesten an den Abenden in den Hütten oder im Sommer unter der Linde vor der Kirche erzählt von verbrannten Dörfern und Städten, von vergewaltigten Frauen und Mädchen, von gestohlenem und verbranntem Eigentum. Die Felder waren nach dem Durchzug von Truppen immer verwüstet. Hatten nicht die Kaiserlichen vor etwas mehr als einem Jahr drei Städte in der Nähe niedergebrannt und geplündert?

Nach dieser Nachricht hatte es Heinrich Reinstätten in seinem Dorf bei seinem friedlichen Amt nicht gehalten. Er hatte die alte Muskete von der Wand genommen, sein schartiges Schwert gegürtet, Frau und die drei Kinder geküsst und war davongegangen, nach Norden, von der Neiße weg, wo er die Protestantischen vermutete, um ihnen seine Dienste anzubieten.

Sie hatten nur wenig von ihm gehört, er konnte nicht lesen und nicht schreiben, aber vor drei Monaten war ein Soldat in das Dorf gekommen und hatte ihnen die Nachricht gebracht vom Tode seines Vaters, tapfer sei er in der Schlacht gefallen bei einer Stadt, deren Namen Hans nicht behalten hatte, einer Schlacht, in der die Lutherischen einen Sieg zum Ruhme Gottes errungen hätten. Hans Reinstätten erinnerte sich des großen Jammers, den der Bote in ihrer Hütte hinterlassen hatte und noch jetzt krampfte sich sein Herz zusammen, wenn er daran dachte, dass er den Vater nicht mehr sehen würde.

Ein Gebell des Hirtenhundes riss ihn aus seinen Träumen, er sah sich um. Die Herde hatte eine riesige Staubwolke hinter sich gelassen, deshalb ging er ihr auch voran, auf den Hund, Hasso, vertrauend, der sie zusammenhalten würde. Jetzt stand der Hund im Gebüsch neben dem Weg und gab Laut. Hans hörte ein jämmerliches Blöken von dort. Er lief hin und tatsächlich war eines der kleineren Lämmer in das Brombeerdorngestrüpp geraten, es kam nicht vor und nicht zurück. Fluchend kroch Hans in das Gebüsch, die Dornen zerkratzten ihm die Arme und das Gesicht, bis er das Lamm erreichte, es umfasste und herauszog.

„So, du dummes Vieh, geh da jetzt nicht mehr rein“, schimpfte er und führte es zur Mutter. Langsam zog die Herde weiter.

2.

Es war am späten Nachmittag, als Hans Reinstätten den Weg erreichte, der nach links vom Fluss weg und in das Dorf führte. Die Dörfler hatten versucht, den Weg zur Straße auszubauen und ihn mit Feldsteinen belegt, damit er von den Karren besser befahren werden konnte. Hans wusste, dass er dadurch für die Tiere mit ihren schmalen Hufen schwerer zu begehen war, er ließ die Herde daher neben den Steinen laufen. Die ersten Hütten kamen in Sicht.

Neissmund war ein sehr kleines Dorf mit armen Bewohnern. Der reichste Bauer, der gleichzeitig der Bürgermeister war, hatte fünf Morgen Land hinter seinem Haus, er hatte ein Pferd, das er zum Pflügen anspannen konnte und zwei Kühe, deren Milch er an die Nachbarn verkaufte. Die anderen Bauern bewirtschafteten ihre kleinen Gemüsefelder, von deren Erträgen sie lebten und hielten sich das Vieh, das die Familie Reinstätten hütete. Meistens hatten sie vier oder fünf Schafe, Hühner und einige Ziegen. Im Dorf gab es sieben Schweine, die sich frei auf den Feldern herumtrieben und ihr Futter suchten. Sie gehörten dem ganzen Dorf und wurden nur geschlachtet, wenn die Bewohner eines der Feste feierten, die es im ganzen Jahr verteilt gab. Eines dieser Tiere war dem Pfarrer vorbehalten, der mit seiner Familie von seinem Fleisch und von den Früchten lebte, die die Bauern ihm brachten.

Ein friedliches Dorf war Neissmund, alle Bewohner waren so arm, dass für Neid kein Raum blieb. Streit gab es allenfalls dann, wenn zwei junge Männer das gleiche Mädchen wollten, dann konnte es notwendig werden, dass der Bürgermeister oder sogar der Pfarrer ein Machtwort sprach. Andere Konflikte gab es kaum.

Dennoch ging Angst um im Dorf, Angst davor, dass der langjährige Frieden zerstört werden konnte, weil sich entweder eines der feindlichen Heere oder auch nur versprengte Soldaten hierher verirrten. Schließlich war Glogau nicht weit, Cottbus, die großen Städte, die in den Auseinandersetzungen der Mächtigen eine große Rolle spielten. Bisher waren sie verschont geblieben, hatten allerdings schon drei Männer an den Krieg verloren, die sich, wie Hans‘ Vater, freiwillig gemeldet hatten.

Jetzt kam der Hirte mit der Herde am Rande des Dorfes an, auf dem Platz, auf dem er sie anhielt und die Eigentümer sich ihre Tiere heraussuchten. Und dort, Hans‘ Herz stockte, da stand sie, Gesine Ammermann, Gesine, nach der er sich seit Wochen und Monaten verzehrte. Er liebte sie, er wollte sie zur Frau nehmen und er wusste, sie sah ihn auch freundlich an.

„Hans“, rief sie ihm lächelnd entgegen und er schmolz dahin, „guten Tag, Hans, hast du die Tiere gut geweidet?“

„Klar“, lächelte er zurück und sein Herz klopfte, „und ich bringe dir eure Tiere heil zurück und satt.“

Nun war er herangekommen und versuchte, sie zu umarmen. Sie wehrte ihn ab.

„Hans, du weißt, ich mag dich sehr, aber mein Vater will das nicht. Er könnte uns hier sehen.“

„Kannst du mich denn heute Abend treffen?“, fragte er leise zurück.

„Ich würde gern, aber der Pfarrer. Du weißt, dass der Pfarrer jedem die Hölle angedroht hat, der auch nur ein Mädchen oder einen Jungen anfasst. Nach der Heirat, so hat er gesagt, und heiraten lässt uns mein Vater nicht.“

Hans wusste es. Er war der Hirte des Dorfes, gut angesehen bei allen Bauern, weil er sich sorgsam um ihre Tiere kümmerte, aber er und seine Mutter, überhaupt die ganze Familie, hatten kein Land, das sie bestellen konnten und das bei einer Heirat mit dem Ammermannschen Hof zusammenfallen würde. Und der Hof von Gesines Vater war groß, vier Morgen hatte er, eine Kuh, die er melken konnte und die, wenn sie alt war, noch Fleisch brachte. Ammermann gehörte das zweite Pferd im Dorf, ein Kaltblüter war das, ein riesiges, stämmiges Tier, das der Bauer vor den Pflug spannen und so tiefer pflügen konnte als die anderen und vor allem auch schneller. Und dieser Bauer würde seine einzige Tochter niemals dem Hirten geben, das kam nicht in Frage und Hans und Gesine wussten das.

Und obwohl sie sich liebten, duldete Gesine nicht einmal, dass er sie in den Arm nahm. Zu bestimmt waren die Worte des Pfarrers Melcher gewesen, eines alten, hageren, starkknochigen Herrn mit glühenden schwarzen Augen.

„Und wer der Fleischeslust frönt, der sei der Hölle!“, donnerte er sonntäglich von der Kanzel herab, „und diese Sünde ist schon begangen, wenn der Junge das Mädchen auch nur begehrlich ansieht!“

Und genau das tat Hans Reinstätten, tags, wenn er auf der Weide die Schafe hütete und nachts, wenn er auf seinem Lager lag, die Augen geschlossen, aber schlaflos, weil sein Geschlecht sich erhob und nach Erlösung schrie, die es nicht gab, denn: „Wer Hand an sich legt, der ist der Hölle!“ Auch das predigte der Pfarrer und Hans fürchtete sich grausam vor der Hölle und ihren Qualen, die der Prediger so drastisch zu beschreiben wusste.

3.

Ein Monat ging ins Land. Im Spätsommer war es kalt geworden, Regen war gefallen, herrlicher Regen, auf den die Natur lange Wochen so begehrlich gewartet hatte. Regen war ohne Unterbrechung vom Himmel gekommen, leise, plätschernd, alles mit Nässe durchdringend. Hans war mit der Herde jeden Tag hinausgewandert, die Tiere mit ihrem triefenden Fell hatten die Köpfe hängen lassen. Schwer hing den Schafen die jetzt schon kräftigere Wolle von den Körpern, durchnässt. Das Wasser war durch Hans‘ Umhang gedrungen, er fröstelte den ganzen Tag vor Nässe und Kälte.

Aber jetzt war die Sonne noch einmal durchgekommen, die Wärme kam in die Welt zurück, selbst abends saßen die Menschen wieder draußen. Hans traf Gesine öfter, jetzt, wo es warm war, und jeden Abend bat er sie um ein Treffen und jeden Abend verweigerte sie es. Zu groß war ihre Angst vor Vater und Pfarrer.

Hans hatte sich am Fluss gegenüber der Stelle, an der er tagsüber in den Weg zum Dorf einbog, einen Platz im Uferschilf geschaffen, hatte die Pflanzen herausgerissen, mit dem Stock den Boden abgeklopft, um Schlangen zu vertreiben und kam nun abends, so lange es warm war, an diesen Ort, sah auf den Fluss hinunter und träumte.

Er folgte mit den Blicken dem schnell fließenden Wasser, das zur Oder strömte, mit der es sich einige Kilometer abwärts vereinigte, sah, wie es Wellen warf, kleine, flinke, flimmernde Hügel von Wasser, die sich bildeten und wieder verschwanden, manchmal in einem Strudel. Nie wusste er, wo die Wellen entstanden und wo der Strudel. Wenn ein Fisch sprang, brachte er noch mehr Unordnung in den Lauf, weil die Wellen dann den Kreisen wichen, die der zurückfallende Fisch im Fluss hinterließ. Hans konnte sie bis ans Ufer, zu seinen Füßen verfolgen.

Und dann verschwamm das Wasser mit dem Gesicht, mit ihrem Gesicht, mit Gesines schmalen, braunen Wangen und mit dem vollen Mund, den er so gern geküsst hätte. Immer wieder sah er ihre braunen Augen ihn anstrahlen, mit Zuneigung, wie er sicher wusste, und mit ihrem Lächeln. Und er stellte sich ihren Körper vor. Er kannte ihre Figur nicht, war sie doch immer in den unförmigen Kittel aus Sackleinen gehüllt, den die Frauen und Mädchen hier alle trugen, graubraun, bis an die Knöchel reichend, weit ihre Gestalt umfließend. Aber er, Hans, konnte sich schon vorstellen, wie sie aussah, stellte sich ihre kleinen Mädchenbrüste vor, wie er sie umfing . . . Nein, das ging nicht, er durfte sich das nicht vorstellen. Sein Geschlecht hatte sich hart und schwer aufgerichtet, am liebsten hätte er dorthin gefasst, gedrückt und geknetet, aber auch das durfte er nicht, auch Hans hatte furchtbare Angst vor den Qualen der Hölle, „Und Gott sieht alles, immer und überall“, tönte die Stimme des Predigers in seinem Geist.

„Sieh da, ein so junger Mann und nicht im Krieg, wer glaubt denn das!“

Die Stimme war direkt hinter ihm auf dem Weg, er hatte in seinem Traum die Pferde nicht gehört, die mit ihren Reitern flussabwärts trabten.

Hans sah auf und erblickte einen Trupp von zehn Mann auf Pferden, mit Lederkollern und braunen Armbinden, jeder von ihnen mit der Muskete mit Bajonett bewaffnet und außerdem einem Schwert oder Messer. Wenn Hans noch Zweifel gehabt hätte, zu wem der Trupp gehörte, wurde ihm beim Anblick des Anführers, eines riesenhaften Offiziers mit hellblonden Haaren unter dem spitzen Hut, klar, dass es sich um Protestanten handeln müsse, wahrscheinlich war der Offizier Däne. Er rief dann auch einige Worte in einer fremden Sprache, worauf zwei Reiter absprangen und zu Hans liefen.

„Na, junger Mann“, sprach ihn der erste freundlich an, der gleiche, der Hans auf sich aufmerksam gemacht hatte, „hier so allein? Und ohne Leder, ohne Waffen? Bist wohl gar kein Soldat, eh?“

„Nein“, stotterte Hans, „ich bin Hirte und habe mich am Fluss ausgeruht.“

„Höre, Junge“, antwortete wieder der Soldat, „wir haben in einem Geplänkel einen Mann verloren, sieh, dort, das ist sein Pferd, das geht ledig, komm mit uns, lustiges Soldatenhandwerk.“

„Nein, lieber nicht, ich muss doch morgen wieder die Tiere hüten.“ Hans hatte jetzt Angst, dass sie ihn mitnehmen, noch mehr allerdings, dass sie das Dorf überfallen würden.

Wieder sagte der blonde Hüne einige befehlende Worte, worauf drei weitere Reiter abstiegen und an den Fluss kamen.

„Hörst du?“, fragte der Sprecher, „Unser Kommandeur hat nicht viel Geduld mit dir. Er befiehlt uns, dich mitzunehmen. Besser ist es also, du stehst jetzt auf und steigst auf dieses Pferd.“

„Aber ich kann nicht reiten und Waffen habe ich auch keine“.

„Das wird schon werden“, lachte der Soldat, „steige nur auf, wir reiten los und dann musst du eben sehen, dass du nicht runterfällst. Und Waffen? Hier, wir haben ein Messer und ein Schwert, das kannst du haben, gehörte dem gefallenen Kameraden. Und eine Muskete musst du dir eben in der nächsten Schlacht erobern, genauso wie das Lederwams. Hier mit deinem leichten Zeug, da geht ja jede Kugel durch, sieh zu, dass du in die Schlacht kommst.“

Mit diesen Worten fasste der Soldat Hans am Arm, der, in seiner Überraschung nur halb widerstrebend, mit ihm auf das Pferd zu ging und mit Schwung in den Sattel kam, halb springend, halb von dem anderen geworfen. Und er konnte kaum die Zügel aufnehmen, da trabte der Kommandeur schon weiter und Hans‘ Pferd folgte den anderen, erst im Schritt, dann im Trab, der Hans kräftig durchschüttelte und schließlich im Galopp.

Nach fünf Sprüngen fiel er. Das Pferd hatte, den ungeübten Reiter spürend, einen Bocksprung gemacht und Hans hatte sich fallen lassen, zufrieden, weil er dachte, sich nach dem Fallen in die Büsche zu schlagen, um zu entkommen. Aber ein Ruf des hinter ihm reitenden Soldaten ließ den Trupp anhalten. Der blonde Däne bellte unwirsch einen Befehl, drei Soldaten fassten ihn und wieder wurde Hans auf das Pferd gehoben und weiter ging es. Diesmal gab er sich Mühe, sich zu halten, er wusste jetzt, so konnte er nicht fliehen, er fügte sich in sein Schicksal.

Sie ritten in schnellem Galopp am Ufer flussabwärts, um nach drei Kilometern zu halten. Hans sah, dass hier das Ufer kahl war, eine Menge Spuren führten in das Wasser und auch der Blonde richtete sein Pferd in die Furt, die anderen folgten. Der Fluss war hier so flach, dass das Wasser ihm nur bis an den Sattel reichte, das Pferd brauchte nicht zu schwimmen. Sie erreichten die andere Seite, hier zweigte ein Weg nach Südosten ab und wieder ging es den Weg entlang im Galopp, immer weiter.

Hans Reinstätten war bisher in seinem Leben nur bis in das Nachbardorf an der Neiße aufwärts gekommen, niemals war er auf der anderen Flussseite gewesen, er hatte keine Vorstellung, wohin sie ritten. Schnell wurde es nun dunkel und sie hielten an, um ihr Nachtlager zu errichten.

„Ich heiße Karl und bin aus Nürnberg.“, sprach ihn beim Feuer der Soldat an, mit dem er bisher gesprochen hatte und der der Zugänglichste von ihnen zu sein schien, „Ich habe mich den Protestanten unter dem Grafen von Mansfeld angeschlossen, wir ziehen nach Süden, um uns mit den Mähren zu vereinigen und dem Kaiser in Wien die Hölle heiß zu machen. Morgen Mittag werden wir das Heer erreichen.“

„Ich bin Hans“, antwortete Hans, „wenn du aus Nürnberg stammst, verstehe ich, warum du so komisch sprichst. Unser Pfarrer hat uns erzählt, dass die Menschen im Süden zwar deutsch sprechen, aber auf eine andere Weise.“

„Ja“, lachte Karl, „bei uns sprechen sie alle so, ich musste mich erst an die Leute hier gewöhnen.“

„Aber was soll ich denn nur tun?“ Hans war ratlos. „Ich kann doch gar nicht kämpfen. Ich nutze doch den Protestanten gar nichts. Und was kann ich schon mit meinem Schwert hier ausrichten, das ihr mir gegeben habt?“

Wieder lachte Karl.

„So haben wir alle angefangen, die meisten jedenfalls. Meinst du vielleicht, ich bin freiwillig aus meinem schönen Nürnberg geflohen, um hier bei euch oben im kalten Norden gegen die Kaiserlichen zu kämpfen?“

„Aber warum bist du denn hier?“

Karl wurde ernst.

„Die Katholischen waren längere Zeit in meiner Heimat. Sie haben im Süden einige Städte erobert, Nürnberg war ihnen wohl nicht wichtig genug, um es zu besetzen. Nach ihrem Abmarsch aber sind die Protestanten eingefallen, erst in die Umgebung und dann in die Stadt und haben Männer gesucht, die sie als Soldaten mitnehmen konnten. Ich habe mich gut versteckt, auf dem Dachboden zu Hause, aber sie haben mich doch gefunden. Erik, der Blonde da drüben, unser Kommandeur, der hat mich aufgestöbert und mitgenommen. Sie haben mir eine Muskete und ein Schwert gegeben und gesagt, ich soll kämpfen. Und da habe ich eben gekämpft.“

„Hast du schon Menschen umgebracht?“ Fast schüchtern fragte Hans das.

„Klar, das bleibt nicht aus. Warte du erst mal, bis du in der Schlacht bist, dann wirst du das kennen lernen. Irgendwann fängt es an, dir Spaß zu machen, entweder bringst du den anderen um oder er dich.“

Damit drehte sich Karl in die Decke, auf der er lag. Nach kurzer Zeit hörte Hans am Schnarchen, dass er eingeschlafen war. Hans konnte lange Zeit keine Ruhe finden. Sollte er fliehen? Aber so einfach war das nicht. Sie hatten ihm befohlen, sich neben das Feuer zu legen und einen Wachtposten ausgestellt, der ihn unausgesetzt beobachtete.

Nein, er war jetzt gefangen und würde mit ihnen gehen müssen, zu den Mansfeldern, und mit ihnen kämpfen. Wenigstens hatte er nicht selbst für seine Ausrüstung zu sorgen, Pferd und Schwert waren ihm zugefallen, jetzt brauchte er noch ein Lederwams und ein Gewehr mit dem Bajonett, dann konnte er kämpfen. Den Gedanken an Gesine verdrängte er mit Macht.

4.

Am nächsten Tag erreichten sie nach einem kurzen Ritt die Oder, an deren linker Seite sie aufwärts ritten, den Spuren des Heeres nach, wie Karl erklärte. Ihr Trupp war ausgeschickt worden, um zu erkunden, ob die Kaiserlichen ihnen folgten. Sie hatten das Heer Wallensteins gesehen, in Ruhe, an der Elbe, und jetzt kamen sie zurück, um Mansfeld Bericht zu erstatten. Sie ritten immer weiter die Oder aufwärts, bis sie am dritten Tag von weitem die Rauchsäulen sahen. Dörfer waren es, die da brannten, erklärte Karl ihm, die Mansfelder hatten sie wohl erst geplündert und dann angezündet.

„So sind die Leute hier wohl katholisch?“, fragte Hans.

„Danach fragen wir nicht“, lachte Karl roh, „wir müssen uns ernähren, unser Kommandant hat uns schon ein paar Monate unseren Sold nicht ausgezahlt. Wir sollen uns aus dem Land holen, was wir brauchen, und genau das tun wir eben.“ Karl zwinkerte Hans zu.

„Du wirst auch schon noch merken, dass das für uns sogar besser ist. In den Dörfern gibt es einiges zu holen, und damit meine ich nicht nur Getreide, Schinken und Milch. Auch Mädchen haben sie hier, allerliebste Dinger. Im letzten Dorf habe ich eine gehabt, wie Milch und Honig, sage ich dir.“

Hans wurde es auf einmal schlecht. „Und wo ist sie jetzt?“, fragte er erstickt.

„Na, im Himmel hoffe ich“, antwortete Karl, „meinst du, ich habe sie leben gelassen, nachdem ich sie hatte? Das machen wir nie, man weiß ja nicht, ob man sie nicht noch einmal wieder trifft. Da ist man sicherer, wenn man sie danach abtut.“

Hans Reinstätten wendete sich ab. Er dachte an Gesine. Sie war allein im Dorf, und auch das Dorf war nicht geschützt. Wenn schon die Lutherischen so waren, wie sollte es in Neissmund erst gehen, wenn die Wallensteiner kamen. Von denen hatte Hans schauerliche Missetaten gehört.

Immer weiter zogen sie. Trotz der Sünden, die Karl auf sich geladen hatte, hielt sich Hans an ihn, er sprach wenigstens seine Sprache.

Nach einer Woche drang die Nachricht durch, dass Wallenstein mit zwanzigtausend Mann auf ihren Fersen war. Nur wenige Tage sei er hinter ihnen, hieß es. Die Mansfelder hatten mittlerweile die Oder überquert und zogen am östlichen Ufer südwärts, Wallenstein mit ein paar Tagen Abstand folgte auf der anderen Oderseite, immer die Protestanten bedrängend.

Hans ritt mit Karl, wieder unter dem Kommando des blonden, riesigen Dänen, hinter der Armee als Nachhut, um die Katholischen zu beobachten, die ihnen folgten. Sie waren abgesessen und spähten eifrig zum andern Ufer.

„Kannst du die Wallensteiner sehen?“, fragte Hans.

„Nein“, flüsterte Karl, „aber rede leiser. Wenn sie kommen, sollen sie uns nicht hören.“

Zwei Schüsse krachten direkt hinter ihnen, und als sie sich umsahen, lagen ihr Kommandeur und ein weiterer ihrer Kameraden mit durchschossener Brust auf dem Boden. Zehn Musketiere, mit blauen Armbändern, standen vor ihnen und richteten die Gewehre auf die beiden Überlebenden.

„Wo seid ihr her und was wollt ihr hier?“, fragte barsch der Anführer.

„Wir liegen hier und machen Rast. Ich bin Karl, das hier ist mein Kamerad Hans und wir ruhen uns aus.“

„Das hättet ihr wohl gern“, lachte der Anführer, Hans verstand ihn kaum. In seinem Dorf sprach man das Deutsche mit dem breiten schlesischen Akzent, der andere sprach scharf, stockend, als ob der des Deutschen nicht sehr mächtig sei.

„Ich bin Böhme“, sagte er denn auch, „und uns Böhmen legt man nicht so leicht herein. Ihr seid Protestantische und kundschaftet uns aus. Wir gehören zu Vorhut des Generals Wallenstein, der mit seiner Hauptmacht kurz hinter uns kommt. Ihr habt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ihr folgt uns zu unserem Heer und gliedert euch da ein oder ihr werdet jetzt von uns erschossen. Also wählt.“

Hans und Karl sahen sich zweifelnd an. Hans wollte schon ablehnen, auf keinen Fall wollte er mit den Katholischen reiten und schon gar nicht für den Satan in Person, ihren General Wallenstein, da hörte er seinen Gefährten sagen:

„Teufel, Wallenstein oder Mansfeld, was macht das schon für einen Unterschied. Ich hoffe, euer General zahlt unseren Sold besser und pünktlicher aus als der Mansfelder. Und erschießen lassen will ich mich nicht, komm Hans.“ Und er zog Reinstätten, der sich erst sacht weigerte, mit sich fort, auf den Böhmen zu.

„Komm mit, wohin reiten wir?“, fragte er und fasste den fremden Landsknecht vertraulich am Arm.

„Aber auf Sold würde ich auch bei Wallenstein besser nicht hoffen“, radebrechte der Böhme, „ich heiße Valentin, ich bin der Hauptmann dieser Gruppe hier, und unseren Sold, den müssen wir uns inzwischen auch von den Feldern und in den Dörfern holen.“

„Also genau wie bei den Unsrigen“, Karl ließ sich nicht entmutigen, „komm Hans, es hat sich für uns nicht viel geändert, reiten wir mit ihnen.“

5.

Karl und Hans ritten nun mit den Wallensteinern, wie sie vorher Mansfeld gefolgt waren und sie merkten bald, dass es unter diesem General nicht anders zuging als bei seinen Feinden. Sie zogen als Vorhut dem eigentlichen Heer voran, weil sie als Reitereinheit beweglich waren. Trafen sie auf Dörfer, forderten sie die Bewohner auf, sämtliches Hab und Gut herauszugeben. In einigen Orten lieferte man ihnen sofort und alles aus, was sie tragen konnten. Andere waren von den Mansfeldern, die ihnen immer voraus waren, schon ausgeplündert worden, die Bauern hatten nichts mehr, was sie den Landsknechten geben konnten, davon überzeugten sie sich in jedem Dorf durch genaue Untersuchung. Und dann kamen die Soldaten in Dörfer, in denen die Bewohner sich bewaffnet hatten und sich weigerten, irgendetwas zu geben.

Es war in einer kleinen Ortschaft etwa zwanzig Kilometer westlich der Oder. Die Hitze brütete über den Feldern, als die Hundertschaft, in der Hans Reinstätten ritt, über den Hügel kam und die achtzig Häuser, aus denen das Dorf bestand, zu sehen waren.

„Die holen wir uns“, lachte der Rittmeister, der den Zug anführte, „wir schicken erst eine Abordnung, und ich hoffe sehr, dass sie sich weigern, sich zu unterwerfen. Ich habe schon lange nicht mehr die Unterröcke einer Frau gesehen.“ Die ihn hörten, lachten roh.

„Geht uns genauso, Herr Rittmeister.“

„Also los, ihr fünf, reitet hin und befehlt ihnen, alles herauszugeben, was das Dorf an Früchten und an Schätzen hat. Wir warten hier.“

Der Rittmeister saß ab und pflockte sein Pferd neben dem Getreidefeld an, dass es die Körner fressen konnte, die anderen folgten seinem Beispiel. Zwei Stunden warteten sie, sie hatten es sich auf dem schmalen Weg bequem gemacht, da sahen sie eine Staubwolke den Hügel aufwärts kommen.

„Na, die galoppieren ja“, sagte Karl, der sich gewohnheitsmäßig neben Hans hielt, „warum haben die es so eilig?“

Als die Wolke näherkam, sahen sie, dass es nur noch drei Pferde mit ihren Reitern waren, die da ankamen und schon von weitem schrien:

„Auf, zu Pferd, die haben sich bewaffnet, zwei von uns haben sie erschossen. Rächt sie!“

Wie gestochen sprangen die Reiter auf, pflockten ihre Pferde ab und warteten auf Befehle ihres Kommandeurs.

„Ruhe!“ befahl der, „Ruhe! Wir reiten nicht unkontrolliert runter. Wartet auf die Befehle, ich will erst den Bericht hören.“

„Die haben uns von weitem beschossen“, schrie einer der Überlebenden wütend, „als wir näherkamen, haben sie uns aufgefordert abzuhauen. Und als wir trotzdem weiter ritten, haben sie gezielt und zwei von uns getroffen.“

„Abteilung Marsch“, kommandierte der Rittmeister, „in Fünferreihen über das Feld, und auf mein Kommando, Attacke. Reitet das Dorf nieder, tötet alles, was sich uns entgegenstellt.“

Hans Reinstätten ritt in der Angriffsformation unmittelbar hinter dem Kommandeur. Diesen Ehrenposten hatte er nach einer besonders wütenden Auseinandersetzung mit Dörflern erhalten.

„Bist ein guter Reiter geworden, Reinstätten“, hatte der Rittmeister ihn gelobt, „reitest ja wie der Teufel und kämpfst nicht eben schlecht. Mach so weiter, kannst noch aufsteigen bei Wallenstein. Sieh mich an, ich bin auch so ein armer Schlucker, Herbert Krüger heiße ich, Krüger, klingt nicht gerade nach adeligem Offizier, was? Aber unser General, der ist nicht auf Titel aus, der will Kämpfer und die befördert er. Warte nur, bis wir zum Heer kommen und dann zeig dich dem General im Kampf.“

Sie ritten im leichten Trab durch ein Roggenfeld, auf dem die goldgelben Halme mit den Ähren reif waren.

„Müsste jetzt dringend gemäht werden“, schoss es Hans fachmännisch durch den Kopf, da brüllte Krüger „Attacke!“, dehnte das e lange aus und fiel in Galopp, der immer schneller und schneller wurde. Hans hörte das Jachtern der Pferde hinter sich, sog die um ihn sausende Luft durch den offenen Mund, vergaß alles andere und trieb sein Pferd zu immer rasenderem Galopp an. Sie erreichten das Dorf, Hans sah die Reihe der Bauern, die mit wenigen Gewehren, mit Gabeln und Dreschflegeln bewaffnet waren und war heran, hieb den Säbel auf den Kopf eines Bauern, sah aus den Augenwinkeln einen Kameraden fallen, wohl ein Schuss, wendete und griff erneut an. Nach vier Minuten war der Kampf vorbei. Dreißig Bauern lagen durchstochen, erschossen, tot oder schwerverwundet auf dem Boden. Ein dicker Mann, in Lumpen gekleidet, kam aus dem Dorf auf sie zu.

„Gnade, Herren Soldaten, Gnade!“, schrie er schon von weitem, „ich bin nicht schuld, die anderen wollten nicht geben, ich sage, wo alles ist, Gnade.“

„Fesselt ihn und sperrt ihn ein“, befahl der Kommandeur kurz, „mit ihm beschäftigen wir uns später. Jetzt: Hinein ins Dorf und holt euch alles, was ihr braucht.“

Johlend fielen die hundert Soldaten in das Dorf. Hans ging langsam hinterher. Er fand keinen Gefallen am Plündern, er konnte ja doch die Reichtümer, die sie vielleicht fanden, nicht mitnehmen. Ihm war es genug, Vorräte für drei Tage zu finden, danach würde man weitersehen.

Als er weiter ging, fiel ihm von weitem ein Haus auf, vor dem acht seiner Kameraden wie wartend standen und sich nicht an der allgemeinen Plünderei beteiligten. Er ging auf sie zu.

„Worauf wartet ihr denn?“, fragte er neugierig.

„Da drinnen haben sie zwei Frauen gefunden, die brauchen wir jetzt am meisten“, antwortete einer mit schiefem Grinsen, „komm, stell dich an, bleibt auch für dich was übrig.“

Hans hörte die Entsetzensschreie aus dem Haus und wandte sich angeekelt ab. Am liebsten hätte er die da drin und die hier draußen verjagt, aber er wusste, das würde ihn das Leben kosten. Sie würden ihn umbringen, nur damit sie die Frauen vergewaltigen konnten.

Hans dachte an Gesine. Hoffentlich war in Neissmund alles ruhig, hoffentlich machten sich da nicht andere Soldaten über Gesine und ihre Mutter her. Er ging zum Rand des Dorfes und setzte sich dort hin und wartete auf den Abmarsch. Wie er aber wartete, hörte er die gequälten Schreie eines Mannes, der gefoltert wurde. Er wusste, sie nahmen sich jetzt den Dicken vor, der sich ergeben wollte. An den Plünderungen in diesem Dorf beteiligte er sich nicht.

_________________________

ZwischenWelten

Подняться наверх