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4. Die erste Erziehung des blinden Kindes.

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Inhaltsverzeichnis

Die erste Erziehung des blinden Kindes ist von großer Bedeutung für sein ganzes Leben. Was hier versäumt wird, läßt sich später nur schwer nachholen; erhält die erste Erziehung eine falsche Richtung, so kann vielfach auch die tüchtigste Anstaltsarbeit den Schaden nicht wieder gutmachen. Umgekehrt arbeitet eine verständige Lebenshaltung des Kindes im elterlichen Hause der Anstaltserziehung trefflich vor.

Die falsche Erziehung hat häufig ihren Grund in dem Schmerz der Mutter über das mit der Blindheit zerstörte Glück ihres Kindes und der daraus hervorwachsenden weichen Stimmung und übergroßen Liebe, die dem blinden Kinde alles vermeintlich Widerwärtige und Unangenehme fernzuhalten sucht, die ihm keinen Wunsch versagt und es vor jeder Anstrengung ängstlich behütet. Der Schmerz der Mutter ist wohl zu verstehen, und es ist begreiflich, daß sie ihrem Schmerzenskinde besondere Liebe zuwendet. Trotzdem ist es, gerade um des Kindes willen, ihre Pflicht, die weichen Regungen zurückzudrängen und sich eine ruhigere Stimmung zu erkämpfen. Es ist dann zu erwarten, daß die Erziehung nicht eine Gefühlssache, sondern ein Ergebnis verständiger Überlegung wird.

Das Ziel der häuslichen Erziehung ist: Entwickelung und Übung der in den Anlagen vorhandenen leiblichen und geistigen Fähigkeiten des Kindes bis zu einem solchen Grade, daß die Erziehung in der Blindenanstalt fortgesetzt werden kann.

Erschwert wird diese Aufgabe durch den Umstand, daß das blinde Kind infolge seiner geringeren Beobachtungsfähigkeit mehr Anleitung zum Gebrauch und zur Übung seiner Kräfte bedarf als das sehende. Fehlt es hierzu den Angehörigen des Kindes an der nötigen Zeit oder dem erforderlichen Geschick, so ist die notwendige Folge, daß die Anlagen des sich selbst überlassenen Kindes unentwickelt bleiben oder daß sich seine Kräfte in falscher Richtung betätigen.

In körperlicher Hinsicht wird die Mutter das blinde Kind ebenso frühe wie das sehende zur Reinlichkeit und geregelter Befriedigung seiner Bedürfnisse anhalten. Es ist gar zu abstoßend, wenn ein blindes Kind im vorgeschrittenen Alter noch mit den einfachsten Pflichten der Sauberkeit in Widerspruch gerät.

Das Gehen kann und soll das blinde Kind ebenso frühe erlernen wie das sehende; es ist nicht gut, wenn es länger als unbedingt nötig, getragen wird. Auf baldige Selbständigkeit in der Fortbewegung ist von vornherein Bedacht zu nehmen. Man lasse das Kind zunächst an Stühlen und andern Hausgeräten entlang gehen und lenke später seine Schritte durch ermunternde Zurufe. Natürlich kann auch die Führung des Kindes nicht entbehrt werden, sie soll aber möglichst eingeschränkt werden.

Frühe soll die Mutter das Kind daran gewöhnen, sich selbst an- und auszukleiden, sich selbständig zu waschen und zu kämmen. Es dauert wohl recht lange, ehe das Kind damit zustande kommt, und die Mutter muß bei den ersten Versuchen große Geduld beweisen, muß auch später noch viel kontrollieren und nachbessern, aber dafür ist mit diesen ersten und wichtigsten Arbeiten des Selbstbedienens ein großer Schritt vorwärts getan zur Selbständigkeit des Kindes. Auch lernt es dabei seinen Körper aufs beste kennen, was sehr wichtig ist. Wo irgend möglich, soll das Kind ferner angeregt werden, Dinge herbeizuholen und fortzutragen, Botengänge zu machen und andere mit Bewegung verbundene kleine Dienste zu leisten, damit sein Hin- und Hergehen einen bestimmten Zweck erhält und der Orientierungssinn in Anspruch genommen wird. Geschieht das nicht, so entsteht die Gefahr, daß der Tätigkeitstrieb des Kindes seine Befriedigung in passiven Bewegungen sucht: Wiegen des Körpers, Drehen des Kopfes, Zappeln der Arme und Beine, Augenbohren usw.

An Mäßigkeit im Essen und Trinken ist das Kind von vornherein zu gewöhnen. In dieser Beziehung wird unendlich oft gefehlt, besonders dadurch, daß man das Kind an Leckereien gewöhnt. Es kommt dann häufig dahin, daß später ein solches Kind die gesunde und kräftige Hausmannskost der Anstalt verachtet und jeden Groschen zur Beschaffung von Kuchen und Zuckerwerk verwendet. Natürlich soll das Kind auch gute Manieren beim Essen beobachten; man übe mit ihm die richtige Haltung des Löffels und achte darauf, daß es bescheiden bittet, wenn es noch nicht satt ist.

Dinge zum Spielen soll das blinde Kind schon in der Wiege erhalten: ein Bällchen, eine Klapper, ein Stäbchen. Später ist die Auswahl größer: Brettchen, Hölzchen, Bausteine, Kugeln, Kegel, ein Löffel zum Graben im Sande, ein Becher, ein kleiner Wagen, eine Karre pp., immer Gegenstände, mit denen es Tätigkeiten ausführen kann. Auch ein Klümpchen Ton oder Wachs zum Formen ist als Spielgabe vortrefflich geeignet. Öfterer Wechsel des Spielzeuges ist geboten, um Einförmigkeit und Langeweile nicht aufkommen zu lassen. Das bloße Darbieten des Spielzeuges wird freilich nicht genügen; da das blinde Kind das Tun und Treiben anderer Menschen nicht beobachten kann, bleibt sein Nachahmungstrieb ohne Anregung, und es weiß mit dem Spielzeuge nichts anzufangen. Anleitung ist darum auch hier notwendig. Diese wird am besten von Kindern, z. B. den Geschwistern gegeben, wie überhaupt ein häufiges Zusammensein mit anderen Kindern sehr anregend und fördernd auf das blinde Kind einwirkt. In der warmen Jahreszeit soll es sich so oft als möglich im Freien aufhalten. Das ist nicht bloß aus gesundheitlichen Gründen wichtig, sondern auch deshalb, weil dann das Kind in die für seine geistige Entwickelung so notwendige Berührung mit der Natur kommt. Welche wichtigen Entdeckungen kann das blinde Kind im Garten und Hof seiner Eltern machen! Welcher geistige Gewinn geht dem Kinde der Großstadt verloren, das ans Zimmer gefesselt ist und nur von Zeit zu Zeit zu einem Spaziergang vor’s Tor hinausgeführt wird!

Soll man dem blinden Kinde auch Musikinstrumente in die Hand geben? Die Ansichten darüber sind geteilt. Tatsächlich verleiten manche Instrumente, wie Klingel und Mundharmonika, zu allerlei übeln Angewohnheiten, wie Gesichterschneiden und Händezappeln; vor ihnen muß daher gewarnt werden. Dagegen kann man eine Holz- oder Blechflöte, die einige Töne umfaßt, dem Kinde unbedenklich in die Hand geben; es wird bald kleine Melodien blasen lernen, die sein musikalisches Gehör anregen und ihm Freude bereiten.

Wird das Kind älter, so kann es zu allerlei kleinen häuslichen Arbeiten herangezogen werden: es begleitet die Mutter in den Keller und holt Gemüse und Kartoffeln, es mahlt Kaffee, es hilft beim Decken des Tisches, beim Reinigen des Geschirrs, es stellt die Stühle in Ordnung, füttert die Tauben und Hühner, holt Holz herbei usw. Je vielseitiger diese Arbeiten sind, desto sicherer und selbständiger wird das Kind in seinen Bewegungen, desto fügsamer werden die Hände, desto reicher wird sein Erfahrungskreis. Auch einige Übungen, die einen mehr formalen Charakter haben und die Ausbildung des Tastsinnes direkt fördern, kann die Mutter vornehmen lassen, etwa das Sortieren verschiedener Früchte, das Aufreihen von Perlen und Knöpfen, das Einlegen von Zündhölzchen usw.

Auch auf die Übung des Gehörs wird die Mutter bedacht sein. Da das Gehör bei der Orientierung des Blinden hervorragend mitwirkt, wird sie das Kind auf die Geräusche in seiner Umgebung aufmerksam machen, damit es lernt, das Ohr mehr und mehr als Führer zu benutzen. Sie klatscht z. B. in die Hände, wenn das Kind zu ihr kommen soll, bewegt den Türdrücker, damit es nach dem Geräusch die Richtung des Ausganges beurteilt, schickt es an dieses oder jenes Hausgerät und läßt daran mit dem Finger oder der Faust klopfen, läßt durch Fußstampfen den Boden untersuchen, läßt zuweilen eine Stricknadel, einen Schlüssel, eine Streichholzschachtel, ein Buch, einen Fingerhut, eine Nuß und ähnliche Dinge zur Erde fallen und sie nach dem Klange erkennen und aufsuchen, macht auf das Rollen des Wagens, das Brausen des Sturmes, das Prasseln der Regentropfen, den Gesang eines Vogels aufmerksam.

Mit allem Ernst muß Eigensinn und üble Laune des blinden Kindes bekämpft werden. Ist es notwendig, so darf die Mutter vor Strafe nicht zurückschrecken. Das ist nicht Härte, sondern eine Wohltat für das blinde Kind; die Strafe bleibt ihm im Gedächtnis, und Eigensinn und üble Laune kommen nicht so leicht wieder auf.

Das religiöse Empfinden wird die Mutter durch kindliches Gebet und durch Hinweis auf den himmlischen Vater und den Heiland wecken. Einige einfache Gebetsverschen können dem Kinde eingeprägt werden. Kleine Liedchen helfen den Frohsinn fördern und beleben den musikalischen Sinn. Scherzfragen und Rätsel regen zum Denken an; die Darbietung von Kinderreimen kommt der Sprechlust des Kindes entgegen und fördert die Sprachtechnik. Dagegen ist die gedächtnismäßige Aneignung von unverstandenen Gedichten und biblischen Erzählungen unbedingt zu vermeiden; sie leistet der für den Blinden so verhängnisvollen verbalen Bildung Vorschub.

Nicht selten holen die Eltern eines blinden Kindes sich in der Blindenanstalt Rat über seine zweckmäßigste Erziehung. Solchen Rat wird jeder Blindenlehrer gern erteilen. Gut ist es, wenn den Eltern dabei eine kurze schriftliche Anleitung in die Hand gegeben werden kann. Eine solche bietet das von dem Verein zur Fürsorge für die Blinden der Rheinprovinz herausgegebene, unten näher bezeichnete Flugblatt.

Flugblatt: An die Eltern sehender und blinder Kinder. Verfaßt von Dr. Th. Saemisch und W. Mecker. Zu beziehen durch die Provinzial-Blindenanstalt in Düren (Rheinland).

Schaidler, Das blinde Kind im Elternhause. Jahresbericht des Kgl. Zentral-Blinden-Instituts in München für das Schuljahr 1911/12.

Heller, Die Blindenbildung in ihrer Beziehung zum Leben. Kongr.-Ber. Frankfurt a. M. Seite 117 und 118.

Froneberg, Das preußische Fürsorgeerziehungsgesetz für Minderjährige in seiner Anwendung auf die Erziehung der Blinden. Kongr.-Ber. Breslau 1901.

Erziehung und Unterricht der Blinden

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