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2. Einfluß der Blindheit auf die geistige Entwickelung.
ОглавлениеDie Folgen der Blindheit, soweit sie für die geistige Entwickelung in Betracht kommen, sind 1. absolute, d. h. solche, die durch die Natur der Blindheit bedingt sind, und 2. relative, d. h. solche, die nicht aus dem Zustande der Blindheit unmittelbar hervorgehen, sondern erst bei mangelnder oder verkehrter Erziehung in Erscheinung treten. Die ersteren müssen als etwas Unabänderliches hingenommen werden; ihnen sind alle, die in jugendlichem und die im vorgeschrittenen Alter Erblindeten, unterworfen. Die letzteren können abgewendet werden. Sie treten bei dem verständig erzogenen Blinden seltener, bei dem sich selbst überlassenen aber fast immer auf. Späterblindete sind ihnen weniger, von Geburt an Blinde häufiger unterworfen. Erziehung und Unterricht können sie beseitigen oder wenigstens mildern.
Es wird zuerst von den absoluten Folgen der Blindheit zu reden sein.
Da erscheint am auffallendsten die mit der Blindheit gegebene große Beschränkung der sinnlichen Wahrnehmung.
Das Auge des Sehenden ist unausgesetzt tätig und nimmt, bewußt oder unbewußt, willig oder widerwillig, eine große Zahl von Eindrücken auf. Kein anderer Sinn führt dem Geiste so viel Nahrung zu wie das Auge; etwa neun Zehntel unsers gesamten Anschauungs- und Vorstellungsmaterials sind auf den Gesichtssinn zurückzuführen.
Das wichtigste Aufnahmeorgan des Blinden, die Hand, muß die Gegenstände suchen. Das Tastfeld ist im Vergleich zum Gesichtsfeld ein sehr kleines. Eine genaue Untersuchung kann die tastende Hand nur bei solchen Gegenständen vornehmen, die in das Tastfeld hineinpassen; was über den Raum der ausgebreiteten Arme hinausreicht, geht dem Blinden vielfach ganz verloren oder es wird nur unvollkommen erkannt. Was das sagen will, wird klar, wenn man bedenkt, daß auf diese Weise das blinde Kind im vorschulpflichtigen Alter von den meisten Dingen in seiner nächsten Umgebung nur Bruchstücke kennen lernen kann (Haus, Baum, Fenster, Ofen, Tür, Schrank etc.).
Ist die tastende Hand also hinsichtlich der Größe der zu untersuchenden Körper nach der oberen Grenze hin beschränkt, so ist sie es nicht minder nach der unteren Grenze der Ausdehnung hin: kleine Gegenstände, feine und zarte Gebilde, sowie die Zusammensetzung und Struktur von Stoffen, die das Auge mühelos erkennt, werden vom Tastsinn nicht mehr aufgefaßt und unterschieden. Damit geht dem Blinden die ganze Kleinwelt verloren, sei es die unendlich mannigfaltige Kleinwelt in der Natur oder die Fülle des Kleinen in der Technik und Kunst. Der Grund für diese Beschränkung ist in der physiologischen Unvollkommenheit des Tastsinnes zu suchen, wovon im VI. Kapitel die Rede sein wird.
Der Tastsinn ist an die Körperwelt gebunden; Flächendarstellungen sind ihm unzugänglich. Infolgedessen geht dem Blinden ein überaus reiches Bildungsmaterial verloren: Die in der Schrift niedergelegten Schätze der Sprache, die Liniengebilde der Meßkunst, die Werke des Zeichners und Malers. Hierin liegt auch ein Hauptgrund für die Schwierigkeit des Blindenunterrichts: sämtliche Lehrmittel müssen plastisch sein, und alles, was der Blinde selbst darstellt, muß ebenfalls körperliche Gestalt haben. Als äußere Folgen dieser Notwendigkeit ergeben sich große Kosten bei der Beschaffung von Lehrmitteln und ein bedeutendes Volumen derselben.
Dem Blinden fehlt ferner mit dem Auge der ordnende und zusammenfassende Sinn.
Das Auge gliedert die Erscheinungswelt in Gruppen; es hebt einzelne Merkmale oder einzelne Gegenstände hervor, ordnet diesen die minder wichtigen unter und faßt das Ganze zusammen. So entstehen die bereits jedem Kinde geläufigen Gruppenvorstellungen: Wiese, Wald, Feld, Dorf, Stadt, Bahnhof usw.
Natürlich ist dieses Zusammenfassen zu einer Einheit ein geistiger Vorgang, nicht eine Tätigkeit des Auges; dieses führt dem Geiste nur Wahrnehmungen zu, die aber infolge der technischen Vollkommenheit des Sehorgans so genau und umfassend sind, daß der Geist die Gliederung und Zusammenfassung des Geschauten mit Leichtigkeit vollzieht.
Der Blinde kann diese Gruppierung und Zusammenfassung zu einer Einheit nicht vornehmen, da die sinnliche Gesamtauffassung eines gegliederten Ganzen durch den Tastsinn nicht möglich ist. Nur bei beschränkter Raumausdehnung kommt das gliedernde und ordnende Moment auch beim Tasten zur Wirkung. Doch kann der Unterricht die Auffassung eines größeren zusammengesetzten Ganzen so vorbereiten, daß mit Hilfe der Phantasie wenigstens eine ungefähre Vorstellung einer Gruppe gewonnen wird.
Von weitgehendem Einfluß auf das Geistesleben des Blinden ist der Umstand, daß er die in seiner Umgebung auftretenden Tätigkeiten nur unvollkommen wahrzunehmen und zu beobachten vermag. Damit geht ihm einmal die Anregung zu eigener nachahmender Tätigkeit verloren, und sodann wird ihm durch diesen Umstand der Einblick in den Werdegang vieler Dinge und Verhältnisse entzogen.
Das sehende Kind lernt bereits in den ersten Lebensjahren auf dem Wege der spielenden Nachahmung erstaunlich viel. Auf den verschiedensten Gebieten sammelt es durch Selbstbetätigung Anschauungen und Erfahrungen und gewinnt so eine Grundlage für seine Geistesbildung, auf welcher die Schule weiter bauen kann. Mehr noch: die nachahmende Tätigkeit bildet seinen Körper, namentlich die Hand, und übt ihn in seiner Bestimmung, ein williges Werkzeug des Geistes zu sein.
Dem Blinden wird die Beobachtung einer Tätigkeit schwer und in vielen Fällen ganz unmöglich, da ein tastendes Orientieren die Bewegung stört, ganz zu schweigen von den für die tastende Hand gefährlichen und denjenigen Bewegungen, die ihrer Natur nach überhaupt nur durch das Auge aufgefaßt werden können (Flug eines Vogels, Zug der Wolken usw.). Wo eine Tätigkeit mit Schallwirkungen verbunden ist, regen die letzteren den Blinden zuweilen an, die gleiche Wirkung hervorzurufen (Läuten einer Glocke, Klopfen mit dem Hammer usw.), aber diese Art der Nachahmung bleibt meistens eine mechanische und befriedigt ihn, weil sie das Ohr angenehm unterhält. Bewegungen, die sich geräuschlos vollziehen, können ihn zu eigener Tätigkeit und damit zu geistiger Durchdringung des Vorganges nicht anregen. Dieses Manko ist außerordentlich schwerwiegend: weil der Blinde das sich in Tätigkeit äußernde Leben nur unvollkommen wahrnehmen und beobachten kann, kommt er in die Gefahr, selber untätig zu bleiben.
Damit wenden wir uns zu den Folgen der Blindheit, die oben als relative bezeichnet wurden.
Die Hinneigung zur Untätigkeit, zum passiven Verhalten, macht sich vorzugsweise bei dem von Geburt an Blinden bemerkbar, zumal wenn ein solches Kind von den Eltern in den ersten Lebensjahren ängstlich behütet, an freier Bewegung gehindert und zum Gebrauch seiner Glieder in Spiel und Arbeit nicht angehalten wird. Diese Untätigkeit wird dem Blinden zum Verhängnis. Abgesehen von den nachteiligen Folgen für die allgemeine körperliche Entwickelung, von denen vorhin die Rede war, ist es besonders das für die Geistesbildung des Blinden wichtigste Organ, die Hand, die durch diese Passivität schweren Schaden erleidet. Die in Ruhe und Beschäftigungslosigkeit beharrenden Hände bleiben lose Muskelbündel, ohne Kraft und Geschicklichkeit, unsicher und unbeholfen im Tasten und unbrauchbar selbst für die einfachsten Verrichtungen des täglichen Lebens. Bedenkt man, daß die Hand dem Blinden aufnehmendes und ausführendes Organ zugleich ist, daß beide Arten der Betätigung in regster Wechselwirkung stehen, daß eine die andere fördert und die geistige Erfassung und Durchdringung der realen Welt ohne die Hand nicht denkbar ist, so wird klar, wie schwer sich die Nichtbetätigung der Hand rächen muß.
Im Geistesleben des Blinden spielt das Gehör eine bedeutende Rolle. Das Ohr verbindet den Blinden mit der Ferne, es gibt ihm Nachricht über mancherlei Vorgänge in seiner Umgebung, es verschafft ihm in Musik und Poesie hohe ästhetische Genüsse. Aber dieser für ihn so wertvolle Sinn kann ihm auch verhängnisvoll werden, nämlich dann, wenn die Gehörswahrnehmungen ein solches Übergewicht erlangen, daß sie die Tastwahrnehmungen stark zurückdrängen und dadurch bestimmend auf die ganze Richtung der Entwickelung einwirken. Dieses tritt nur zu leicht ein. Während Objekte zum Tasten dem Blinden dargereicht oder ihm wenigstens so genähert werden müssen, daß seine Hand sie zu erreichen vermag, drängen sich Töne und Geräusche dem Blinden geradezu auf. Nun sollte man meinen, er hätte Verlangen, den Gegenstand, der einen Klang hervorbringt, auch durch den Tastsinn kennen zu lernen. Aber das ist meist nicht der Fall. Entweder befriedigt ihn der Klang an sich, besonders wenn er dem Ohre angenehm ist, so völlig, daß es zu einem Nachdenken über die Ursache garnicht kommt, oder die Einbildungskraft ist sofort bereit, ihm vom Urheber des Klanges irgendein phantastisches Bild zu entwerfen. Dieses Spiel der Einbildungskraft bereitet ihm so viel Genuß, daß das Verlangen nach der tatsächlichen Vorstellung ganz zurücktritt. Es kommt auch noch die in jedem Menschen vorhandene Scheu vor Anstrengung hinzu: das bloße Anhören ist bequemer als die sorgfältige Untersuchung mit der Hand. So entstehen auf Grund des bloßen Klangbildes Vorstellungen in der Seele des Blinden, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Man bezeichnet sie nach dem Vorgange Hitschmanns mit dem Namen Surrogatvorstellungen. Erlangt das Ohr im Geistesleben des Blinden die herrschende Stellung, so wird der Bildung der reale Boden entzogen, es entwickelt sich eine weitgehende Vorstellungsträgheit, Phantasiegebilde beherrschen sein Denken, und er wird ein weltfremder, mit dem praktischen Leben in Widerspruch stehender Mensch.
Zu dieser Gefahr, der Hinneigung zu einem „Traumleben“, trägt auch die Sprache des Blinden bei.
Das sehende Kind erfährt für die durch das Auge aufgenommenen Gegenstände meist auch den Namen; Ding und Name decken sich; das Klangbild ruft sofort die Vorstellung des Gegenstandes hervor, das Bild des Gegenstandes reproduziert den Namen. Das blinde Kind hört den Namen eines Dinges, aber nur in den seltensten Fällen tritt mit der Gehörswahrnehmung auch gleichzeitig die entsprechende Tastwahrnehmung auf. So bleibt der Name des Dinges dem Kinde ein bloßer Klang, für den im besten Falle die Phantasie einen Surrogatinhalt schafft. Da dem Blinden eine andere Sprache als die der Sehenden nicht zur Verfügung steht, so muß seine Sprache inhaltsarm sein: er begnügt sich mit dem Klangbilde. Gleichwohl weiß er meist in seine Sprache den Ton der Überzeugung zu legen, so daß seine Umgebung über die mangelnde reale Grundlage der Sprache hinweggetäuscht wird. Auch der Blinde selbst glaubt, mit dem Worte die Sache zu haben und täuscht sich damit über seine Bildung und sein Verständnis für die wirkliche Welt.
Aus dem Gesagten läßt sich auch der Einfluß der Blindheit auf das Willensleben unschwer erkennen. Der Blinde, der Tätigkeiten nicht verfolgen kann, dessen Nachahmungstrieb nicht angeregt wird, der in Phantasiebildern schwelgt, neigt von Natur zur Passivität. Wohl ist seine Phantasie unausgesetzt tätig, aber die Hände empfangen vom Gehirn keinen Auftrag, etwas zu schaffen, und der Wissensdrang treibt ihn nicht zum Versuchen und Probieren. Wird er nun gar noch von seiner Umgebung durch weitgehende Hilfeleistung und Bedienung verwöhnt, so traut er sich garnichts zu, er bleibt schlaff und energielos[4].
Nur eine verständige Erziehung und ein geeigneter Unterricht können diese Energielosigkeit beseitigen, die von Natur vorhandene Zaghaftigkeit in frische und fröhliche Aktivität verwandeln und den Willen zu den höchsten Zielen anfeuern. Freilich kann es dann auch, besonders wenn die Leistungen des Blinden angestaunt und bewundert werden, leicht dahin kommen, daß er seine Kraft überschätzt und die Meinung gewinnt, er könne in allen Stücken dasselbe leisten wie der Sehende. Das „Ich kann alles, was die Sehenden können!“ ist für ihn ebenso gefährlich wie das „Ich kann nichts!“
Was den Einfluß der Blindheit auf das Gefühlsleben betrifft, so ist zu erwähnen, daß die mit dem Triebleben zusammenhängenden niederen Gefühle bei dem sich selbst überlassenen Blinden zu besonderer Stärke gelangen. Insbesondere gilt dies von den mit Befriedigung des Nahrungstriebes auftretenden Gefühlen. Wo Erziehung und Unterricht einen reichen, namentlich auch ethischen Vorstellungskreis schaffen, beeinflußt dieser das Gefühlsleben derart, daß die niederen Gefühle zurücktreten und die höheren Gefühle größeren Einfluß erlangen. (Mitgefühl, ästhetische, religiöse, patriotische Gefühle usw.) Großen Einfluß auf die Gemütsstimmung des Blinden hat das Bewußtsein von der eigenen Leistungsfähigkeit. Das Gefühl des Gelingens einer Arbeit erzeugt Frohsinn und Optimismus; wo ihm dagegen die Wahrnehmung seiner geringen Leistungsfähigkeit entgegentritt oder oft vorgehalten wird, da stellt sich Unlust und allgemeine Depression ein. Ebenso verdüstert sich sein Gemüt, wenn ihm auf Schritt und Tritt die Abhängigkeit von den sehenden Mitmenschen zum Bewußtsein kommt, während sich sein Mut und seine Hoffnung neu beleben, wenn er sich selbst zu helfen imstande ist und wenn er die Erfahrung macht, daß er den Platz, auf den er gestellt ist, ausfüllt.
Ästhetische Gefühle gründen sich bei dem Blinden fast ausschließlich auf Gehörseindrücke. Poesie und Musik sind für ihn recht eigentlich die Gebiete ästhetischen Genießens. Religiösen Eindrücken ist er leicht zugänglich, doch führt das religiöse Gefühlsleben nicht selten zu Überschwang und Schwärmerei.
Daß Blinde auch von Leidenschaften bewegt werden und in Affekt geraten können, ist eine Tatsache, die jedem bekannt ist, der längere Zeit Umgang mit ihnen gehabt hat. Die in Laienkreisen verbreitete Ansicht, daß das Gemüt des Blinden allezeit einem klaren, ruhigen See gleiche, entspricht nicht der Wirklichkeit.
Die Gefühle, von denen der Blinde bewegt wird, prägen sich in Mienen und Gebärden nicht so lebhaft aus wie bei dem Sehenden, weil das Auge nicht mitwirkt und weil der Blinde das Mienenspiel anderer Personen, das zur Nachahmung Veranlassung gibt, nicht beobachten kann.
Die Abweichungen in der Geistesentwickelung des blinden von der des sehenden Kindes bezeichnen auch die Angriffspunkte für eine rationelle Blindenpädagogik. Nur dann, wenn Erziehung und Unterricht an die Eigentümlichkeiten in der geistigen Entwickelung des Blinden anknüpfen, kann es gelingen, ihn aus seiner Isolierung herauszuheben und die Kluft zu überbrücken, die zwischen ihm und den sehenden Menschen besteht. Es ist geboten, dies mit Entschiedenheit zu betonen, um einer oberflächlichen Auffassung des Blindenunterrichts zu begegnen. Es wird nämlich nicht selten folgende Ansicht geäußert: Das verfeinerte Tastgefühl ersetzt dem Blinden das Gesicht; er hat das Auge gewissermaßen in den Fingerspitzen. Es wird im Blindenunterricht also nur darauf ankommen, möglichst alles das, was der Sehende mit dem Auge wahrnimmt, tastbar zu machen; das sei die wesentlichste Abweichung zwischen dem Unterricht sehender und blinder Kinder. Im übrigen könne sich der Unterricht in Stoffauswahl und methodischer Gestaltung durchaus an den für Vollsinnige berechneten anschließen. In neuerer Zeit sind es vielfach auch die Blinden selbst, die diese Ansicht vertreten, und in Verkennung der ihnen gesteckten Grenzen glauben, den Sehenden nur dann als gleichberechtigt an die Seite treten zu können, wenn sie ihre Bildung auf möglichst ähnlichem Wege erwerben wie diese.
Demgegenüber muß betont werden: durch die Beschränkung der sinnlichen Auffassung sind der Erkenntnis des Blinden Grenzen gezogen, die auch der beste Unterricht nicht ganz wegräumen kann. „Diese Grenzen, welche die Blindheit zieht, sollen dem Blinden bewußt werden; sie müssen im Unterricht respektiert und herausgestellt, nicht aber durch überredende Mitteilungen verwischt werden. Was der Blinde nicht durch eine auf unmittelbare Wahrnehmung basierte Erkenntnis erwerben kann, darf er nicht als einen Besitz betrachten und verwenden.“
Im einzelnen dürften sich aus den bisherigen Darlegungen die nachstehenden Erziehungs- und Unterrichtsgrundsätze ergeben.
Da der Tastsinn in der Wahrnehmung realer Objekte beschränkt ist, ist es Pflicht des Blindenunterrichts, diejenigen Dinge, die eine Auffassung durch das Tastvermögen zulassen, dem Blinden auch tatsächlich zugänglich zu machen. Dieser Satz muß freilich sogleich eingeschränkt werden. Nicht darauf kommt es an, dem Blinden eine bunte Fülle von Objekten zu bieten. Darin irrte eine frühere Zeit, daß sie glaubte, mit der Zahl der tastbaren Objekte erweitere sich auch gleicherweise die Bildung des Blinden. Die Forderung der ersten Blindenlehrer: Führt dem blinden Schüler alle Dinge vor, die veranschaulicht werden können, alle, die ihm erreichbar sind, alle, die ihm früher oder später einmal begegnen können, je mehr, desto besser! ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Heute wissen wir, daß man in der Zahl der Objekte, die man dem Schüler darbietet, Maß halten muß, weil sonst, wie aus dem Kapitel über das Tasten ersichtlich ist, die Gefahr der Flüchtigkeit der Anschauung entsteht. Nicht dies ist der Weg zur gründlichen Bildung des Blinden, ihn in ein Museum der verschiedensten tastbaren Objekte zu stellen, sondern seinen Geist an solchen Gegenständen zu schulen, die in dem Weltbilde, das er zu erlangen imstande ist, charakteristisch und unentbehrlich sind. Die Hauptfrage des Blindenlehrers darf nicht die sein: Was läßt sich aus diesem oder jenem Gebiet alles vorführen und veranschaulichen? sondern sie muß lauten: Welche Gegenstände wähle ich aus, damit der blinde Schüler eine Grundlage für die Erfassung der Welt gewinnt? Geht ihm Wesentliches verloren, entsteht eine Lücke in seinem Weltbilde, wenn dieses oder jenes Objekt, diese oder jene Tatsache übergangen wird?
Es wird sich also im gesamten Blindenunterricht, soweit er realer Natur ist, um die Auswahl und Betrachtung typischer Objekte handeln. Und diese werden, um das vorweg zu sagen, vorzugsweise der Natur und den einfachen Kulturverhältnissen zu entnehmen sein. Wenn also vorhin die Forderung ausgesprochen wurde: die Dinge, die eine Auffassung durch den Tastsinn zulassen, sollen dem blinden Schüler auch tatsächlich zugänglich gemacht werden, so muß dazu ergänzend bemerkt werden: soweit sie notwendig und imstande sind, eine Grundlage für die Erfassung der realen Welt im Geiste des Schülers zu vermitteln.
Da zu große und zu kleine Objekte durch den Tastsinn nicht sicher aufgefaßt werden, ist es notwendig, sie durch Verkleinerung bzw. Vergrößerung dem Tastfeld anzupassen. Die Beschaffung solcher Anschauungsmodelle haben die Blindenanstalten von jeher als eine wichtige Aufgabe angesehen. Über ihre zweckmäßigste Größe und Beschaffenheit entscheiden die Gesetze des Tastens.
Der Mangel des Tastsinnes hinsichtlich der Ferne läßt sich durch den Unterricht nicht beseitigen. Doch ist es hie und da möglich, das vom Auge umfaßte Raumgebiet in verkleinerter und verkürzter Art dem Tastsinn zugänglich zu machen. So läßt sich eine Landschaft mit ihren Bergen, Tälern, Gewässern und Gehöften stark verkleinert als Sand- oder Tonrelief darstellen, wenn natürlich auch ohne weiteres zuzugeben ist, daß eine solche Nachbildung einen sehr dürftigen Ersatz der Wirklichkeit bildet. Immerhin wird der Unterricht von diesem Mittel, die Ferne dem tastenden Finger nahe zu bringen, öfters Gebrauch machen, besonders in der Heimatkunde, wo eine übersichtliche Vorstellung des Landschaftsbildes die notwendige Grundlage für den späteren geographischen Unterricht bildet.
Akustische Fernerscheinungen müssen im Unterricht, soweit dies möglich ist, erklärt werden. Dies kann in vielen Fällen dadurch geschehen, daß der Schallerreger vorgeführt, in anderen Fällen dadurch, daß durch nachahmende Versuche eine ähnliche Schallwirkung hervorgerufen wird (z. B. Gesang eines Vogels: Vorführung des präparierten Tieres; Rauschen des Waldes: Erzeugung eines ähnlichen Schalles durch Schwenken eines Zweiges).
Übrigens darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch der Geruchssinn dem Blinden in gewissem Sinne die Ferne erschließt. Der Duft von Blumen, Wäldern und Wiesen, der kräftige Salzgeruch der See läßt ihn ihr Vorhandensein schon in beträchtlicher Entfernung erkennen. Auch die Fähigkeit, Personen in einem gewissen Abstande wahrzunehmen, beruht teilweise auf Geruchseindrücken. Wie der Geruch, so spielen auch der Temperatursinn und die Gemeinempfindung in der Beurteilung der Ferne eine Rolle. Es wird auf den „Fernsinn“ in einem späteren Kapitel eingegangen werden. Hier soll nur soviel gesagt sein, daß Erziehung und Unterricht die Ausbildung und Übung der fernwirkenden sensoriellen Hilfsmittel sich angelegen lassen sein muß.
Die gliedernde und ordnende Tätigkeit des Auges bei der Gewinnung von Sammelbegriffen läßt sich in bescheidenem Maße auf den Tastsinn in der Weise übertragen, daß man dem Schüler verkleinerte Nachbildungen natürlicher Gruppen vorführt und ihn anhält, solche Gruppen auch selbst darzustellen. So kann in einem mit Sand gefüllten Kasten aus kleinen Blechhäuschen ein Dorf aufgebaut werden; Steinchen, die man in den Sand drückt, bilden das Straßenpflaster, kleine buschige Zweige stellen Bäume dar. Auch die von den Schülern aus Ton, Wachs oder Plastilin geformten Einzelgegenstände können oft zweckmäßig zu Gruppen zusammengestellt werden.
Den Ausgangspunkt der Betrachtung einer Gruppe bilden in der Regel die dem Schüler zugänglichen Einzeldinge; dann folgt die verkleinerte Nachbildung, die infolge ihrer geringen Ausdehnung in das Tastfeld des Kindes hineinpaßt und somit die Gruppenauffassung ermöglicht. Man kann aber auch den umgekehrten Weg einschlagen: man geht von der verkleinerten Darstellung aus und bereitet durch diese das Verständnis für die auf einem größeren Raum verteilte natürliche Gruppe vor. Jedenfalls gehören Wirklichkeit und Nachbildung zusammen. Nur wo sich dem Kennenlernen einer natürlichen Gruppe bedeutende Schwierigkeiten entgegenstellen, darf man sich mit der bloßen Nachbildung begnügen.
Die ordnende und gliedernde Tätigkeit des Auges erstreckt sich aber nicht bloß auf Gruppengebiete, sondern auch auf zusammengesetzte Einzeldinge. Die minder wichtigen Teile werden den wesentlichen untergeordnet; das Auge abstrahiert von dem den Gegenständen anhaftenden Beiwerk, das oft nur der Verzierung dient, und sucht den Kern, das Wesen des Dinges zu erfassen. Der tastenden Hand wird diese Unterscheidung schwerer. Darum müssen die Anschauungsobjekte für Blinde möglichst einfach und frei von schmückendem und sonstwie störendem Beiwerk sein. Aus diesem Grunde sind die für Sehende berechneten Lehrmittel, selbst wenn sie deutlich tastbar sind, für die Blindenschule vielfach nicht brauchbar. Sie müssen entweder vereinfacht oder in anderer Weise so umgestaltet werden, daß die tastende Hand das Wesentliche an dem Dinge leicht erkennt.
Die mit der Blindheit gegebene Unmöglichkeit, Tätigkeiten genau und lückenlos zu verfolgen und die damit zusammenhängende Schwierigkeit, die Entstehung eines Dinges zu beobachten, stellt einen so bedeutenden Nachteil für die gesamte Bildung des Blinden dar, daß Erziehung und Unterricht alles aufbieten müssen, um dieses Manko zu beseitigen. Es kann hierfür in der Hauptsache nur ein Mittel in Betracht kommen: man muß den Schüler anleiten, daß er die Arbeitsvorgänge, die er nicht selbst beobachten kann, möglichst durch eigene Betätigung selbst erlebt. Es wäre also, um ein Beispiel anzuführen, nutzlos, wenn man dem blinden Schüler mit Worten beschreiben wollte, wie ein Baum gepflanzt wird; es genügt auch nicht, daß er bei der Pflanzarbeit, die ein Sehender ausführt, zugegen ist und die dürftigen Gehörseindrücke aufnimmt, die durch die Tätigkeit des Pflanzens erzeugt werden. Er muß vielmehr, wenn auch nur in typischer Art, selber das Pflanzloch graben, das Bäumchen hineinstellen, die Wurzeln mit Erde bedecken und den Stamm an einen Pfahl binden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, um ihm die Tätigkeit des Pflanzens zum Verständnis zu bringen. Namentlich die grundlegenden Vorgänge im Natur- und Kulturleben, wie sie der sog. Anschauungsunterricht dem Blinden vermitteln will, lassen sich fast durchweg nur durch Schaffen an den Dingen und im Umgange mit ihnen zum Verständnis bringen. Darum wird man den Sachunterricht, zumal den auf den unteren und mittleren Stufen, möglichst unter den Gesichtspunkt des Handelns stellen und die Erkenntnis und die denkende Erfassung der Welt auf die untersuchende, forschende, nachahmende, darstellende Tätigkeit des Schülers gründen. Die Art dieser Tätigkeit kann sein: 1. Wirkliche praktische Arbeit (z. B. Füllen der Gießkanne, Sprengen des Blumenbeetes, Abwägen einer Ware, Fällen eines Baumes, Graben einer Grube, Decken des Tisches usw.). 2. Nachahmende Versuche (z. B. Darstellung eines Hauses, einer Brücke usw. aus Bausteinen, einer Fahne aus einem Stabe und einem Stückchen Zeug, eines Wegweisers aus zwei Holzstäbchen. Vorgang des Fischens durch nachahmende Bewegung der gespreizten Finger im Wasser. Waschen und Trocknen der Wäsche durch entsprechende Behandlung eines Läppchens usw.). Hierher gehört auch die so wichtige nachschaffende Darstellung in Ton oder Wachs (Formen oder Modellieren). 3. Spielende, freie Beschäftigung. Diese freie, nicht durch das Wort des Lehrers in bestimmte Bahnen geleitete Tätigkeit des blinden Kindes ist von besonderer Bedeutung für seine Geistesentwickelung. Sie kommt der ungezwungenen Art, wie das sehende Kind Erfahrungen gewinnt, am nächsten. Die Blindenanstalt hat darum Einrichtungen zu treffen, die dem Kinde eine solche freie, spielende Betätigung ermöglichen. Ein größerer Garten, der nicht bloß nach gärtnerischen, sondern auch nach pädagogischen Gesichtspunkten angelegt ist, wird in besonderem Maße das blinde Kind zu spielenden Untersuchungen und mannigfaltiger freier Betätigung anregen.
Die Erziehung des Kindes zur tätigen Erfassung der Wirklichkeit steigert auch die Tastfähigkeit der Hand. Die Handmuskeln kräftigen sich, erlangen Sicherheit in der Kraftabmessung und werden fähig, der Hand und den Fingern die Stellung zu geben, welche der jeweiligen Tätigkeit angemessen ist. Mit der Steigerung der Tastfähigkeit erhöht sich wieder die Möglichkeit der Geistesbildung. Wie wichtig ist also die Tätigkeit für den Blinden!
Es wurde oben dargelegt, daß die Gehörswahrnehmungen das Geistesleben des Blinden außerordentlich beeinflussen, ja daß sie im vorschulpflichtigen Alter oft ausschließlich wirksam sind. Auch auf die Gefahr wurde hingewiesen, die entsteht, wenn die Gehörswahrnehmungen die Vorherrschaft erlangen und richtunggebend auf die Geistesbildung des Blinden einwirken: der Bildung wird der reale Boden entzogen, und phantastische Spekulation tritt an die Stelle folgerichtigen Denkens. Dieser für den Blinden verhängnisvollen Entwickelung kann nur dadurch begegnet werden, daß man den gesamten Sachunterricht auf die Wahrnehmungen des Tastsinnes gründet, als desjenigen Sinnes, der die räumliche Erkenntnis des Blinden ausschließlich vermittelt. Es soll mit dieser Forderung aber durchaus nicht die Bedeutung der Gehörswahrnehmungen für den Blinden herabgesetzt werden; sie sind tatsächlich für ihn überaus wichtig, und es wäre falsch und zudem ein vergebliches Bemühen, sie ausschalten und unterdrücken zu wollen. Es kann sich nur darum handeln, ihnen die gebührende Stellung zu geben. Diese gewinnen sie in Verbindung mit dem Tasten. Tasten[5] und Hören sollen so oft als möglich aufeinander bezogen, miteinander vereinigt werden, besonders auf der Elementarstufe.
Durch diese Verbindung soll das sinnliche Hören zu einem denkenden werden, soll der Blinde lernen, aus Klängen und Geräuschen richtige Schlüsse auf den Schallerreger ziehen. In der Art, wie der Blindenlehrer die mannigfaltigsten Verbindungen zwischen Tast- und Höreindrücken zu schaffen weiß, wird sich sein pädagogisches Geschick zeigen. Jedenfalls gebührt dem „Tasthören“ in der Blindenschule eine hervorragende Stelle. In der Elementarklasse tritt es als selbständige Übung auf, in den höheren Klassen wird es bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Anspruch genommen.
Ist der Blindenlehrer von der Überzeugung durchdrungen, daß Gehörsvorstellungen ohne realen Inhalt wesenloser Schein sind, so wird er auch die Sprache als Unterrichtsmittel richtig einschätzen. Eine dem Zustande der Blindheit entsprechende Sprache zu bilden, ist der Unterricht nicht imstande. Um so sorgfältiger wird darüber zu wachen sein, daß bloße sprachliche Mitteilungen nie die grundlegende selbständige Anschauung und Erfahrung verdrängen dürfen. Rein sprachliche Leistungen des Schülers können darum auch nicht als Beweis für die geistige Erfassung und Durchdringung eines realen Stoffes angesehen werden; nur in Verbindung mit der darstellenden Tätigkeit geben sie Aufschluß über den geistigen Besitz des Kindes.
Daraus ergibt sich weiter, daß der Unterricht bemüht sein muß, nur solche Worte und Redewendungen zu brauchen, deren Inhalt dem Schüler auf Grund der eigenen Anschauung verständlich werden kann. Namentlich auf der Elementarstufe muß dieser Grundsatz strenge durchgeführt werden. Er ist auch für die Einrichtung der Fibel und der ersten Lesebücher ausschlaggebend. Diese Elementarbücher können darum nicht einfach von der Volksschule auf die Blindenschule übernommen werden; sie müssen aus dem Erfahrungsgebiet des Blinden hervorgehen. Da das blinde Kind seine Anschauungen und Erfahrungen in erster Linie in seiner nächsten Umgebung sammelt und diese in den einzelnen Blindenanstalten verschieden ist, so wäre es das Ideal, wenn jede Anstalt ihre eigenen, den speziellen Verhältnissen entsprechenden Elementarbücher besäße.
Endlich ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen Hören und Tasten für den Blindenlehrer die Mahnung, auch auf den oberen Stufen die Unterrichtssprache so anschaulich und konkret als möglich zu gestalten. Bilder und Redewendungen, die der Welt des Sehens entnommen sind, können und dürfen auf die Dauer nicht umgangen werden; aber sie sollen sorgfältig erläutert und, soweit dies angängig ist, zu dem Tastsinn in Beziehung gesetzt werden.
Über die Willensbildung des blinden Kindes sollen hier nur einige Andeutungen gemacht werden.
Erziehung und Unterricht werden es als eine Hauptaufgabe ansehen müssen, die dem Blinden häufig innewohnende Passivität, Schlaffheit und Energielosigkeit zu bekämpfen. Dies geschieht in erster Linie durch Gewöhnung zur Arbeit. Die weitgehende Bedienung des blinden Kindes durch Eltern und Geschwister ist ein schwerer Fehler, der sicher zur Willensschwäche führt. Wird dagegen das blinde Kind früh angehalten, sich selbst anzukleiden, seine Sachen in Ordnung zu halten, ohne fremde Hilfe zu essen und bestimmte kleine häusliche Arbeiten zu verrichten, so ist damit schon eine wertvolle Grundlage für die Willensbildung geschaffen.
Die natürliche Zaghaftigkeit des Blinden, die ihm die Meinung einprägt, er könne nichts Rechtes zustande bringen, wird durch freundliche Anerkennung auch schwacher Leistungen zu besiegen sein. Nur nicht unbedacht schelten, wenn dem blinden Kinde etwas nicht gelingt! Namentlich auf dem Gebiet des Darstellens und Schaffens mit der Hand wird der Lehrer oft mit den bescheidensten Anläufen zufrieden sein müssen. Hat sich erst das Selbstvertrauen des Blinden gehoben, so ist viel gewonnen. Immer wird man dies als Ziel im Auge behalten müssen: Den Blinden auf sich selbst zu stellen, ihm zum Bewußtsein kommen zu lassen, daß er meist ohne fremde Hilfe fertig werden kann, seine Arbeitskraft zu stärken, die Arbeitsfreudigkeit, die Hemmungen und Störungen überwindet, zu heben und ihn anzuregen, seine Ehre darin zu suchen, durch Fleiß und Ausdauer, durch tüchtige, solide Arbeit sich seinen Platz in der Welt zu erobern. Die mancherlei unerfreulichen Erscheinungen, die hie und da unter den im Leben stehenden Blinden sich bemerkbar machen, wurzeln zum großen Teil in mangelndem Arbeitsmut und in der wenig ehrenvollen Meinung, daß ein Blinder sich nicht anzustrengen brauche und von vornherein Anspruch auf mitleidsvolle Hilfe habe. Es ist das ein Standpunkt, der leider von den Angehörigen der Blinden häufig geteilt wird.
Die nach der entgegengesetzten Seite zuweilen hervortretenden unliebsamen Erscheinungen: Selbstüberschätzung und Eitelkeit, haben nicht selten darin ihren Grund, daß die Leistungen des Blinden über Gebühr angestaunt und bewundert werden. Besucher der Blindenanstalt beobachten in dieser Hinsicht vielfach nicht die nötige Zurückhaltung und bestärken den Blinden dadurch in der hohen Meinung von sich und seinem Können. Kühles Abwägen der Leistungen und taktvolles Hinweisen auf höhere Ziele werden bei zu hoher Selbsteinschätzung am Platze sein.
Was die Beeinflussung des Gefühlslebens durch Erziehung und Unterricht betrifft, so wird es in erster Linie darauf ankommen, die niederen Gefühle, namentlich die mit dem Nahrungstriebe zusammenhängenden, zurückzudrängen. Leider arbeitet hier die häusliche Erziehung der Anstaltserziehung häufig entgegen. Die unverständige Liebe der Eltern und Verwandten meint: das blinde Kind muß so viel entbehren; dafür soll es wenigstens durch gutes Essen und Trinken entschädigt werden. „Gutes Essen“ bedeutet bei ihnen aber gewöhnlich Kuchen, Süßigkeiten und andere Leckereien. Da ist es nicht zu verwundern, daß die Blinden im vorgeschrittenen Alter vielfach keinen höheren Genuß kennen, als Befriedigung des Gaumens. Eine verständige Erziehung wird dahin streben, daß der Blinde Zunge und Gaumen in Zucht nimmt und Genüsse geistiger Art kennen und erstreben lernt. So wird dafür zu sorgen sein, daß freie Stunden und Tage durch gesellige Spiele, musikalische Betätigung, Vorlesen und eigene Lektüre, Brett- und Ballspiele, Spaziergänge usw. ausgefüllt werden. In erster Linie aber werden die Lustgefühle zu steigern sein, die mit dem Gelingen einer Arbeit verbunden sind. Es muß immer wieder daran erinnert werden, daß die Arbeit dem Blinden die reichste Quelle der Freude werden kann und soll. Auch von diesem Gesichtspunkt aus darf daher der Unterricht nicht, wie vorhin gesagt, bloße Mitteilungen, die ohne innere Anteilnahme aufgenommen werden, bieten, sondern er muß den Schüler vor Aufgaben stellen, deren Bewältigung das freudige Gefühl des Gelingens hervorruft.
Anregung des religiösen Gefühls durch Hausandacht, Religionsunterricht und Besuch des öffentlichen Gottesdienstes hat man von jeher als notwendige und wichtige Aufgabe der Blindenerziehung angesehen. Rührselige Empfindungen dagegen, zu deren Äußerung manche weichgestimmten Menschen dem Blinden gegenüber sich veranlaßt fühlen, wird man von ihm fernzuhalten suchen. Nicht zu wehmütiger Resignation, sondern zu mutigem Gottvertrauen soll der Blinde erzogen werden.
Dem ästhetischen Genießen, wie Musik und Poesie es dem Blinden in erster Linie darbieten, wird man einen weiten Raum zuerkennen müssen. Doch ist zu betonen, daß es sich auch hier nicht um müßiges Hinnehmen handeln darf; der Genuß soll nicht bloß in sinnlicher und phantastischer Erregung bestehen: durch geistiges und seelisches Verarbeiten des Gebotenen soll eine wirkliche Bereicherung des Gemüts erfolgen. Daraus ergibt sich die Forderung, dem Blinden nur wertvolle Musik und Poesie darzubieten und nur solche, die er geistig zu erfassen und zu durchdringen imstande ist. Im Gesangunterricht werden es in erster Linie unsere schönen Volkslieder und volkstümlichen Gesänge sein, von denen ein Gewinn für das Gemüt des Schülers zu erwarten ist.
Für eine ästhetische Betrachtung plastischer Kunstwerke reicht der Tastsinn im allgemeinen nicht aus, obgleich Ausnahmen vorkommen (Helen Keller, blinde Bildschnitzer und Former). Wohl aber bringt die Erkenntnis des regelmäßigen Aufbaues von körperlichen Darstellungen und die Zurückführung ihrer Teile auf geometrische Verhältnisse dem Blinden Freude und geistigen Gewinn. Der Unterricht wird dieser Tatsache in der Geometrie, im Formen und Zeichnen und gelegentlich auch in andern Fächern Rechnung tragen.
Krause, Geistige Eigentümlichkeiten des blinden Kindes. Bldfrd. 1883 S. 52.
Heller, Die Blindenbildung in ihrer Beziehung zum Leben. Kongr.-Ber. Frankfurt a. M. 1882.
Die Vorstellungen der Blinden und die Anschauung im Blindenunterricht. Bldfrd. 1901 S. 177.