Читать книгу Immer den Fluss entlang - Fritz Leverenz - Страница 10
8 Die Frau am Fenster
ОглавлениеMitunter fügen sich unsere Gedanken den Erinnerungen an Menschen, die uns viel bedeuteten und denen wir unaussprechlich viel schuldig geblieben sind. Und die Sehnsucht nach ihnen wird so stark und fordernd, dass sich selbst die Wirklichkeit vor ihr beugen muss. -
Sie sah aus dem Fenster auf die Straße, auf den Gehweg. Sah eine alte Frau kommen. Langsam, unsicher, gut zu Fuß, aber unsicher, als wüsste sie nicht, ob sie sich an dem Ort befand, zu dem sie wollte. Als fiele es ihr schwer sich zu erinnern, ob sie überhaupt wohin wollte.
An den Vorgärten jäteten zwei junge Frauen in der trockenen Erde. Es staubte. Die alte Frau blieb stehen, sprach leise etwas, lächelte, sah zu den Frauen hin, die sie nicht bemerkten. Sie bückte sich zu den Staubschwaden, fächelte sich den Staub mit der Hand zu, atmete tief ein und lächelte. Vielleicht erinnerte sie der Geruch der Erde an den Frühling vieler Jahre, an das Singen der Meisen, an die ersten Veilchen am Bach auf dem Lande, an den Garten ihrer Kindheit. Vielleicht auch war sie verwirrt und dachte an nichts, was aber sehr unwahrscheinlich ist, denn die Erinnerung an die Kindheit vergeht nicht.
In kleinen Schritten ging sie weiter, und ihr Lächeln verflog im leichten Wind. Sie ging, als tastete sie sich durch die Erinnerungen voran; als wüsste sie bei keinem Schritt, wohin sie der nächste trüge.
Die Frau am Fenster war in Eile, musste zum Unterricht in die Schule. Doch sie konnte die alte Frau nicht aus den Augen lassen. Sie schien ihr so vertraut: ihr leichtfüßiger, doch innehaltender unsicherer Gang, die zögerliche Kopfbewegung, mit der sie sich umschaute; der hellgraue Hut, den sie trug, der lange graue Sommermantel, dazu das schwarze Täschchen, das sie an einem Bändchen in der Hand hielt, wie ein Kind, das ‚Mama geht spazieren‘ spielt. Die alte Frau erinnerte sie – jetzt fiel es ihr wie ein freudiger Schreck ein, wie eine leise Hoffnung - an ihre kürzlich verstorbene Mutter. Sie blickte ihr wehmütig nach.
Da blieb die alte Frau vor dem Hauseingang stehen, drehte sich ein wenig ratlos um, nestelte an dem Lederband ihres Täschchens, stieg behutsam die Stufen zur Haustür hoch und verschwand unter dem Vordach bei den Briefkästen.
Die Frau am Fenster hielt den Atem an. Wenn Mutter nun NICHT gestorben ist, dachte sie. Zwar waren wir alle zugegen, als sie aus ihrer Wohnung getragen worden war. Doch weiter haben wir nichts gesehen, nichts verfolgen können. Wenn sie nun nicht gestorben war, sondern … Und nun, nach drei Jahren kehrt sie hierher zurück, versucht sich zu erinnern, ist sich unsicher. Nur – die Hausnummer kennt sie noch. Und die Namen?
Sie zog sich vom Fenster zurück, bemühte sich, ihre Gedanken wieder auf den Tag zu richten, auf den Enkel, der sie am Nachmittag besuchen wollte, auf ihre Tochter, die quer durch die Stadt gefahren war – mit dem alten Wagen – um sich für ein Studium anzumelden. Doch das Bild der unsicheren alten Frau verließ sie nicht. Wer konnte sie mit absoluter Sicherheit vom Gegenteil überzeugen, ihr sagen, dass sie ihrer Fantasie erlegen war, die sie auf mystische Traumwege geleitet hatte?
Wenn es nun Mutter war, die unten an der Haustür stand und nicht eingelassen wurde, nicht einmal ahnte, an wen sie sich wenden konnte.
Rasch zog sie ihre Jacke über, nahm die Wohnungsschlüssel, zog die Tür hinter sich zu und eilte die Treppe hinunter. Ihr Herz schlug rascher. Sie fühlte, wie ihr heiß wurde, wie damals als Kind, als sie versuchte, gleich mehrere Stufen auf einmal zu überspringen. Doch in Mutters Haus war die Treppe breiter, die Stufen aus Holz, nicht aus Beton, das Geländer niedriger, gewunden und aus Holz.
Unten sah sie niemanden. Die Haustür stand spaltbreit offen, und ein kühler Wind wehte ins Haus.