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7 Die Fahrt nach Jedlovà

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Er arbeitete als Redakteur bei einer Lokalzeitung und war dabei, Kurzgeschichten zu schreiben, und sich zu vergewissern, welche Art von Schreiben zu ihm passte. Ihn hatte das Notieren von Tagesbeobachtungen aller Art erfasst. Mit dem Schreiben war in ihm eine Neugier erwacht, von der er zuvor keine bewusste Vorstellung besaß. Indem er sich nun sein Erleben notierte, machte er sich diese Neugier bewusst – und zugleich die Unzulänglichkeit seines schriftlichen Ausdrucks. Überall, wohin er kam, übte er sich in Notizen von dem Ort seiner Anwesenheit, von dem, was er zu sehen bekam und von den Eindrücken auf sich.

Seiner Frau, die als Floristin arbeitete, erschien diese Beschäftigung recht aufwendig und vom Alltag wegführend. Doch ließ sie ihn gewähren. Nur, hin und wieder, wenn sie nicht zu Worte kam, gerieten sie darüber aneinander. Nicht in Streit, denn worüber sollte er mit ihr streiten? Dass er schreiben musste, um seiner selbst sicher zu sein, was eine lange Geschichte über seine Kindheit nach sich gezogen hätte? Darüber ließ sich nicht streiten. Sie glaubte wahrzunehmen, er würde, in dem er schrieb, sich innerlich von ihr entfernen, weniger Anteil nehmen an ihrem Leben. Dabei musste sie doch erkennen, dass er schon immer an allem Anteil nahm, besonders an ihr, vom ersten Moment an, seit er sie kennengelernt hatte. In Wahrheit vermochte er gar nicht gut zu schreiben, ohne in ihrer Nähe zu sein. Nahm sie nicht wahr, dass er sich nur wohlfühlte, solange er sie glücklich sah, wenn er sie zum Beispiel abends singen hörte beim Fernsehen, während er am Schreibtisch saß? Da er in Gedanken vorbereitete, was er zu notieren beabsichtigte, mochte es sein, dass er häufig ihre Freude, ihre poetischen Stimmungen überhörte, und sie das Gefühl hatte, zu zweit allein zu bleiben und an ihren nicht gesagten Worten zu ersticken. Etwas hatte sich geändert zwischen ihnen, seit damals, als sie sich kennenlernten. Und so kam es, dass sie häufig gerade dann aneinander gerieten, wenn sie gemeinsam glückliche Momente erlebten. -

Wie in vielen Sommern fuhren sie auch in diesem Jahr zu Freunden nach Nordböhmen und waren täglich zu Fuß oder mit dem Bus unterwegs. Heute wollten sie mit der Kleinbahn nach Jedlovà fahren.

Mittags um halb zwölf saßen sie in der warmen Septembersonne vor dem türkisblauen Wartehäuschen mit Holzbänken und Fahrplänen Richtung Rumburk, Decin und Ceska Lipa und warteten auf den Zug nach Jedlovà. Die Frau öffnete ihren kleinen Rucksack, kontrollierte den Proviant für sie beide und nahm ihren Fotoapparat heraus. Sie waren aufgebrochen ohne ein bestimmtes Ziel, wollten einfach in der Natur unterwegs sein. Und sie freute sich auf die Wanderung hinauf zum Mittelberg. „Ich freue mich auf die schöne Aussicht und auf die Fotomotive von da oben“, sagte sie.

Der Mann nickte und schwieg. Er versuchte, ganz und gar die Stille, die Wärme, die Sonne, dieses Gefühl von Ankunft und Abreise aufzunehmen, das er aus der Kindheit kannte. Und er vertiefte sich in die Ansicht des winzigen Stationshäuschens. Er mochte jetzt nicht reden, und er wusste, dass die Frau reden wollte. Sie hatten sich schon oft deswegen überworfen. Und er versuchte jetzt, sein Gefühl an diesem schönen Tag festzuhalten. Ihm schien, als müsste er in solchen Momenten alles Schwache, Zärtliche, Gefühlvolle schützen vor der Gewalt des Tages, vor der Oberflächlichkeit und der bloßen Macht des Geldes.

Am Anfang des einfachen Bahnsteigs aus Betonplatten stand das kaum drei Schritt breite Stationshäuschen aus Stein und Balken, zu dem ein schmaler Sandweg hinaufführte. Einige Schritte davon entfernt vor Holunder- und Erlengebüsch, stand ein Holzhäuschen mit ausgesägtem Herz in der Tür. Eben kam die Stationsvorsteherin aus dem Häuschen. Rundlich drall, schien vom Kopf bis zu den Füßen aus Rundungen zu bestehen. Sie zupfte an ihrem blauen Pulli, ordnete ihre dunkelblaue Diensthose, stieg behäbig, er hatte den Eindruck, sie rollte, die Holzstufen hoch in ihr Diensthäuschen, das einer engen Veranda mit spitzem Dach glich, setzte sich auf einen Hocker in der offenen Tür nahm Stullen aus einer Brotschachtel und aß. Anschließend setzte sie sich kauend an den Diensttisch vor dem Verandafenster und schaute gedankenverloren auf die Gleise. Stille. Brütende Wärme. Um zwölf Uhr sollte der Zug nach Jedlovà fahren. Nur von der Straße her Richtung Decin und Novy Bor war von Zeit zu Zeit Motorenlärm eines Busses, eines Motorrades, eines Personenwagens zu hören. - Zwölf Uhr mittags. High Noon. Die Spannung stieg. Eine Frau mit schweren Einkaufstaschen betrat den Bahnsteig. Ein Wanderer mit Rucksack kam, nahm beschwingt die Stufen zur Stationsvorsteherin. Sie gab ihm Auskunft am vergilbten Fahrplan mit den verblichenen handgeschriebenen Zahlen und Zeichen vor sich an der Wand unter dem Fenster. Das Telefon schrillte. Sie nahm den Hörer, sprach, legte auf. Wieder schrillte das Telefon. Sie erhob sich, noch kauend, stellte erst den einen, dann den anderen Weichenhebel. Musste kräftig ziehen. In der Nähe, hinter den Büschen, wo sich die Straße vorüber wand, ertönte leises Läuten, wie von fernen Kirchenglocken. Die Schranke. Die Stationschefin geriet in Eile. Ihre Rundungen begannen zu rollen. Denn nun würden sich gleich die Höhepunkte dieses Tages ereignen: die zweite von vier Ankünften und vier Abfahrten – abgesehen von den zweimal wöchentlich auf das Schleppgleis zu rangierenden Waggons der Papierfa­brik. Sie griff die dunkelblaue Dienstjacke mit Abzeichen und bunten Schulterstücken von der Stuhllehne, zog sie über, knöpfte sie flüchtig zu. Der Zug bog in Schritttempo um die Kurve – zwei Wagen mit kleiner Diesellok. Die Stationsvorsteherin setzte ihre dunkelblaue Dienstmütze auf, nun, ganz und gar in Dunkelblau gekleidet, kam sie eilfertig die Stufen herunter, lief, ihre Dienstfertigkeit steigernd, in leichtem Laufschritt, mit der linken Hand die Mütze haltend, mit der rechten die Signalkelle, dem Zug entgegen. Es sind die Minuten, in denen man zeigen kann, wie dienstlich bewegt und unersetzlich man den Tag verbringt. Aus dem ersten Abteil des Triebwagens lehnte eine Frau in gleicher Uniform und hielt am gestreckten Arm eine zusammengerollte Zeitung heraus. Ihre Kollegin grüßte winkend, griff die Zeitung. Der Mann, die Frau und zwei, drei weitere Passagiere stiegen ein. Die Stationsvorsteherin hob ihre Kelle, und der Zug setzte sich in Bewegung.

In Jedlovà angekommen, wanderten sie und gelangten an einen Hang bewachsen mit trockenem grauem weißspitzigem Gras und wie bepuderten weißen Nadelbäumen, als liege jetzt im Spätsommer feiner Schnee oder Reif darauf. Offenbar Staubrückstände von den Glashütten in der Umgebung. Der Ort selbst bestand lediglich aus einer Bahnstation, bewaldeten Höhen ringsumher, sowie einem mit Koppelzaun umfriedetem Grundstück unweit der Station, worauf ein Blockhaus mit mehreren Nebengebäuden stand. Wie unschwer zu erkennen, ein ehemaliges Kinderferienlager. Neben dem Haus stand ein unvollendeter Totempfahl mit blassen Farben und ein Fahnenmast, an dem ein Draht im Wind gegen den Mast schlug. Es klang wie fernes Holzschlagen. Ein weiter Ausblick in Täler und auf ein böhmisches Dorf. Aufsteigende Rauchfahnen und ferne Geräusche ganz nah: Radiomusik, Hähne krähen.

Den ganzen Weg über möchte er mit ihr darüber reden, ihr zum hundertsten Mal erklären, was das Schreiben für ihn bedeutet – für ihn persönlich, und die Texte auch für andere.

„Weißt du“, sagte er plötzlich, „du fotografierst mit deinem Fotoapparat, und ich fotografiere mit meinem Notizbuch. Keine vorgefertigten Bilder. Jeder sieht sein Bild, in dem, was ich schreibe. Ich mag nun mal keine vorgekauten Ansichten.“

„Meinst du, meine Kamera kaut die Bilder vor?“, fragte sie.

„Nicht so profan“, sagte er. „Ich schreibe Texte – und jeder produziert daraus eigene Bilder, aus seinem Gemüt, je nach Alter und Gemütszustand – und deshalb immer wieder neu. Du kennst das doch: Kinder mögen die schrecklichen Märchen. Erinnerst du dich an Basti: ‚Ich möchte ein schreckliches Märchen hören.‘ Weil die Kinder mit ihrer Erfahrung und ihrem noch wenig beschädigten Urvertrauen kaum etwas von dem Grauen an sich herangelassen haben, das in der Welt steckt. Deshalb fände ich es auch besser, die Kinder läsen mehr, als dass sie Unmengen an Filmen und Fernsehen konsumieren. Und die Bilder, die sie sich in dieser Stimmung vorstellen, bleiben in ihrer Seele – ist Materie für ihr ganzes Leben. Jetzt, da ich darüber spreche, wird es mir klar, und ich erinnere mich etlicher Bücher, von denen mir nicht ihr Inhalt, sondern nur wenige Wörter und die Stimmung, die das Buch – noch nach Jahrzehnten in mir hinterlassen hat.“

„Mag ja sein“, sagte sie, „aber ich fotografiere – und gut. Und wir gucken uns die Fotos an. - Sobald du aber schreibst, bist du für mich immer so weit fort, wie in einer anderen Welt.“

„Nur in Gedanken“, sagte er. „Ich bin immer bei dir, ganz dicht, ganz nahe und erlebe, was du erlebst, nur vielleicht anders. Nicht so beobachtend auf den günstigen Moment aus, mehr umfassend.“

„Ach, du fantasierst.“

„Nein, einfach mehr umfassend: Landschaft, Menschen, Natur – alles zusammen in einer Stimmung. Das ist es.“

Sie schritten den Weg am Hang entlang, gelangten an einen Skihang mit Liftstation. Der Mann setzte sich auf eine Holzbank neben einem Wegweiser, lauschte, zückte sein Notizbuch, die Frau aber schritt weiter. Als sie fast außer Sichtweite war, folgte er ihr mit gerunzelter Stirn, kehrte aber schließlich zu seiner Stimmung an der Bank zurück. Dort saß er, schaute in die Umgebung, doch die Stimmung war dahin. Der Tag für ihn bedeutungslos, fremd, als wäre er gar nicht anwesend. Er steckte das Notizbuch wieder ein – und ging den Weg zurück – allein – Richtung Bahnstation.

Am Wegrand begegneten ihm zwei Frauen mit Pilzkörben. Sie saßen auf Baumstümpfen, aßen Brot und tranken aus einer Thermosflasche. Er setzte sich in der Nähe auf eine aus Eichen gehauene halbverwetterte Bank. Neben sich auf dem Sitz entdeckte er ein mit Kugelschreiber frischgeschriebenes Zitat: „B. und F. mal wieder hier. 22. August, 15 Uhr 50 – Lieben uns noch immer wie sau. Voll die Schnulze grad, aber trotzdem geil!!!“ Drastisch modern, dachte er, aber liebevoll und wahr. Könnte von uns beiden sein. Und er blieb sitzen um zu warten.

1991

Immer den Fluss entlang

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